Von Alaska bis Patagonien "Wir hatten jeden Tag Angst": Was zwei Extrem-Radler auf der Tour ihres Lebens erlebten

Jérémy Vaugeois (35) und Sophie Planque (34) mussten unterwegs auf ihrem Trip jede Menge Pässe meistern - zum Beispiel diesen hier in Peru auf 4913 Metern über Normal Null
Jérémy Vaugeois (35) und Sophie Planque (34) mussten unterwegs auf ihrem Trip jede Menge Pässe meistern - zum Beispiel diesen hier in Peru auf 4913 Metern über Normal Null
© Sophie Planque
Fast zweieinhalb Jahre lang sind Sophie Planque und Jérémy Vaugeois ohne Unterbrechung quer durch den amerikanischen Doppelkontinent von Alaska bis Patagonien geradelt. Das französische Paar hat dabei Unfälle mit Lastwagen und Kaktus überstanden, dem Tod ins Auge geblickt und ist sich auf besondere Weise näher gekommen. Im Interview sprechen die beiden außerdem darüber, was es braucht, einen solchen Trip zu meistern – und ob sie die Strapazen noch einmal auf sich nehmen würden

GEO: Von Alaska bis Feuerland habt ihr unfassbare 28743 Kilometer zurückgelegt, wart 812 Tage bei Wind und Wetter auf dem Sattel. Wie oft habt ihr unterwegs geflucht?

Sophie Planque: Oft! Am allerhäufigsten über die Lastwagen, die uns überholt haben. Denn das konnte gefährlich werden. Zum Beispiel in Alaska, ganz am Anfang unseres Trips. Dort konnten wir die Trucks zwar meist schon am Horizont und aus fünf Kilometern Entfernung anrollen sehen, über die schnurgerade Straße, die dort neben einer Pipeline entlangläuft. Aber jede Begegnung hatte das Potenzial für ein Problem. Und in einem Fall wurde daraus auch Ernst, was man in der Dokumentation sehen kann, die wir über unser Abenteuer gedreht haben.

Jérémy Vaugeois: Auf dem Highway fuhren wir einen Berg hinab, 600 Kilometer von Fairbanks entfernt, mitten in der Wildnis. Von vorne kam ein Lkw auf uns zu, der Fahrer trat voll aufs Gas, um die Steigung mit Schwung zu nehmen, wie es jeder da macht. Sophie schoss vor mir die Straße hinunter, mit vielleicht 50 Sachen. Kurz bevor sie und der Truck auf gleicher Höhe waren, zog der Fahrer in die Mitte, um dem Schotter und den Schlaglöchern am Straßenrand zu seiner Rechten auszuweichen. Das wirbelte Staub auf, Sophie sah nichts, auch nicht das Mega-Schlagloch, das vor ihr auf unserer Seite lauerte. Sie stürzte. Erlitt einen Oberarmbruch und ein Schädeltrauma, verlor ihr Gedächtnis für einen halben Tag. Sie hätte bei dem Unfall auch sterben können. Und obwohl ich sofort einen Notruf absetzte, dauerte es Stunden, bis die Rettung aus der Luft kam.

Von samtigem Asphalt keine Spur: In der Provinz Sur Lípez in Bolivien wird der Untergrund zur Herausforderung
Von samtigem Asphalt keine Spur: In der Provinz Sur Lípez in Bolivien wird der Untergrund zur Herausforderung
© Sophie Planque

Was war die Folge?

Sophie Planque: So unglaublich es klingt – dieser Unfall hat uns beiden die Kraft gegeben, die Reise von Nord nach Süd durchzustehen.

Viele andere hätten vermutlich nach einem solchen Rückschlag erst recht aufgegeben – weil er zeigt, wie schnell das Leben zu Ende sein kann.

Sophie Planque: Genau dieses Signal haben wir dagegen wahrscheinlich gebraucht. Zum einen hat uns der Unfall Hoffnung gegeben – wenn wir das überstehen können, packen wir alles. Zum anderen versuchen viele Leute, von Alaska nach Argentinien zu radeln, und manche geben auf, weil es zu viel ist. Es sind zu viele Emotionen, zu viele Berge, zu viele Gefahren. Diese Tour ist einfach nur sehr schwierig, auch für den Kopf. Aber ich denke, wenn man sich eine solche Herausforderung auflädt, dann kann ein tragisches Ereignis wie mein Unfall auch die Weichen stellen. Dann weiß man genau, warum man das alles tut und was man auf sich nehmen wird.

