Aus der Vogelperspektive gleicht das "carusel" einer angeschnittenen Torte: ein runder Bau mit einem "Ausschnitt" für die Terrasse, zehn Schritte vom Wasser entfernt. Wer hier den typisch finnischen Filterkaffee schlürft, blickt über den Terrassenrand hinweg auf die sanft plätschernde Ostsee, die Schären vor der Küste und einige der 327 Inseln Helsinkis. Es ist Kult, das "Café Carusel", und wenn Ari Sarmanto so weitermacht, könnte es in Finnlands Hauptstadt auch zum Klimakult werden.
Ari Sarmanto, der Betreiber, setzt auf Mülltrennung (die in Finnland noch nicht lange Standard ist), pflanzt Küchenkräuter im eigenen Beet an, und statt Wasser rauscht ein kompostierbares Mittel durch die Pissoirs des Cafés. Vor allem aber hat Sarmanto zwei anderthalb Meter hohe Windräder und 130 Solarpaneele auf das Dach montiert: Zusammen fahren sie 20 Prozent seines Energiebedarfs ein. "In Finnland sind wir mit Umweltthemen Spätzünder", sagt Sarmanto. Für eine mit Meerwasser betriebene Heizung geriet er noch in einen Papierkrieg mit den Behörden, weil er zunächst keine Lizenz zum Graben bekam. Mittlerweile subventioniert der finnische Staat die Anlage.

Das Thema Energie ist im Norden ein großes. Vor allem wegen der kalten Winter. Und weil Finnland einen Plan hat: Bis 2035 will das Land CO2-neutral sein, Helsinki sogar schon fünf Jahre früher. Zufall, dass mancherorts die Rolltreppen zur U-Bahn visionär mit grünem Neonlicht bespielt werden?
Helsinki besteht zu einem Drittel aus Wäldern und Parks, nachhaltige Vorzeigeprojekte gibt es längst: E-Busse etwa, die mit Strom betankt werden, der zu zwei Dritteln aus erneuerbaren Energien stammt, oder eine unterirdische Müllabfuhr. Die Website "Sustainable Helsinki" listet zudem grüne Restaurants, Unterkünfte, Ausflugsziele und Museen, die für den Einsatz alternativer Energien, für Stromsparpläne, Mülltrennung, das Spenden von überschüssigen Lebensmitteln oder das Servieren veganer Gerichte Punkte bekommen. Maximal erreicht werden können 25, Spitzenreiter wie das "Carusel" liegen momentan bei 18 Punkten. Alle Angaben beruhen finnlandtypisch auf Vertrauen. Tagelang kann man mit diesem Wegweiser durch die Stadt ziehen und Neues entdecken. Am besten mit dem Fahrrad.
Das Auto ist auch in Finnland heilig – Helsinki setzt also auf Anreize, Alternativen zu nutzen
Tatsächlich gibt es mehr als tausend Kilometer Radwege: Allein das neue Netz an "Baanas", Fahrrad-Highways quer durch die Stadt, soll bald 130 Kilometer messen. Außerdem gibt es einen Küstenrundweg, den auch die Einheimischen gern beradeln, vorbei an Stränden und der Teppich-Waschstelle nahe des "Carusel", wo man immer jemanden trifft, der gerade seine Flickenteppiche bürstet oder klopft. Nicht zuletzt stehen fast 4600 Cityräder an 460 Stationen in Helsinki und der Satellitenstadt Espoo zum Ausleihen bereit, und die Flotte soll weiter aufgestockt werden, sagt Kaisa-Reeta Koskinen: "Nirgendwo anders auf der Welt werden sie so gut genutzt wie in Helsinki."
Koskinen, 48, ist als Leiterin der Klima-Abteilung so etwas wie die CO2-Beauftragte der Stadt. Ihr Arbeitsplatz ist das Rathaus, ein klassizistischer, pastellfarbener Bau direkt am Hafen, und das 1930er-Jahre-Interieur schon ein Museum für sich: Kugellampen, Messingaufzüge, eine Insel mit geschwungenen Sitzgelegenheiten.
