"Er begann mich auszupeitschen"
"Holt Leocadio!"rufen die Kinder; "LE-OCA-DI-O!", schreien sie, denn der alte Mann ist schwerhörig. Eine Frau führt ihn aus dem Garten in die Hütte. "Pass auf, Leocadio!", kreischen die Kinder, zu spät, mit einem ungeschickten Schritt ist Leocadio Romero auf ein Küken getreten, das auf dem Lehmboden nach Körnern pickte. Zweimal noch zuckt das Tier, dann wird es fortgetragen; Leocadio hat nichts bemerkt. Er lässt sich auf einen Stuhl sinken. "Zeig deine Hände!", rufen die Kinder, und fahren, als der Greis die Hemdsärmel zurückschiebt, mit ihren frischen, weichen Fingern über die kreisrunden Narben, die sich wie Gummibänder um die alten Handgelenke ziehen. "Erzähl die Geschichte!", schreien sie ihm ins Ohr. Und Leocadio erzählt.
"Er begann mich auszupeitschen"
"Ich holte Mais für die Schweine", beginnt er stockend. Er spricht kaum Spanisch, fast nur Guaraní, die Sprache der Ureinwohner. "Ich holte Mais, und meinem patrón ging das nicht schnell genug. Er schlug mich, und ich wurde so wütend, dass ich zurückschlug. Er stieß mir den Lauf seines Gewehres in den Bauch, legte mir Ketten an und schleifte mich zur Hacienda. In der Hacienda kettete er mich an einen Stuhl und begann, mich auszupeitschen", fährt Leocadio Romero fort. "Als er mich freiließ, floss Blut aus meinen Handgelenken." Die Ketten hatten sie roh gescheuert. "Seither kann ich keine Machete mehr halten." Er blickt auf seine nutzlose rechte Hand, auf die verkrümmten Finger. Die Menschen in der Hütte sind still geworden. Das ist seine Geschichte, aber auch ihre Geschichte. "Ich floh mit meiner Frau noch in der gleichen Nacht. Wir versteckten uns im Dorf. Als der patrón uns fand, schrie er, ich müsse zu ihm zurück. Er sagte, ich schulde ihm Geld. Geld für mindestens vier Ochsen. Aber ich ging nicht mehr zurück." Seine Flucht liegt gut 40 Jahre zurück. Hat er nie Anklage erhoben gegen den patrón? Leocadio Romero blickt verständnislos. Anklage? Gegen einen patrón? Hier, in Huacareta?
San Pablo de Huacareta liegt im Südosten Boliviens, auf rund 1300 Meter Meereshöhe am Rand der "Cordillera Central", einem Gebirge zwischen den Hochplateaus der Anden und dem Tiefland. So unzugänglich ist die Gegend, dass sie jahrhundertelang den Ureinwohnern vom Volk der Guaraní als Festung diente: anfangs gegen das Herrschervolk der Inka, dann gegen die Spanier und gegen die Soldaten der Republik Bolivien. Erst vor 115 Jahren wurden sie unterworfen. Noch heute muss, wer nach Huacareta will, weite Strecken ungeteerter Straßen bewältigen, Bachfurten überwinden und Bergstraßen, die in tiefe Steilhänge gesprengt wurden. So fern der Welt ist das Bauerndorf Huacareta, dass sich hier ein System der Unterdrückung erhalten hat, das in Europa seit Jahrhunderten abgeschafft ist: Lohnknechtschaft, die Tausende Guaraní zu Leibeigenen der Großgrundbesitzer macht.
Die Knechte wagen den Aufstand
Nun aber ist Unruhe eingekehrt in Huacareta. Seit nunmehr fast zwei Jahren regiert, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Bolivien, ein Ureinwohner das Land. Präsident Evo Morales hat angekündigt, 20 Millionen Hektar Land bis zum Jahr 2011 an Landlose zu verteilen - bevorzugt an Angehörige indigener Völker. In Huacareta, wo die Weißen und Mestizen stets den Bürgermeister und den Richter stellen, ist nun sogar ein Guaraní in den Gemeinderat gewählt worden. Der sagt: "Solange die patrónes hier sind, wird es meinen Brüdern und Schwestern auf den Haciendas niemals besser gehen." Könnte es wirklich sein, dass die peones den Aufstand wagen? Peones nennen die Herren der Haciendas ihre Knechte, doch so heißen im Spanischen auch die Bauern im Schachspiel. Und wie im Schach geht es auch im Kampf um la tierra um viel mehr als nur um Landgewinne: auch um die Vernichtung des Gegners. La tierra bedeutet, in Huacareta wie überall in Lateinamerika, Macht und Reichtum, vor allem aber Status - und Identität. Wer kein Land hat, hat keinen Wert.
