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Alp Flix: Ein Paradies für Aussteiger

Kühe melken, Käse schöpfen, hoch oben in den Schweizer Bergen: Das Hochplateau Alp Flix im Kanton Graubünden zieht Aussteiger auf Zeit magisch an. Und Wanderer finden ein einsames Paradies vor

Inhaltsverzeichnis

Zusennin auf der Alp Fix

Der Arbeitstag beginnt, kaum dass es hell ist. Noch früher als in Berlin. Da steht Ulrike Langenbach um sechs auf, fährt dann mit der S-Bahn zur Schule, um als Referendarin Mathe und Deutsch zu unterrichten. Hier oben steigt sie jetzt in ihre Gummistiefel, geht zur Bergweide, hinter der die Silhouette des Piz Platta steil in den Morgenhimmel ragt, und treibt die Milchkühe zum Melkstall. Jedes der 32 Tiere findet von alleine seinen Platz, als könnten sie die mit Kreide auf den Holzbalken geschriebenen Namen lesen: Erika, Diana, Gulda. Es duftet nach Holz, Heu und Dung.

Wanderer trifft auf Murmeltier

"Zusennin" Ulrike Langenbach muss nicht mit der Hand melken. Trotz ihrer Abgeschiedenheit haben die Häuser auf der Alp Stromanschluss.
"Zusennin" Ulrike Langenbach muss nicht mit der Hand melken. Trotz ihrer Abgeschiedenheit haben die Häuser auf der Alp Stromanschluss.
© Reiner Klingholz

Am Ende der Saison, wenn die Wiesen abgegrast sind, werden die Kühe nur noch vier Liter Milch am Tag geben. Aber noch sind es zwischen 15 bis 20, denn die Wiesen sind grün und saftig auf der Alp Flix, wo Ulrike Langenbach vier Monate lang als "Zusennin" arbeitet. Flix im Kanton Graubünden ist eine der schönsten Alpenterrassen der Schweiz. Sie liegt in einer Region, in der Wanderer eher auf Murmeltiere mit wirrer Frisur und stolze Adler als auf Rucksackgruppen treffen.

Übernachten in Hütten

Tagelang lässt sich das Gebiet erkunden, mit Übernachtung in den Hütten des Schweizerischen Alpenclubs. Die Wege führen über den Julierpass ins Engadin, über den Septimer ins Bergell - Übergänge, die schon die Römer benutzt haben. Wer ganz einsam wandern möchte, packt das Zelt ein und macht sich auf den Weg über den Bregalgapass nach Soglio.

Vereinsamte Region

Die Alp Flix selbst ist 15 Quadratkilometer groß. Nur drei Familien leben das ganze Jahr über auf dem Plateau in 2000 Meter Höhe. Einst waren es weitaus mehr. Vor rund 600 Jahren kamen Walser aus dem Hochtal Avers in das damals dicht bewaldete Gebiet. Die Hirten und Bauern rodeten die Bäume mit Axt und Feuer und legten Wiesen an - Ackerbau ist in der Höhenlage nicht zu betreiben. Mit dem Heu von den Weiden brachten sie ihre Tiere über den Winter.

Durch Rodungen und Viehwirtschaft entstand in Jahrhunderten eine Mischung aus Kulturland und Wildnis
Durch Rodungen und Viehwirtschaft entstand in Jahrhunderten eine Mischung aus Kulturland und Wildnis
© Reiner Klingholz

Große Artenvielfalt

Auf dem Hochplateau liegen mehrere Gehöfte dicht beeinander
Auf dem Hochplateau liegen mehrere Gehöfte dicht beeinander
© Reiner Klingholz

Im Laufe der Zeit entstand auf der Alp Flix eine Kulturlandschaft, die sich je nach dem Grad der Nutzung immer wieder veränderte. Heute befinden sich zwischen der Ortschaft Sur auf 1584 Metern und der 3300 Meter hohen Tschima da Flix zahllose Biotope: Bäche, Moore, Seen, Wald, Wiese. Auf kleinem Raum wechseln sich bewirtschaftete Flächen und Wildnis ab. Dadurch hat sich das Hochplateau zu einem der artenreichsten Gebiete des gesamten Alpenbogens entwickelt. In diesem Paradies für Naturfreunde haben Botaniker einmal an einem Tag mehr als 500 Blütenpflanzen nachgewiesen: von der wollköpfigen Kratzdistel über die weißfilzige Alpenscharte bis zu dem blauen, dem gelben, dem stängellosen Enzian.

Stattliche Kühe

Für Ulrike Langenbachs Kühe sind die Blumenmatten nichts als Grünfutter, das in aller Ruhe zerrupft und zerkaut werden darf. Mitte Juni sind die Tiere aus den Orten des Oberhalbsteins hochgekommen in ihr Sommerlager. Keine schwarz-weißen Kraftfutter fressenden Hochleistungsmonster, keine Euter auf Beinen, sondern stattliche Kühe mit imposant geformten Hörnern. Ihre Milch ist von bester Qualität. Was man am Käse schmeckt. Denn Milch auf der Alp heißt: Käse machen.