Hier denkt die Ingenieurin über die Themen nach, die die Stadt voranbringen – Mobilität zum Beispiel. "Immerhin kommt ein Viertel des CO2-Ausstoßes aus dem Verkehr", sagt Koskinen. Zwar sei das Auto auch in Finnland heilig, und ein Fahrverbot, eine autofreie Innenstadt wie etwa in Paris, kann Koskinen sich nicht vorstellen. Aber sie will Anreize schaffen, damit die Leute weniger fahren. "Bisher haben wir unsere Städte für Autos geplant, viel zu viel Fläche geht dafür drauf. Das muss sich ändern." Eine Maut sei eine Idee, wichtiger aber der Ausbau des öffentlichen Verkehrs. "Der Mensch ist wie Wasser, er wählt immer den leichtesten Weg."

Ein perfektes Hilfsmittel für leichte Wege ist die Whim-App: Sie kombiniert für die gewünschte Route alle möglichen Transportmittel – Bus, Bahn, Rad, Taxi und Fußwege. Dafür hat die Stadt Verträge mit verschiedenen Verkehrsbetreibern geschlossen. Passagiere zahlen per Strecke oder kaufen sich ein Monatsabo. Für 65 Euro gibt es eine Flatrate für alle öffentlichen Verkehrsmittel und City-Bikes, plus zehn Euro für Taxifahrten.
So lässt sich auch eine Shopping-Tour in Helsinki umweltschonend planen. Erst recht, wenn sich Einkaufsfreudige in den vielen Secondhand-Shops der Stadt umsehen. Oder bei "Stockmann", einem Traditionskaufhaus der Luxusklasse im Zentrum, in dessen drittem Stock der Laden "Relove" gebrauchte Waren und im angeschlossenen Café lokale Bio-Produkte bietet.
Die Bibliothek aus Fichtenholz ist das kollektive Wohnzimmer Helsinkis
Nicht weit von "Stockmann" kann man aufs Kaufen ganz verzichten: im "Oodi" nämlich, Helsinkis Bibliothek, dem 10 000 Quadratmeter großen Wohnzimmer der Stadt gegenüber vom Parlamentsgebäude. Wie ein Boot ragt der hölzerne Rumpf mit luftigem Aufsatz in die Höhe. Getragen wird er von einer mächtigen Stahlkonstruktion. Säulen gibt es keine, alles scheint zu schweben. Die Hauptfassade besteht komplett aus finnischer Fichte, der Energieverbrauch entspricht dem eines Fast-Null-Energiegebäudes. Durch die riesigen Fensterflächen flutet Tageslicht den öffentlichen Bereich. Das sieht nicht nur toll aus, sondern spart sommers auch Kunstlicht.
Die Bibliothek ist offen für alle – und so viel mehr als eine Bibliothek: Ausleihen kann man Diverses, von Schneeschuhen bis hin zum Ruderboot; nur das oberste Stockwerk gehört den Büchern. Unter der wolkenförmigen Decke genießen Literaturhungrige frisch gebackene, karelische Piroggen und Lektüre jeder Art. In der ersten Etage hingegen gibt es verschiedene Bereiche, die jeder und jede nutzen kann: Tonstudios mit Musikinstrumenten, Videoprojektionsräume, Computer, 3-D-Drucker …

An einer der Nähmaschinen im Saal sitzt Ida Huotari, 21, und näht ein Top aus einem ausgedienten Kissenbezug vom Flohmarkt. Auch aus Geldgründen, das schon, aber vor allem aus ökologischer Motivation. "Ich habe meinen Kleiderschrank ausgemistet", erzählt die junge Frau. "Eigentlich besitze ich nur noch kombinierbare Secondhand-Basics." Und auch beim Essen achtet die Veganerin auf Nachhaltigkeit, nutzt unter anderem die von Finnen entwickelte ResQ-App, um die Lebensmittelverschwendung einzudämmen. Supermärkte, Restaurants oder Hotels wie das "St. George" im Zentrum stellen ein, was nicht verkauft wurde oder absehbar nicht verkauft wird. Wer Appetit hat, kann sich etwa in der hauseigenen Bäckerei des Hotels vergünstigt bedienen.
Viele machen inzwischen mit. Dennoch gibt es in den Supermärkten noch immer Regalmeter voller in Plastik verpackter Gerichte. Das Umdenken beim Thema Ernährung passiert nicht von heute auf morgen. Als die Stadt Helsinki kürzlich verkündete, bei Veranstaltungen nur noch vegetarisches Essen zu servieren, gab es einen veritablen Shitstorm. Ähnliches hatte zuvor schon die Uni Helsinki erlebt, als sie Fleisch aus ihren Kantinen bannte. "Das muss man dann aussitzen", sagt Kaisa-Reeta Koskinen, die CO2-Beauftragte.