Stundenlang wird Mais gepuhlt
Am liebsten sitzt Román Reynaga, 63, der es nicht mag, wenn er "patrón" gerufen wird, auf der Veranda seiner "Casa Alta", dem Herrenhaus seiner Hacienda. Reynagas Landgut thront auf einem Hügel über einem weich geschwungenen Tal, auf dessen Grund der Río Ñacamiri nach Süden fließt. Hinter den Hügeln ragen die Berge der Cordillera auf, 2000 Meter hoch, bis zum Gipfel mit unberührtem Wald bewachsen. Ein Pärchen Tukane fliegt in weitem Bogen durch das Tal und lässt sich auf einem Orangenbaum nieder, in dessen Laubwerk Früchte leuchten. Fährt ein Windhauch in die Bananenstauden, klingt das Aneinanderschlagen der Blätter wie ferner Applaus. Für Stunden ist im Tal nichts anderes zu hören als das Plätschern des Wasserlaufs und die Geräusche des Windes.
Stundenlang wird Mais gepuhlt
Auf dem Hof des Landguts knien eine Guaraní-Frau und ein Mädchen unter einer riesigen Satellitenantenne auf den Steinen. Sie puhlen Futtermais aus einem Berg frisch geernteter Schoten. Stundenlang. "Ich liebe dieses Land", sagt Román Reynaga. Reynaga gleicht einer unwahrscheinlichen Kreuzung aus Bauer und Edelmann; er hat das lockige schwarze Haar, den schmalen Schnurrbart eines altspanischen Adeligen, dazu einen Kugelbauch und die krummen Beine eines Pferdeknechts. Unter seiner breiten Stirn schnelle, misstrauische Augen. "Ich liebe dieses Land so sehr, dass mich jeder Tag geschmerzt hat, den ich nicht hier war." Er hat in Argentinien studiert. In den Sommerferien fuhr er mit dem Bus aus der Provinzstadt Córdoba zurück nach Bolivien und ritt dann auf einem Esel zwei Tage das Tal herauf zur Hacienda seiner Eltern.
Román Reynagas "Casa Alta" ist der Stolz jener anzusehen, die das Haus erbaut haben. Die Veranda ist mit Backsteinen gepflastert, das Dach ruht auf dorischen Säulen. Die glasierten Dachziegel tragen das Wappen von Reynagas verstorbenem Vater Juan. Die Familie gehört zu jener Handvoll Sippen, die vor langer Zeit das Land der Guaraní in der Region um Huacareta unter sich aufgeteilt haben. "Es sind immer Menschen mit Kultur, die eine Region voranbringen", sagt Don Román; er spricht mit donnerndem Bariton. "Ich habe eine Vision für dieses Land. Wir brauchen Geld von den Hilfsorganisationen. Wir müssen Straßen bauen." Von den Guaraní sei nicht viel zu erwarten. Schlechte Arbeiter seien sie, "morgens um neun kauen sie Koka und mittags um zwei gehen sie nach Hause".
Die Guaraní werden wie Haustiere gehalten
Bei den Guaraní sind die Reynagas seit jeher gefürchtet. "Juan Reynaga, der Vater, war ein schlimmer Mann", sagt Inez Riviera, die in einer Hütte auf der Hacienda Casa Alta geboren wurde und seit ihrem achten Lebensjahr dort arbeitet. Jetzt ist sie "ungefähr 67 Jahre alt", sagt sie, hat lange graue Haare. Sie hat Angst: Auf der Hacienda will sie nicht reden, nur in Sicherheit, im Garten ihrer Tochter in Huacareta. "Juan Reynaga war böse", sagt sie. "Er hat die Menschen getreten, er hat sie eingesperrt. Er hat sie geschlagen, dann hat er Salz in ihre Wunden gerieben." Román Reynaga sei nicht besser, erzählt Federico Gutierrez, 25, ein früherer Stallbursche auf der Hacienda. Vor zehn Jahren ist Gutierrez von der Farm ausgerissen, doch noch immer senkt er den Blick, wenn er von seinem ehemaligen Herrn erzählt: "Wir nannten ihn padrino, unseren Paten. Seine Frau wollte mamita gerufen werden. Er hat immer gesagt: 'Ihr seid wie meine Haustiere!' Und wenn wir nicht parierten, hat er uns mit seinem Gürtel geschlagen."