Ein Leben für die Alp

Eine Schweizer Rohmilchlieferantin
Eine Schweizer Rohmilchlieferantin
© Reiner Klingholz

Wer das hier oben darf, bestimmt Gabriela Spinas. Als Chefin der Alpkommission kümmert sie sich um die Weidewirtschaft auf der Alp Flix. Stellt Käser und Hirten ein - in jüngster Zeit oft Ausländer, bei den Einheimischen ist die Sennenarbeit nicht beliebt -, zäunt die Weiden, organisiert den Auf- und Abtrieb. "Das ist mein Leben", sagt sie. "Was kann mir die Stadt bieten? Den ganzen Tag im Büro sitzen und am Samstag 'Wetten, dass . . . ?' schauen?"

Genauso sieht es Gabrielas Schwester Victoria, die mit zwei Kindern und einem Zoo von Haustieren auch im langen Winter auf der Alp bleibt - mit dem Pfau Ikarus, der sich stundenlang im Spiegel bewundert, mit den schneeweißen Gänsen Oskar und Jolanda, drei Katzen, sieben Hühnern und dem Hahn Caruso.

Ein Holländer sucht die Unabhängigkeit

Auch Wybren Oek wurde von Gabriela Spinas eingestellt. Oek, ein Blondschopf mit krausem Haar und großen Augen, käst seinen ersten Sommer auf der Alp Flix. Das "Grüezi" kommt dem Holländer ganz selbstverständlich über die Lippen. Seit acht Jahren arbeitet er in der Landwirtschaft. Mal hier, mal dort. Ein Traumjob, sagt er. "Hier bin ich unabhängig. In einem echten Betrieb in Deutschland oder Holland ist so ein Leben doch gar nicht möglich.

Wie ein gallischer Druide rührt Oek in einem riesigen Kupferkessel, unter dem ein Holzfeuer brennt. Sein Werkzeug ist eine Art mit Draht bespannter, viereckiger Tennisschläger, der "Harfe" heißt. Er dient dazu, die eingelabte und geronnene Milch vorsichtig in kleine Klötzchen zu zerschneiden.

Wer nicht über so viel Alperfahrung verfügt wie Wybren Oek, muss vor Saisonbeginn einen Käserkurs besuchen
Wer nicht über so viel Alperfahrung verfügt wie Wybren Oek, muss vor Saisonbeginn einen Käserkurs besuchen
© Reiner Klingholz

Alpkäse ist nicht gleich Bergkäse

Diesen "Käsebruch" fischt Oek anschließend mit einem großen Mulltuch aus dem Kupferkessel und bringt ihn mit einem Holzring in Form. Aus einem Tuch voll "Bruch" wird ein Laib Alpkäse. Mit dieser Bezeichnung darf sich nur Käse schmücken, der wirklich auf der Alp entsteht (keineswegs auf der "Alm", wie die Deutschen sagen würden). Was im Tal produziert wird, heißt seltsamerweise "Bergkäse". Nebenan im kühlen Steinkeller reifen die Laibe, sauber auf Holzbrettern gestapelt, täglich gewendet und mit einer Bürste von allen Seiten "geschmiert". Rund 2000 Kilo Alpkäse kommen über die Saison zusammen.

Eine Erfolgsgeschichte: Cottis Käse

Bis vor 50 Jahren konnten in der Gemeinde Sur noch 30 Familien als Selbstversorger existieren. Als die Landwirtschaft immer weiter mechanisiert wurde, gab einer nach dem anderen auf. Heute leben nur noch drei Bauern allein von der Landwirtschaft: Gabriela Spinas und die Brüder Alfons und Stefan Cotti. Ohne Claudia, Alfons’ Frau, hätten sie das wahrscheinlich nicht geschafft. Als er sie traf, war sie Lehrerin in Zürich. Und hatte eine kluge Idee. Sie schlug ihm vor, Schafskäse zu produzieren - als interessanten Außenseiter im Kuhmilchkäse-Kanton. "Ich habe damals gar nicht gewusst, dass man Schafe melken kann", sagt Alfons.

Neue Bewohner

Die Milchschafe der Cottis. Sie statt der hier heimischen Kühe zu züchten war Claudias Idee
Die Milchschafe der Cottis. Sie statt der hier heimischen Kühe zu züchten war Claudias Idee
© Reiner Klingholz

Tatsächlich hat es in diesem Teil Graubündens noch nie Milchschafe gegeben. Alfons pachtete Land und kaufte Schafe. Claudia übernahm die handwerkliche Seite. Ihr würziger Bio-Käse fand bald so viele Abnehmer, dass sie heute mit einer Helferin sechs Tonnen im Jahr herstellt. Davon können die Cottis mit ihren fünf Kindern gut leben. Im Sommer hilft noch Wassili aus Rumänien beim Melken und verdient im Monat so viel wie in einem ganzen Winter in der rumänischen Schuhfabrik. Alfons kümmert sich inzwischen um die Vermarktung von Fleisch und Käse.