Das Viertel Kalasatama: ein Showroom für gerechtes und klimaneutrales Wohnen?
Dass nachhaltiger Genuss Möglich ist, beweist das Lokal "Nolla" im alten Arbeiterviertel Punavuori. Seine 18 von 25 Sustainable-Punkte hat es nicht umsonst: "Nolla" heißt Null, gemeint ist "null Müll". Einen Abfalleimer gibt es gar nicht erst. Dafür eine hüfthohe Metallbox in der Ecke des Jugendstil-Raums. Darin werden nicht verwertbare Essensreste wie Eierschalen kompostiert. Für alles andere gibt es irgendeine Idee: Aus Karottenschalen kochen die Betreiber einen Fonds, die Limettenschalen von der Safterei nebenan verfeinern das Marshmallow-Eis. Die kompostierte Erde wiederum bekommt der Bauer, der das Gemüse liefert. Das Geschirr ist Ausschussware einer Töpferei. Alles funktioniert nach dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft.
Es ist geradezu verwunderlich, dass dieses Vorzeige-Lokal nicht drei U-Bahn-Stationen weiter im Viertel Kalasatama eröffnet hat, dem Hafermilch-Hub von Finnland: Nirgendwo anders werde pro Kopf mehr Hafermilch verkauft, lässt die Stadt verlauten.

Vor allem aber ist Kalasatama eine Art Showroom für klimaneutrales und dabei sozial gerechtes Wohnen. Eine Smart City in der City, die derzeit noch einer Baustelle gleicht. Von der begrünten Dachterrasse des Einkaufszentrums "Redi" sieht man all die ans Wasser grenzenden Klinkerbauten und viele Hochhäuser, die Platz und Baugrund sparen. Ungezählte Kräne ragen in den Himmel. Bis Ende 2030 sollen hier 30 000 Menschen leben und 10 000 arbeiten, bisher sind es gut 5000. Schon jetzt verfügt der Stadtteil über eine ziemlich perfekte Infrastruktur mit U-Bahn und E-Bussen. Wer mit dem eigenen E-Auto unterwegs ist, kann es im "Redi"-Parkhaus an der landesgrößten E-Tankstelle mit Strom versorgen.
Viele Smarte Geheimnisse des Viertels aber bleiben auf den ersten Blick unentdeckt. Zum Beispiel, dass nirgendwo in Kalasatama eine Mülltonne überquillt. Dafür ragen aus dem Boden Rohre mit gelben, blauen, grünen Mäulern: Diese Untergrund-Pipelines transportieren den Abfall via Unterdruck in die Müllverbrennungsanlage – mit Tempo 70. Das System namens "Rööri" spart Müllwagen-Verkehr und Lärm. Strom und Wärme kommen zudem aus Solarpaneelen oder Erdwärmepumpen. Und Bewohnerinnen und Bewohner können über ihr Handy den Strom ab- oder die Sauna einschalten. Wie überall in Helsinki stellt die Stadt auch in Kalasatama jedem und jeder, der oder die bauen möchte, eine kostenlose Beratung in Sachen Energieeffizienz.
"Heizen ist nun mal die größte Energieschleuder hier im Norden", sagt die CO2-Expertin Kaisa-Reeta Koskinen. Und auch wenn schon jetzt alle städtischen Gebäude 30 Prozent weniger Energie verbrauchten als gesetzlich vorgeschrieben, "dürfen wir nichts mehr verbrennen", sagt sie. Mit Kohle soll bald Schluss sein. Aber was dann?
Koskinen glaubt, dass eine neue Ära anbrechen wird, getragen von innovativen Ideen. Wie Helsinkis "Hot Heart", der Gewinnerentwurf eines Wettbewerbs für klimaneutrale Wärmeversorgung. Die Idee: Ein System aus zylindrischen Reservoiren, also künstlichen Inseln vor der Küste, soll mithilfe von Meerwasserpumpen elektrische Energie in Wärme umwandeln. Tanks speichern diese Wärme, damit sie winters in die Wärmeverteilungskanäle der Stadt gegeben werden kann. Zudem sollen einige der Inseln – tropisch bepflanzt und mit einer Kuppel bedacht – zur Attraktion für Reisende und Einheimische werden. Und bestimmt gäbe es dann bald auf mindestens einer auch eine Sauna. Die ist den Finnen schließlich noch heiliger als das Auto.
