Wenn man Geoffrey Pullum auf Schnee-Wörter der Inuit anspricht, platzt ihm fast der Kragen. Seine Wut darüber hat sich der Linguist von der Universität Edinburgh schon 1991 in einem Essay von der Seele geschrieben: "The Great Eskimo Vocabulary Hoax". Was offenbar wenig genützt hat, denn der Mythos von den zahlreichen - aber genau abzählbaren - Wortformen der Inuit, um "Schnee" zu sagen, ist bis heute ungebrochen.
Abgesehen davon, dass es gar nicht "die Sprache" der Inuit gibt: Die Struktur der zahlreichen Idiome der Inuit, Yupik und der Aleuten ist denkbar ungeeignet dafür, überhaupt eine seriöse Zahl von Schnee-Wörtern zu ermitteln. Der Begriff "Wort" lässt sich in diesen Sprachen nämlich kaum fassen: Ganze Sätze werden oft genauso als Wortform ausgedrückt wie Bezeichnungen für Dinge (so, als wäre "es schneit" im Deutschen eine ebenso unauflösliche Wortform wie "Schnee").
Die oft genannten 40 Wörter für Schnee sind Fiktion
Was dazu führt, dass auch relativsatzartige Ausdrücke, wie zum Beispiel "Was immer wieder neu erscheint", als "Wörter" für (frischen) Schnee gebraucht werden können - wodurch deren Anzahl im Prinzip unendlich wird. Ferner gibt es zahlreiche Begriffe, die nur im Kontext als Schnee-Wörter verstanden werden können: wie etwa in einem kanadischen Inuit-Dialekt igluksaq, was im Grunde nur "Hausbaumaterial" bedeutet, konkret aber eine spezielle Form von Schnee ist. Ebenso wie im Alaska Yupik muruaneq, "weicher Tiefschnee", ursprünglich nur "Substanz, in die man gewöhnlich tief einsinkt" bedeutet. Andererseits ist die Anzahl der "echten" Schnee-Begriffe sehr begrenzt. Im Westgrönländischen etwa gibt es lediglich zwei unverwandte Formen: aput- für liegenden, und qanik- für fallenden Schnee. Da besitzt das Deutsche weit mehr Differenzierungen: Harsch, Firn, Graupel, Lawine und so weiter.
Allerdings sind aput- und qanik- nicht Wörter, sondern Wortstämme, die in etwa so verwendet werden wie deutsch wind in "Wind-stärke" oder "es wind-et". Mit anderen Worten: Die Anzahl von Schnee-Bezeichnungen in Inuitsprachen liegt zwischen zwei und unendlich vielen. Wirklich gebräuchlich davon sind rund ein Dutzend - etwa so viele wie im Deutschen oder Englischen auch. Die oft genannten 40 Wörter sind pure Fiktion. Angesichts der tatsächlich sehr geringen Basis-Differenzierung der Schneetypen (aput-, qanik-) fragt sich Geoffrey Pullum sogar, ob der allgegenwärtige Schnee vielleicht nur von Hintergrundinteresse für die Polarbewohner ist. Schließlich unterteilen Europäer auch Gras nicht pedantisch in "Rasengras", "Wiesengras" und so fort. Obwohl sie das könnten.
Und so könnten auch die Inuitvölker 40 Wörter für Schnee gebrauchen - oder 200. Oder zwei. Nachdenklich stimmt derweil Pullums Frage, warum es so unglaublich wichtig erscheint, den Mythos von den vielen Schnee-Wörtern der Inuit am Leben zu erhalten. Kein Mensch fände es spannend, so Pullum, wenn ihm jemand erzählte, dass ein Pferdezüchter besonders viele Begriffe für seine Tiere kennt. Bei den Inuit aber, legendären "Rohfleischfressern", "Oma-an-Eisbären-Verfütterern" und "Frauen-an-Fremde-Verleihern", giere man nach allem, was sie vorgeblich anders macht, als wir es sind.