Wer sich einmischt, lebt gefährlich
Noch vor wenigen Jahren lebten mehr als 30 Familien auf dem Reynaga-Gut, erzählt Gutierrez, in Hütten ohne Wasser, oft auch ohne Wände. Inzwischen aber sind die allermeisten abgewandert. Weshalb ist Inéz Riviera nie geflohen? "Wir haben Schulden. Wir hatten immer Schulden, seit ich denken kann." Zehn Bolivianos am Tag habe Román Reynaga noch bis vor kurzem seinen Arbeitern bezahlt, umgerechnet einen Euro. Frauen bekamen die Hälfte, Kinder nichts. "Wie hätten wir davon unsere Schulden bezahlen sollen?" Wie viele Schulden Inéz Riviera tatsächlich hat, ob sie Reynaga überhaupt etwas schuldet, kann sie schwer ermessen: Sie ist, wie die meisten Guaraní im Tal, nie zur Schule gegangen. "Der patrón wollte nie, dass wir lesen lernen. Oder rechnen." Lebensmittel bekommt sie direkt vom patrón. Román Reynaga vermerkt jeden Sack Reis, jedes Stück Seife im Schuldenbuch. Einmal im Jahr lädt er seine Arbeiter auf einen Viehtransporter, fährt sie zum Karneval in die Stadt und lässt sie essen und trinken, was sie wollen. Am nächsten Tag eröffnet er ihnen, sie hätten einige hundert Bolivianos Schulden mehr. "Also müssen wir weiterarbeiten", sagt Inéz Riviera. "Auch wenn wir nie aus den Schulden herauskommen."
Die Ureinwohner leben in Knechtschaft
Mindestens 3000 Guaraní leben heute noch in und um Huacareta in Schuldknechtschaft, schätzt Miriam Campos, vom Justizministerium betraut mit der Emanzipation der rechtlosen Ureinwohner. Miriam Campos reist seit acht Jahren alle paar Monate aus der Millionenstadt La Paz, dem Sitz der Regierung, ins abgele gene Huacareta. Als sie begann, sich mit den Grundbesitzern anzulegen, wurde ihr damals neunjähriger Sohn in La Paz auf dem Schulweg entführt. "Sie haben ihm gesagt: 'Sag deiner Mama, sie soll sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angehen'", erzählt sie. "Nach ein paar Stunden ließen sie ihn frei." Miriam Campos machte weiter, unter Polizeischutz. Vor wenigen Monaten gestand ihr Sohn, er leide bei jeder ihrer Dienstreisen Angst, sie nie wiederzusehen. Gemeinsam mit dem "Rat der Häuptlinge" der Guaraní hat Miriam Campos in den vergangenen Jahren Hunderte Familien aufgespürt, die in Lohnsklaverei leben. Mehr als tausend Schuldknechten und ihren Angehörigen hat Miriam Campos gemeinsam mit dem Rat der Häuptlinge bereits die Flucht aus der Gefangenschaft ermöglicht. Nun drängt sie die patrónes, den jahrelang vorenthaltenen Lohn nachzuzahlen.
Das Ringen um eine gerechte Landverteilung
Im Ringen um gerechte Landverteilung ist Huacareta für Miriam Campos nur einer von Dutzenden Schauplätzen in Bolivien. Im Mai 2007, als sie die Auszahlung von geschuldetem Lohn nahe Huacareta überwachen will, wird sie von der Justizministerin zurück nach La Paz gerufen. Sie soll als Vermittlerin nach Apolo reisen, zu einer Landbesetzung mitten im Regenwald - an den Ort, aus dem die Ministerin wenige Tage zuvor gerade noch im Helikopter vor wütenden Landbesetzern fliehen konnte. Die Situation in Apolo, zwölf Stunden Autofahrt nördlich von La Paz, ist kritisch. Einige Dutzend Kleinbauern halten Land im "Parque Madidi" besetzt, einem Nationalpark. Sie klagen, die Regierung habe ihnen Land weggenommen, um es im Zuge einer Landreform einem Indianerstamm zu schenken. Diese Indianer nennen sich "Lecos", doch die Bauern - sie sind Aymara-Ureinwohner - behaupten, die Lecos seien Schwindler, hätten sich sogar eigens Federn um den Kopf gebunden, um als separater Indianerstamm anerkannt zu werden und so Land zugeteilt zu bekommen. Bereits vor der Flucht der Justizministerin hatte eine Regierungsdelegation eilends abreisen müssen: Die wütenden Kleinbauern hatten versucht, das Flugzeug der Beamten abzufackeln.