Tipps für Helsinki
CHECK-IN
- Anreise Finnair fliegt aus vielen deutschen Städten direkt nach Helsinki, finnair.com; Kompensation über atmosfair.de, für Flüge ab Berlin 8 €. Nachhaltiger ist die Fährfahrt ab Travemünde (ab 500 € für 2–4 Personen, PKW, Innenkabine): finnlines.com/de
- Unbedingt Sommers am Hafen Erbsenschoten vom Markt knacken. Dazu eine Kugel Salmiakeis!
- Auf keinen Fall … Kaffeespezialitäten in jedem Café erwarten. Die gibt’s oft nur in Cafés mit Rösterei, etwa im "La Torrefazione" (latorre.fi) oder "Andante" (andantehelsinki.com). Ansonsten schwappt finntypisch Filterkaffee in der Tasse.
CHECK-OUT
- Websites Dies ist Helsinkis Liste der Nachhaltigkeit: myhelsinki.fi/en/think-sustainably.
- Noch mehr Tipps unter new.visitfinland.com/de/praktische-tipps/nachhaltig-reisen
SCHLAFEN
- Majamaja: Das autarke, nachhaltige Tiny House mit Solarzellen auf dem Dach liegt in den Schären, zehn Bootsminuten vom Zentrum Helsinkis entfernt. majamaja.com, ab ca. 230 €
- Lapland Hotels Bulevardi: Zentrales Hotel mit schlichtem Luxus, das auf grüne Energie setzt. Einige Zimmer punkten mit eigener Sauna. Das Frühstück bietet manche Überraschung, etwa pulverisierte Tannennadeln. laplandhotels.com, DZ/F ab ca. 230 €
- St. George
Dieses Fünf-Sterne-Hotel leistet Großes und Kleines für die Umwelt: Im Spa warten waschbare Latschen auf wellnessbereite Füße; die eigene Bäckerei nutzt die ResQ-App, damit am Ende des Tages kein Essen in der Tonne landet. stgeorgehelsinki.com, DZ ab 200 - Helka: Stilvolles Kunst- und Boutiquehotel mit Möbelstücken des "Nationaldesigners" Alvar Aalto, das sich für Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit engagiert. hotelhelka.com, DZ/F ab 133 €
ESSEN UND TRINKEN
- Grön: Auf den Tisch kommt, was die Natur zu bieten hat. Die Zutaten sind saisonal und regional, die Gerichte Michelin-besternt. restaurantgron.com (17/25 Nachhaltigkeitspunkte)
- Way Bakery: Im ehemaligen Arbeiterviertel Kallio gibt es zig Spezialläden, Kneipen und Bars, darunter dieses empfehlenswerte Lokal mit eigener Bäckerei. waybakery.fi (14/25 Nachhaltigkeitspunkte)
- Sushibar + Wine Korjaamo: Finnisches Design + edle Weine + Sushi = Genuss pur. Das Lokal befindet sich in einem alten Fabrikgebäude; oft wird auch Kunst der "Korjaamo-Galleria" im Restaurant gezeigt. sushibarwine.com/helsinki (14/25 Nachhaltigkeitspunkte)
ERLEBEN:
- Temppeliaukio-Kirche: Helsinkis ungewöhnlichste Kirche wurde in einen Granitfelsen aus der Eiszeit platziert. Die Konzerte darin: ein Klangerlebnis! temppeliaukionkirkko.fi
- Nuuksio-Nationalpark: Dieser Nationalpark ist besonders stadtnah – mit Seen, Wäldern, schroffen Felsen. Dennoch barrierefrei zugänglich. nationalparks.fi/nuuksionp
- Korkeasaari-Zoo: Der Zoo ist einer der ältesten der Welt und liegt auf der gleichnamigen Insel vor der Stadt. Hier geborene Wisente und Luchse streifen mittlerweile durch Russland und Polen. korkeasaari.fi
- Festung Suomenlinna: Das UNESCO-Weltkulturerbe mit Parks, Restaurants, Natur befindet sich auf einer der Inseln vor Helsinki und erzählt die lange Geschichte der Besetzungskriege. www.suomenlinna.fi/de