Jérémy Vaugeois: Wir haben dann oft zu uns gesagt, dass uns nur der Tod aufhalten kann, Patagonien zu erreichen. Uns wurde die Tatsache, dass man sterblich ist, auf drastische Weise vor Augen geführt. Und wir sind danach noch oft dem Tod begegnet. Zum Beispiel standen wir in Kontakt mit einem deutschen Radler, der etwa zur gleichen Zeit wie wir in Mexiko unterwegs war. Eigentlich wollten wir mit ihm ein Stück gemeinsam radeln. Aber er wurde kurz vorher ermordet. Es ist eine wichtige Erkenntnis zu verstehen, wie groß der Druck sein kann, der jeden Tag unterwegs auf einem lastet. Aber je zerbrechlicher du dich fühlst, desto lebendiger fühlst du dich auch. Und desto mehr kümmerst du dich darum, zu überleben.

Gegenwind, Hitze oder Schnee (hier in Kanada) halten das französische Pärchen nicht auf, auch nicht ein gravierender Unfall in Alaska
Gegenwind, Hitze oder Schnee (hier in Kanada) halten das französische Pärchen nicht auf, auch nicht ein gravierender Unfall in Alaska
© Sophie Planque

Ihr habt auch Unwetter, einen Vulkanausbruch in Guatemala, Aufstände in Nicaragua und den Kontakt mit einem ziemlich widerborstigen Kaktus überstanden.

Sophie Planque: Richtig, ich bin in den Anden in einem Kaktus gelandet – der hatte Stacheln, fast so lang wie ein kleiner Finger. Gut 200 davon bohrten sich in meinen Körper. Zahlreiche davon mussten sie mir herausoperieren.

Auch das hat euch nicht aufgehalten. Was muss man sonst mitbringen, um einen solchen Trip durchzustehen?

Jérémy Vaugeois: Die richtige Mentalität. Physisch kann man sich nicht wirklich auf diese Strapazen vorbereiten, wir auf jeden Fall nicht. Um so wichtiger war mentale Stärke. Das war unsere Superkraft, die auf der Akzeptanz fußte, dass dieser Trip nicht wie eine Touristenreise verlaufen wird. Dass wir mit Schwierigkeiten konfrontiert werden würden, mit vielen schlechten Momenten. Da ist Akzeptanz wichtig. Und mit ihr wuchs unser Wille, das alles zu schaffen.

Wie oft hattet ihr trotz all dieser Stärke unterwegs Angst – und euch schlug das Herz bis zum Hals?

Sophie Planque: Jeden einzelnen Tag! Es gab immer wieder Situationen, die uns Angst einjagten.

Jérémy Vaugeois:  Aber das war auch gut so. Angst kann ein Werkzeug sein, wenn man auf dem Rad solche Strecken meistern oder gar den Planeten umrunden will. Angst hilft dabei, sicher unterwegs zu sein, denn sie schärft die Aufmerksamkeit.

Dass viele Passagen - hier im bolivianischen Hochland - menschenleer sind, nehmen die Fernreisenden in Kauf, zuweilen radeln sie auch in größerer Entfernung zueinander, jeder und jede mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt
Dass viele Passagen - hier im bolivianischen Hochland - menschenleer sind, nehmen die Fernreisenden in Kauf, zuweilen radeln sie auch in größerer Entfernung zueinander, jeder und jede mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt
© Jérémy Vaugeois

Das klingt nach wahnsinniger Anspannung. Habt ihr nie daran gedacht, aufzugeben?

Jérémy Vaugeois: Der Gedanke kam uns nie. Es war unglaublich hart, all die Berge unterwegs, die Kälte, die Hitze, der Wind. Aber wegen des einschneidenden Erlebnisses zu Beginn waren das eben auch nur: die Elemente, und die konnten wir bewältigen. Wir wussten, dass wir aufmerksam bleiben mussten bis zum Schluss, und dann würden wir unseren Traum erleben.

Und der bedeutete natürlich, Ushuaia in Patagonien zu erreichen?

Sophie Planque: Ja, und auf den letzten Kilometern vor unserem Ziel führte die Straße vorbei an einem Berg, der wunderschön ist. Er heißt Monte Olivia. Danach öffnete sich vor uns die Beagle-Straße, die letzte Meerenge vor dem berühmten Kap Horn. Und dann schauten wir auf Ushuaia hinab, nahmen die letzte Abfahrt, drosselten das Tempo. Und bis zu diesem Moment war uns klar, dass wir wachsam bleiben müssen. Damit nichts schiefgeht und wir wirklich unseren Traum würden erleben können.

