Bothy-Abenteuer Eine Woche Schottland: In sieben Hütten durchs Hochland

von Alastair Humphreys
Bothy-Abenteuer: Eine Woche Schottland: In sieben Hütten durchs Hochland
© mauritius images / EyeEm / Dan Mirica
Sie sind alt, windschief und dürftig ausgestattet. Aber nirgendwo fühlt sich Einsamkeit so großartig an wie in einer "Bothy" im schottischen Hochland. Autor Alastair Humphreys hat sich eine Woche lang in sieben Hütten davon überzeugt

Jedes Mal, wenn ich in der Stadt festsitze und den Terminen und Träumen anderer hinterherjage, wünsche ich mir, ich könnte irgendwohin flüchten. Wenn ich auf meine Computertastatur hämmere, nur noch wegen des Geldes arbeite, wandern meine Gedanken an einen Ort, an dem ich mich wirklich wohlfühle. Mal angenommen, sage ich zu mir selbst, ich würde heute Abend in einen Nachtzug steigen, ich würde in London einschlafen und in der Stille der Berge aufwachen. Mal angenommen, ich würde das wirklich tun. So sagte ich es mir. Und dann tat ich es.

Ich bestieg den Zug mit derselben Aufregung, die ich als Kind verspürte, wenn ich ein Ferienhaus zum ersten Mal betrat. Über Nacht ins schottische Hochland zu fahren, hat etwas Magisches. Ich bezog die obere Koje in meinem Abteil, hievte meine Taschen auf die Matratze. Dann huschte ich den schmalen Korridor entlang bis zum Speisewagen. Ich nahm Platz und bestellte mir gleich zwei Biere – die einzige mir bekannte erwachsene Art, Glücksgefühle zu zeigen.

Autor und Mikroabenteurer Alastair Humphreys ist eine Woche mit seinem Mountainbike in Schottland unterwegs - übernachtet wird in sieben typischen Bothies
Autor und Mikroabenteurer Alastair Humphreys ist eine Woche mit seinem Mountainbike in Schottland unterwegs - übernachtet wird in sieben typischen Bothies
© Alastair Humphreys

Die Nacht legte sich über London, während ich an meinen Bieren nippte und zu den Lichtern der Hochhäuser hinaufschaute. Im Schneckentempo und laut ächzend kroch der Zug aus der Stadt hinaus. Das gefällt mir; aus Zügen heraus bekommt man Einblicke in sehr viele Leben, während man durch Städte und Dörfer fährt. In dieser Nacht aber wanderte mein Blick höher, über die Dächer und Schornsteine hinweg bis in den Himmel. Ich dachte an die Welt jenseits der Stadt.

Eine Bothy irgendwo im Nirgendwo - und was sie ausmacht

Das Schlafen im Zug erinnert mich immer an eine Nacht auf See: Schaukelnd wurde ich durch die Dunkelheit getragen. Am Morgen setzte ich mich auf und streckte die Hand aus, um die Jalousie hochzuschieben. Obwohl ich schon wusste, was ich sehen würde, lächelte ich erwartungsvoll. Die Cairngorms – sonnenverwöhnte, braune Hänge und flache, schneebedeckte Gipfel. Hallo, Berge! Ich fuhr nach Schottland, um eine Woche lang nur die drei Dinge zu tun, die ich am meisten liebe: Mountainbike fahren, fotografieren und in Bothies übernachten.

Eine Bothy ist eine einfache Hütte irgendwo im Nirgendwo. Gemacht für alle, die urtümliche und einsame Orte mögen, Social Distancing de luxe ohne Luxus. Über 80 davon sind über das schottische Festland und seine Inseln verstreut. Sie sind unverschlossen, kostenlos und entsprechend bescheiden. Aber wenn einem der Wind in den Ohren heult, man sich mit dem Mountainbike durch das Hochland kämpft und denkt, all das Elend der Welt brause auf einen nieder, bedeutet eine Bothy größtes Glück.

Hoher Besuch: Der Berghütte "Shenavall Bothy" stattete vor Alastair Humphreys schon Prinz Charles einen Besuch ab. So viel Prominenz scheint selbst den Hochlandrindern den Kopf zu verdrehen 
Hoher Besuch: Der Berghütte "Shenavall Bothy" stattete vor Alastair Humphreys schon Prinz Charles einen Besuch ab. So viel Prominenz scheint selbst den Hochlandrindern den Kopf zu verdrehen 
© Alastair Humphreys

Wer die Nacht in einer Bothy verbringen will, muss wissen, dass sie einem einiges abverlangt: eigene Vorräte mitbringen, Brennholz sammeln, kaltes Wasser aus einem Bach schöpfen, vielleicht die klapprige Tür gegen einen Sturm mit Felsbrocken abstützen. Jedes Einrichtungsstück der Hütte ist luxuriöser Bonus. Womöglich gibt es eine Schnur, an der man Socken zum Trocknen aufhängt. Einen Kerzenstummel in einer alten Whiskyflasche. Oder einen kleinen Stapel gehacktes Brennholz, netterweise zurückgelassen von jemandem, der vorher diese Bothy besucht hat.

