Aus dem Flugzeug sieht das da unten aus wie ein großer Daumen im Wasser. Mit der Stadt als Daumennagel. Auf ihm drängeln sich Häuser und Straßen, im Norden und Osten zwei Brücken, die wie Schnüre aussehen, die die Halbinsel mit dem Festland vertäuen. Aber nur bei Sonnenschein, denn San Francisco versinkt oft in zuckerwattigem Nebel. Das war auch der Grund dafür, dass frühe Entdecker wie Francis Drake die Einfahrt zur Bucht nicht fanden und erst 1775 hier jemand an Land ging.
Dann, kurz vor Landung noch mal einatmen und die Erwartungen und Gefühle ordnen. Denn »Frisco«, wie manche sagen, ist zunächst mal eine ferne Erinnerung an Blumen, Peace-Zeichen, bunte Farben, Hippies, den »Summer of love« und Musik. »If you’re going to San Francisco/Be sure to wear some flowers in your hair«, sang Scott McKenzie 1967. Na ja, Blumen im Haar hat heute keiner mehr, aber der Traum von einer besseren Welt, hier hat er mal angefangen. Noch was davon da? Suchen wir mal.
Kaum ist man in die Stadt abgebogen, merkt man: eng hier. Ein irre dichtes und enorm hügeliges Netz von Straßen und Kreuzungen. Schwer, den Überblick zu behalten. Und dann erst die Steigungen und Gefälle: Bei Rot an einer Straße wie der Filbert Street mit 31,5 Prozent Steigung zu halten, das ist für Ungeübte ein Abenteuer, wenn es nach oben geht. Und nach unten: das Steve-McQueen-Gefühl aus dem 1968er-Film »Bullitt«, der die Kreuzungen wie Sprungschanzen nahm. Besser nicht nachmachen, weil Leihwagen. Was man aber bei diesem Rauf und Runter gleich spürt, ist der gewisse Swing, den die Stadt hat – wer so schräg wohnt, muss auch anders leben.
Aber wo nun anfangen? Zum Beispiel am Fisherman’s Wharf, dem alten Hafen. Das ist zwar eine oft überfüllte Touristenmeile mit einem Haufen Restaurants und den berühmten Seelöwen, die hier auf den Klippen dösen, aber für eine halbe Stunde lohnt sich der Ausblick aufs Wasser und den Felsen da draußen: Alcatraz, das einstige Gefängnis für schwere Fälle. Al Capone und andere Mafiabosse saßen hier ein. In den Shops am Fisherman’s Wharf – wir sind in Amerika – gibt es Plastikhandschellen, Babystrampler und Kinderschlafanzüge im Sträflingsdesign. So, erledigt. Auf in die Stadt.
Russian Hill heißt das angrenzende Viertel, und nach wenigen Straßen läuft man durch eine Puppenstube viktorianischer Architektur. Natürlich wieder auf und ab, aber für Fußgänger rollen hier schon die von Stahltrossen zwischen den Schienen gezogenen Cable Cars. Russian Hill gehört zu den besseren Stadtteilen Friscos, und vom Fisherman’s Wharf kommend, hat man schnell das Gefühl, kein Tourist mehr zu sein – aus der Enge wird hier die Nähe: kleine Geschäfte, Nachbarschaftlichkeit, Bars, und wenn man schon hier ist, dann unbedingt eine Pizza bei »Za Pizza« probieren, ein kleiner, rockiger Laden in der Hyde Street. Von da aus gleich weiter zur Lombard Street, einer wieder mal engen, achtkurvigen Serpentinenstraße.

Allmählich fängt man an, den Rhythmus der Stadt zu verstehen, die sich aus ihrer unendlichen Summe aus Atmosphären und Straßen erklärt. Es ist nicht weit nach Chinatown, der größten chinesischen Enklave in den USA. Kaum eingetreten, ist straßenblockweit wirklich alles chinesisch, Geschäfte, Restaurants, alles. Und ebenso schnell wieder vorbei, wie Kulissen, die sich auf einer Bühne abwechseln.
Ein bisschen weiter und man ist in Haight-Ashbury, der Gegend, in der 1967 der »Summer of Love« begann und auf deren Straßen man den mittlerweile ergrauten Wind der Hippiekultur noch spürt. Viele Bars, Läden, Gitarrenshops, freundliche Althippies, alles von einer seltenen amerikanischen Gelassenheit, inklusive des Cannabisduftes, der herumweht. Hier ist die Zeit ein wenig stehen geblieben, und mit einiger Fantasie sieht man Janis Joplin, Jimi Hendrix oder die Grateful Dead vor sich. Das Haus, in dem die Band lebte, steht noch genauso da.
Heute geht aber von hier kein Impuls mehr in die Welt, was auch daran liegen mag, dass es eben nur ein Summer of Love war, der sich dann in irren LSD-Kulten selbst zerlegte, wie man es in T.C. Boyles Buch »Das Licht« nachlesen kann. Beinahe gerührt sieht man auf der Haight Street einem alten, bunt und mit Peace-Zeichen bemalten VW-Bulli nach. Man kann Stadtrundfahrten damit buchen. Eben auch hier: Kulisse.
Knapp 900000 Einwohner hat San Francisco, das ist nicht sehr viel, aber der Raum, auf dem sie leben, ist eben klein. Den größten Zuwachs bekam die Stadt, als im Hinterland Gold gefunden wurde und der Goldrausch San Francisco überrollte; allein 1849 wuchs die Be- völkerung in einem Jahr von 1000 auf 25000. Nur wenige wurden wirklich wohlhabend, die anderen mussten sich durchs Leben schlagen. Mit dieser Kluft aus Reich und Arm lebt die Stadt bis heute. Auf der einen Seite funkelnde Bürotürme, große Villen und teure Jachten im Hafen, auf der anderen Scharen von Obdachlosen, die auf den Gehwegen liegen und betteln. Dieses Nebeneinander macht San Francisco, so seltsam es klingt, unfreiwillig zu einem ehrlichen Ort. Kulissen gibt es hier viele, Illusionen aber keine.
Nun aber zu einer der größten Kulissen, wofür man ein Auto braucht. Am besten fährt man frühmorgens über den Veteran Drive durch den Presidio- Park nach Norden. Und da steht sie dann in ihrem Rot: die Golden Gate Bridge, benannt nach der Einfahrt in die Bucht zur Zeit des Goldrausches. 1937 fertiggestellt, 2,7 Kilometer lang, ein monumentales Bauwerk. An manchen Tagen kann man hier viel über Mikroklimata lernen. Denn wenn in Frisco eben noch die Sonne am blauen Himmel schien, weht hier jener typische kühle Nebel über die Brücke und ist zwei Kilometer weiter in Sausalito auch schon wieder verschwunden.
Die sehr gelassene Kleinstadt am Ufer gegenüber sieht aus wie ein Kurort und fühlt sich auch so an. Für Reisende ein Ort zum Luftholen, für Bewohner zum Geldparken, hier leben Amerikaner mit dem höchsten Einkommen. Wer nicht über die Brücke zurück nach San Francisco will, kann die Fähre nehmen. Aber nur mal so erzählt: Auf so einer Fähre, die gerammt wurde, fing Jack Londons Roman »Der Seewolf« an.