Das war sicherlich ein verrücktes, kaum fassbares Glücksgefühl, vor allem nach all den anderen Erlebnissen. Wie hat euch denn die gemeinsame Zeit als Paar verändert?

Jérémy Vaugeois: Zunächst mal sind zweieinhalb Jahre eine lange Zeit, da veränderst du dich als Individuum ja schon. Und dann als Paar: Auf einer solchen Reise musst du einfach so viel gemeinsam durchstehen, das Gute, das Schlechte. Und hockst wahnsinnig eng aufeinander. Schließlich wohnst du mit deinem Partner zweieinhalb Jahre lang im selben Zelt. Da ist es wichtig, ein gutes Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was für beide wichtig ist – und was für dich als Einzelperson. Was du denkst, und was man gemeinsam denkt. Und das ist nie einfach. Aber all die Herausforderungen, die wir auf dem Weg zusammen erlebt haben, haben unsere Beziehung verändert, wir sind nicht mehr nur ein Liebespaar – sondern auch ein Team geworden. Und Seelenverwandte, Soulmates. Diese Reise hat etwas so Mächtiges geschaffen, das sonst so nie entstanden wäre.

Gegen Ende ihrer Reise fahren die beiden südwärts auf der "Carretera Austral", einer Straße in Chile, immer das Ziel im Kopf: Ushuaia in Patagonien. Längst ist aus einem Paar auch ein Team geworden
Gegen Ende ihrer Reise fahren die beiden südwärts auf der "Carretera Austral", einer Straße in Chile, immer das Ziel im Kopf: Ushuaia in Patagonien. Längst ist aus einem Paar auch ein Team geworden
© Jérémy Vaugeois

Sophie Planque: Die Tour war auch ein Beschleuniger in Sachen Lebenserfahrung. Wir haben das, was andere Paare vielleicht in 30 Jahren mitmachen, in nicht einmal drei Jahren erlebt. Aber genau so etwas erfahren zu wollen, hat uns immer schon verbunden. Schon als wir uns das erste Mal trafen, hatten wir den Traum, die Welt zu durchqueren. Und Träume zu hegen ist vielleicht das Wichtigste im Leben.

Träume zu hegen ist vielleicht das Wichtigste im Leben

Warum war da ausgerechnet dieser Traum, den amerikanischen Doppelkontinent auf dem Rad zu durchqueren?

Jérémy Vaugeois: Als ich 19 Jahre alt war, bin ich zu Fuß durch Europa gewandert. Und nach dieser Reise hatte ich den Traum, das Gleiche in Amerika zu unternehmen und den ganzen Weg von Quebec nach Patagonien zu laufen. Als ich Sophie kennenlernte, konnten wir gar nicht aufhören, über unsere Outdoor-Erfahrungen zu reden. Und schon beim ersten Date sagten wir, hey, lass uns eines Tages etwas Verrücktes zusammen machen. Das war der Beginn von allem.

Sophie Planque
© EOFT

"The Great Traverse"

Der Film zum Interview - "The Great Traverse" - lässt sich bei der aktuellen "European Outdoor Film-Tour" anschauen, die auf 400 Events in ganz Europa läuft.

Sophie Planque: Uns erschien es so, dass uns die amerikanischen Kontinente den besten Blick auf den Planeten Erde verschaffen würden. Und so war es auch. Auf ein und derselben Straße fährst du über Berge und durch Wüsten, radelst an Regenwäldern und schroffen Küstenlinien vorbei. Und dann sind da die Menschen, die du triffst. Uns begegnete auf der Tour immer wieder dieses intensive Gefühl von Menschlichkeit. Und eine besondere Verbindung zur Natur, die uns erfüllte.

Würdet ihr das noch mal machen?

Sophie Planque: Das fragt wirklich jeder! Würden wir, ja. Wir sind aber gerade erst von einer neuen Reise zurückgekommen: Im vergangenen Winter sind wir fünf Monate lang und auf 5000 Kilometern rund um die Ostsee geradelt, von Hamburg gestartet, dann durch die baltischen Länder und so weiter. Darüber haben wir einen Dokumentarfilm gedreht. Den produzieren wir jetzt, und da ist noch viel zu tun.