Der Weg ist das Ziel

Mein Plan war, jede Nacht in einer anderen Hütte zu schlafen. Ich würde mit dem Mountainbike zu ihnen radeln und meinen Radius mit einem Mietwagen erweitern, sodass ich praktisch ganz Schottland in einer Woche erkunden könnte. Um die ganze Strecke mit dem Fahrrad zurückzulegen, fehlte mir die Zeit.

Im Laufe der Jahre habe ich in vielen Bothies übernachtet. Ich las über sie in Büchern und Blogs. Und ich habe Freunde, die das schottische Hochland viel besser kennen als ich. Ich hatte eine Wunschliste mit Hütten zusammengestellt, die ich in dieser Woche unbedingt besuchen wollte. Die besten Bothies sind die, die kaum zu finden und schwer zugänglich sind. Es ist der Weg dorthin, der zählt.

Der Suilven gilt als einer der schönsten Berge Schottlands. Ich strampelte wie verrückt und grinste, als er vor mir auftauchte, mit seiner Haiflossenform, die ihn viel höher aussehen lässt, als er tatsächlich ist. Eigentlich ist der Suilven kein richtiger Berg, die Besuchermassen wandern deshalb woandershin. Der Bezirk Assynt, in dem er aufragt, ist so unberührt und schön, dass ich kaum glauben konnte, mich immer noch in Großbritannien zu befinden, nur eine Zugfahrt von London entfernt, und nicht zufällig nach Patagonien teleportiert worden zu sein. Großartig.

Oft bieten nur Flüsse und Meer fließend Wasser zum Baden oder für den "breakfast tea“
Oft bieten nur Flüsse und Meer fließend Wasser zum Baden oder für den "breakfast tea“
© Alexander Turner

Als ich bei Sonnenschein an der Bothy ankam, war niemand da. Ich füllte am Bach meine Pfanne mit Wasser, kochte etwas zu essen und blickte aus dem Fenster auf die Berge: mein Zuhause für eine Nacht, mit einer besseren Aussicht als in jedem Hotel.

Am nächsten Morgen radelte ich weiter. Das Mountainbiking im bergigen Nordwesten Schottlands war schwieriger, als ich es gewohnt war. Ich hatte das Gefühl, mir ein zweites Frühstück verdient zu haben. Zwischenstopp im legendären Kuchenladen in Lochinver, bevor ich mich weiter durch Heidekraut und Stürme kämpfte. Mein Ziel war eine winzige Bothy auf einer Landzunge, von der aus man Riesenhaie beobachten kann.

Die oft nur mit dem Allernötigsten ausgestatteten Bothies belohnen ihre Gäste oft mit einer unbezahlbarer Aussicht auf die schottischen Highlands oder das Meer
Die oft nur mit dem Allernötigsten ausgestatteten Bothies belohnen ihre Gäste oft mit einer unbezahlbarer Aussicht auf die schottischen Highlands oder das Meer
© Alastair Humphreys

Ich blieb an der Küste und folgte ihr am nächsten Tag weiter, bis ich eine Bothy an einem unberührten Strand fand, versteckt am Fuß eines Berges. Türkisfarbene Wellen schlugen ans Ufer, meine Fußabdrücke waren die einzigen Spuren im Sand. Tags darauf hatten die Wellen sie fortgespült.

Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben, dass das beste Mittel gegen Einsamkeit Alleinsein sei. Meine Woche in den Bothies fühlte sich oft so an, als sei das wahr. Ich denke da an eine einsame Nacht in einer Hütte auf einer Klippe, scheinbar am Ende der Welt, unter mir taumelnde Möwen und milchig weiße Wellen. Jemand hatte einen Gedichtband zurückgelassen, den ich bei Kerzenschein in meinem Schlafsack las. Die Flamme flackerte, als der Sturm die Lücken in den Steinmauern fand. Die Wände waren rau und schief, aber mit Sorgfalt errichtet worden. Ein Holzpfeiler stützte das Dach, und in die Felswand hatte man einen kleinen Ofen eingelassen.

Der Blick aus dieser Bothy direkt auf die Klippen und die gleichmäßigen Bewegungen des Ozeans entschädigen für eine steinige und beschwerliche Anfahrt.
Der Blick aus dieser Bothy direkt auf die Klippen und die gleichmäßigen Bewegungen des Ozeans entschädigen für eine steinige und beschwerliche Anfahrt.
© Alexander Turner

Als ich morgens an meinem Tee nippte, blickte ich aus dem Fenster auf die Klippen und die ewige Bewegung des Ozeans. Ich fühlte mich so ruhig und entspannt wie schon lange nicht mehr. Diese Bothy war von allen am schwersten zu erreichen gewesen und jede Mühe wert.