Wer sich in Konflikte einmischt, lebt gefährlich
Als der Präsident schließlich das Militär schickte, nahmen die Bauern den jungen Rekruten die Waffen ab und hielten sie einen Tag lang als Geiseln. Sie verschanzten sich im Ort, blockierten die Landstraßen und empfingen Fremde mit Holzlatten bewaffnet. "Der Konflikt in Apolo bringt das Dilemma der Regierung Morales auf den Punkt", sagt Miguel Urioste, ehemals ein Präsidentschaftskandidat und nun der Direktor der "Fundación Tierra" in La Paz, eines liberalen think tank zu Landrechtsfragen. Auch Urioste musste zeitweise unter Polizeischutz arbeiten; wer sich in die Landkonflikte Boliviens einmischt, lebt gefährlich. "In Apolo prallen zwei Visionen aufeinander, die gemeinsam Evo Morales an die Macht gebracht haben", erklärt Urioste. Die Machtbasis der Regierungspartei MAS ("movimiento al socialismo", Bewegung zum Sozialismus) bestehe zum einen aus Sozialisten, zum anderen aus Vertretern der indigenen Völker. "Für die Sozialisten ist die Erde schlicht Produktionsmittel - den Vertretern der indigenen Völker dagegen gilt sie als spirituelle Basis ihres Lebens." Dass der Streit um la tierra notfalls bis zum Tode ausgetragen wird, überrascht Urioste nicht. "Dieses Land hat eine 400-jährige Geschichte blutiger Aufstände. Und immer ging es um die gerechte Aufteilung des Landes, das Kolonisatoren den Ureinwohnern geraubt hatten."
Noch herrscht Frieden
Schon 1503, kurz nach Kolumbus' Ankunft im heutigen Lateinamerika, erfand die spanische Krone ein System zur Ausbeutung der neuen Ländereien: Bei der "Encomienda" wurden Eroberern große Landflächen treuhänderisch übertragen. Ihren Tribut an die Krone pressten die Gutsherren den dort lebenden Ureinwohnern ab. Mit der Unabhängigkeit Boliviens gingen die Landgüter in den Besitz der Verwalter über - so entstanden die Vorläufer der heutigen Haciendas. Immer wieder rebellierten die Ureinwohner gegen die Landnahme. In Bolivien schienen sie 1953 am Ziel: Eine Reform schaffte die Latifundien im Hochland ab und versorgte Hunderttausende Bauern mit eigenem Boden. Doch die Großgrundbesitzer wichen ins Tiefland aus, rafften nun dort riesige Areale zusammen. Boliviens Militärdiktator Hugo Banzer unterstützte sie, warb zudem 1977 sogar in Südafrika und im heutigen Simbabwe um Investoren, die das Tiefland erschließen sollten: "Unsere Indios sind auch nicht dümmer oder fauler als eure Schwarzen", versicherte der Diktator möglichen Interessenten.
Die Reservate passen in die romantische Vorstellung der Europäer vom Indianer
Im Jahr 1996 gab es die nächste Landreform. Diesmal drängten die indigenen Völker darauf, auch Formen traditioneller Landnutzung zu berücksichtigen. Daraufhin entstanden überall tierras comunitarias de origen, das "Gemeinschaftsland für Ureinwohner". Diese Reservate werden Stämmen zugeteilt, nicht Familien. Sie gehören allen Bewohnern gemeinsam und können nicht verkauft werden. 26 Millionen Hektar, knapp ein Viertel der Fläche Boliviens, wurden so an insgesamt 77.000 Ureinwohner von einigen Dutzend Stämmen verteilt. Nur ein kleiner Teil der Fläche wird bepflanzt; eine Familie bewirtschaftet meist nicht mehr als ein bis zwei Hektar. Die größten Reservate dienen den dort lebenden Stämmen als Jagdreviere. Den europäischen Geberländern, die Boliviens schwache Wirtschaft seit Jahren stützen, leuchtete das Konzept der Reservate so sehr ein, dass sie, so Miguel Urioste, 100 Millionen US-Dollar Entwicklungshilfe für deren Schaffung spendeten. "Die Reservate passen einfach gut in die romantische Vorstellung der Europäer vom Indianer, der im Einklang mit der Natur lebt", spottet Urioste. "Mit der Realität aber hat das nichts zu tun. Natürlich roden auch Indianer Wälder mit Edelhölzern, um sie zu verkaufen. Natürlich beuten auch Indianer die Erde aus, um höhere Erträge zu erzielen." So haben die Reservate das Landrechtsproblem nicht etwa gelöst: Sie haben es verschärft.