Bergbauern fördern den Tourismus

Der erfolgreiche Betrieb der Cottis ist eine Ausnahme. Fast alle Bergbauern sind auf Agrarsubventionen wie "Direktzahlungen je Vieheinheit" angewiesen, damit sie weitermachen können. Dass sie weitermachen, liegt nicht einmal unbedingt in ihrem eigenen Interesse - sie könnten ihr Geld leichter verdienen. Es ist die Alp Flix, die sie braucht. Denn Bergbauern sind vor allem Landschaftsschützer und Tourismusförderer. Ohne die Alpwirtschaft würde sich die Natur zurückholen, was die Walser ihr einst abgerungen haben.

Die Vielfalt nimmt ab

"Ohne permanente Pflege sieht die Landschaft nach ein paar Jahren verwildert aus", sagt Jürg Paul Müller, Direktor des Bündner Naturmuseums in Chur. "Sie verbuscht und verwaldet. Gerade Touristen gefällt das nicht." Auf kleinen Parzellen an den Steilhängen oberhalb der Alp Flix, an denen einst die "Rucksäcklibure" das Gras mit der Handsichel geschnitten haben, lässt sich dieser Prozess schon beobachten. Diese Entwicklung würde nicht nur Wanderer enttäuschen, von denen es immer mehr auf die Alp Flix zieht. Auch die biologische Vielfalt nähme ab – die vielen Pflanzen- und Tierarten, die zwischen Steinmauern und Weiden im Grenzgebiet zwischen Kultur und Wildnis wachsen und leben, sind den Biotopen zu verdanken, die der Mensch geschaffen hat.

Die Schlucht des Bergbachs Julia liegt so abgeschieden, dass sich kaum ein Tourist dorthin verirrt
Die Schlucht des Bergbachs Julia liegt so abgeschieden, dass sich kaum ein Tourist dorthin verirrt
© Reiner Klingholz

Rettung durch einen Naturpark

Damit sich in diesem Gebiet Tourismus und Naturschutz gemeinsam weiterentwickeln können, ist die Einrichtung des "Parc Ela" geplant, der mit 600 Quadratkilometern der größte Naturpark der Schweiz wäre. Er würde neben der Alp Flix mit ihren halben Dutzend Bergseen ein gewaltiges Revier umfassen. Vom Gletschergebiet des Piz Kesch im Osten bis zur Alp Stierva im Westen und dem Lunghinpass im Süden, einer jener seltenen Wasserscheiden, die gleich drei Flüsse speisen. Je nachdem, wie der Wind steht, endet ein Regentropfen, der auf dem Pass landet, in der Nordsee, dem Schwarzen Meer oder dem Mittelmeer.

Auch die Einsiedler freut´s

Auf der Suche nach wahrer Ruhe ist Roland Ott immer weiter in die Berge geflüchtet. Seine Herde treibt der Hirte bis auf 2400 Meter, wo er die Nächte in einer Holzhütte verbringt
Auf der Suche nach wahrer Ruhe ist Roland Ott immer weiter in die Berge geflüchtet. Seine Herde treibt der Hirte bis auf 2400 Meter, wo er die Nächte in einer Holzhütte verbringt
© Reiner Klingholz

Im Kern des "Parc Ela" würde sich eine 250 Quadratkilometer große Wildnis ausdehnen, in der es kaum Infrastruktur gibt. Ein gigantisches Reich der Abgeschiedenheit. Faszinierend für Touristen. Und für Menschen wie Roland, den Hirten. Früher hat der Senn, der seine langen Haare mit einem Stirnband zusammenhält, auf der Alp Flix gearbeitet. Aber dann wurde ihm selbst dieses Leben zu hektisch. "Ich war zu wenig in der Natur", sagt er. Deshalb hat er sich im letzten Sommer oft tagelang mit seinem Hund in eine winzige Hütte in 2400 Meter Höhe zurückgezogen. Dort ist er glücklich. Seine Schafe können in Ruhe fressen, während er in seiner "Slow Food"-Bibliothek liest.

Mit dem Herbst kommt die Einsamkeit

Es ist Mitte September. Der Himmel drückt schwer und grau auf die Berge. Der Wind dreht auf Nord und kündigt den ersten Schnee an. Zeit, die Kühe und die Jungrinder von der Alp zu treiben. Alle helfen. Der Senn Oek, die Zusennin Ulrike Langenbach, der Hirte Roland und natürlich Gabriela und Victoria, die Schwestern von der Alp Flix. "Das ist immer eine traurige Zeit, wenn uns alle verlassen", sagt Gabriela. Der Winter ist lang. "Oft liegt hier oben sechs Monate lang Schnee. Die ganze Zeit sehnt man sich nach dem Frühling." Nur die Jüngsten können die ersten Flocken nicht erwarten. Welches Kind hat schon das Privileg, in fünfminütiger Schlittenfahrt zu einer 400 Meter tiefer gelegenen Schule zu rasen?

Ein Murmeltier auf Entdeckungstour
Ein Murmeltier auf Entdeckungstour
© Reiner Klingholz
GEO Nr. 05/97

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