Manchmal lieber zweisam als einsam

Manchmal aber ist das Zuzweitsein noch schöner als das Alleinsein. An einem anderen Tag war ich auf dem Weg zu einer Bothy, die ich noch nie besucht hatte. Ein Freund, Alex, schrieb mir, dass er zufällig in der Gegend sei und mich gern begleiten würde. Nach der Einsamkeit der vergangenen Tage waren er und sein quirliger Hund eine willkommene Abwechslung.

Wir quatschten während der Fahrt, schnauften gemeinsam bei den steinigen Anstiegen, jauchzten und keuchten während der Abfahrt. Schnell und immer schneller rasten wir hinab ins Tal, zu einem Fluss, der von alten Erlen gesäumt war. Wir erreichten die Bothy in der warmen Nachmittagssonne und hatten Zeit, uns umzuschauen und die Geschichten derer zu lesen, die vor uns diese Hütte besucht hatten.

Wer die Nacht in einer Schutzhütte verbringt, muss hohe Ansprüche zu Hause lassen. Bothies mit Wasseranschluss sind selten
Wer die Nacht in einer Schutzhütte verbringt, muss hohe Ansprüche zu Hause lassen. Bothies mit Wasseranschluss sind selten
© Alastair Humphreys

Jede Bothy hat eines dieser Bothy-Bücher, und ich blättere gern in ihnen und lese von den Erlebnissen anderer Menschen – von unerwarteten Besäufnissen, von tosenden Stürmen und schlechtem Schlaf, von ihren müden Gliedern und glühenden Gesichtern nach einem langen Tag im Hochland.

An diesem Abend schlief Alex draußen. Die Nacht war perfekt dafür, das Wetter mild, und die Sterne leuchteten in jenem Glanz, der mich immer fasziniert, wenn ich der Stadt entflohen und irgendwo in der Natur bin, wo man scheinbar auf das ganze Universum blickt. Nordlichter wirbelten über den Gipfeln. Aber ich wollte das Beste aus jeder Bothy-Nacht machen. So lag ich drinnen vor dem Feuer, dessen rote Glut pulsierte, als ich einschlief.

Es gibt wenige Länder, in denen so viele Steinkreise stehen, wie in Schottland. Die Frage nach der Bedeutung der gewaltigen Monolithen ist dabei nicht abschließend geklärt
Es gibt wenige Länder, in denen so viele Steinkreise stehen, wie in Schottland. Die Frage nach der Bedeutung der gewaltigen Monolithen ist dabei nicht abschließend geklärt
© Alastair Humphreys

Morgens stand ich früh auf, setzte mich auf einen kühlen Felsen neben einen Bach und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen die Berge im Westen in Farbe tauchten. Wenn ich nur jedes Jahr einen Tag wie diesen hätte, wäre alles gut. Ich hoffe, dass ich mein Leben lang immer wieder solche Touren unternehmen werde. Ich muss nicht bis ans Ende der Welt fahren. Ich muss auch nicht monatelang unterwegs sein. Etwas so Kleines wie eine Bothy reicht mir vollkommen aus. Dort kann ich mein Leben neu vermessen und ausbalancieren, ich kann dort zurückdenken und nach vorn schauen, entspannen und träumen. Was immer im Leben noch auf mich wartet, ich weiß: Die Berge werden immer da sein. Und die Bothies hoffentlich auch.

Hier geht's zu den Bothies

1. Mitnehmen

Bothy bedeutet so viel wie "kleine Hütte“. Für die Nacht in einer solchen braucht es alles, was auch beim Zelten dabei sein muss: Isomatte, Schlafsack, Verpflegung, Wasser und vor allem niedrige Erwartungen an den Komfort. Toiletten, teilweise sogar Betten sind Luxus. In vielen Bothies haben Handys keinen Empfang. Deshalb an ein Erste-Hilfe-Set denken.


2. Touren planen

Offizielle Bothy-Touren gibt es nicht. Orientierung bei der Tourenplanung bietet die Onlinekarte der "Mountain Bothies Association“, die Informationen zu allen Hütten bereithält, darunter auch, wann eine Bothy geschlossen ist. Zusätzliche Wegführung bietet Geoff Allans "The Scottish Bothy Bible“ (Wild Things Publishing, 19,89 €) mit Routenvorschlägen und Bildern, Infos zu Erreichbarkeit und Ausstattung. Außerdem einplanen: Bothies sind oft nur zu Fuß und per Fahrrad erreichbar. Bikes verleiht etwa biketrax.co.uk in Edinburgh.


3. Mithelfen

Die "Mountain Bothies Association“ verwaltet über 100 Hütten, 86 davon in Schottland. Übernachten darf jeder, und zwar kostenlos. Damit die Bothy-Kultur fortbestehen kann, ist Rücksichtnahme oberstes Gebot: Wer eine Bothy besucht, nimmt andere Unterschlupfsuchende auf, hinterlässt keinen Müll, sondern Brennholz für die Nachfolger. Freiwillige Helfer, die beim Dachdecken, Betongießen und Reparieren der Hütten anpacken wollen, können sich, je nach Pandemielage, über die Website der MBA zu sogenannten "Work Parties“ anmelden.

Erschienen in GEO Saison 06/2021

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