Noch herrscht Frieden
Nun ist es ausgerechnet an Evo Morales, dem ersten Präsident Boliviens, der von Ureinwohnern abstammt, die Republik, ein Konstrukt der Kolonisatoren, zusammenzuhalten. Noch gelinge es dem Aymara-Präsidenten, die Interessen der Indigenen und Mestizen, der Sozialisten und Kapitalisten, der Hochland- und Tieflandbewohner in der Balance zu halten, erklärt Miguel Urioste: "Wenn wir Evo Morales nicht hätten, wäre in Bolivien längst ein Bürgerkrieg ausgebrochen." Noch herrscht Frieden, auch in San Pablo de Huacareta: Das ist nicht zuletzt der katholischen Kirche zu verdanken. Nach dem Marsch von 1990, als sich auch die Guaraní in der Region um Huacareta zu formieren begannen, beschlossen die Kirche und einige Hilfsorganisationen, nicht länger auf eine politische Lösung des Problems zu warten. Stattdessen kauften sie den Großgrundbesitzern Land ab, um den Guaraní einen Ort zu geben, wohin sie aus den Haciendas fliehen konnten. Für viele Menschen war dies ein Segen: 2000 Guaraní, die in Lohnknechtschaft gehalten worden waren, kamen frei.
Noch besser aber schnitten die patrónes ab: Sie verdienten mit diesen Verkäufen mehr als 700.000 US-Dollar. 1994 entstand so, in Nachbarschaft der Casa Alta des Román Reynaga, das Dorf Güirasay, die erste "befreite Gemeinde" der Guaraní. Heute wohnen dort 47 Familien, frühere Schuldknechte. Alle besitzen ihr eigenes Haus, haben frisches Trinkwasser und das ganze Jahr genug zu essen. Im Herrenhaus der einstigen Hacienda "Güirasay" lernen nun Teenager aus dem Umland in einem Internat für Oberschüler. In vielen Familien sind diese Kinder die erste Generation, die lesen und schreiben kann. Doch die Gemeinde Güirasay steckt in ihrer Entwicklung fest; den Bau der Grundschule musste eine Hilfsorganisation bezahlen, ebenso die Trinkwasserleitung. Der Hauptgrund dafür: Auch in Güirasay ist das Land unveräußerlicher Besitz der Gemeinschaft, um zu verhindern, dass patrónes die Armut und Unerfahrenheit der Guaraní ausnutzen und Flächen zu einem Spottpreis zurückkaufen. Land aber, das dem Handel entzogen ist, kann nicht als Sicherheit für einen Kredit dienen. Und weil die Guaraní nun zwar frei, aber immer noch arm sind, haben sie kein Geld, Traktoren anzuschaffen.
Die Hoffnung der Guaraní ruht auf Präsident Evo Morales
Die Hoffnung der Guaraní von Huacareta ruht nun auf Präsident Evo Morales. Seit er an der Macht ist, kommen immer häufiger Vertreter der Regierung in ihr gottverlassenes Tal, pflanzen die whipala auf, das bunte Banner der indigenen Völker, und reden von der "nationalen Schande", dass in Bolivien "noch immer Menschen in Sklaverei zu leben haben". Es wird eng für die Herren der Haciendas. Im Mai 2007 gelang es den Guaraní zum ersten Mal, einen patrón ohne finanzielle Kompensation zur Herausgabe eines Stückes Land zu zwingen: 1500 Hektar Gestrüpp, ehemals im Besitz von Hernán Reynaga, eines Bruders von Don Román. Am Tag, als er das Gerichtsurteil in den Händen hielt, ließ Justo Molina dort 240 Guaraní aufmarschieren. Sie machten sich sogleich mit Macheten daran, das Land - ihr erstes wirklich eigenes Land - in Besitz zu nehmen: Denn das Recht sieht vor, dass die Scholle dem gehört, der sie beackert. Noch ist es nur ein Lager, doch hat das Dorf, das einmal 25 Familien Platz bieten soll, bereits einen Namen: "Itakyse", "messerscharfer Stein" - nach dem Steinbruch, an den es grenzt.