Zu Beginn eine Bitte: Schließen Sie für einige Sekunden Ihre Augen und denken Sie dabei an das Leben im Meer, an die Schönheit und grandiose Artenvielfalt der Tiere in den Ozeanen.
Nun, welche Bilder sind vor Ihrer inneren Leinwand aufgetaucht? Eine Meeresschildkröte, die selig durch das Blau taumelt? Ein Buckelwal, der sich aus den Wellen wirft? Ein Korallenriff, über dem Tausende Fische tanzen? Schnittige Haie, eine Schule von Delfinen, majestätische Mantarochen?
Zugegeben: Mir geht es ganz ähnlich. Die Ozeane strotzen nur so vor hinreißenden Organismen. Lebewesen voller Eleganz, Riesenhaftigkeit, irisierender Anmut. Lebewesen, die Blicke und Sympathien auf sich lenken.
Wer denkt schon bei "Biodiversität" an eine Seegurke?
Doch die marine Vielfalt ist so viel reicher als jene, die uns spontan in den Sinn kommt. Die wenigsten Organismen stechen derart ins Auge wie ein Walhai, ein Krake oder ein Clownfisch. Die meisten Spezies sind eher klein, unscheinbar – man könnte böse sagen: unsexy. Und bleiben daher allzu oft unerwähnt, wenn es um Artenvielfalt geht. Wer denkt schon bei der Diversität der Meere als erstes an eine Seegurke? Oder eine Wallaus? Oder einen Eingeweidefisch? Ja, den gibt es auch.
Es sind die Underdogs der Unterwasserwelt. Doch sie gehören, ebenso wie die Stars der Fluten, zu jenem unsichtbaren Netz, das sich zwischen sämtlichem Leben spannt. Zeit also, eine Lanze für die Übersehenen zu brechen. Nicht zuletzt, weil sie überaus staunenswert sind.

Eingeweidefische etwa sind ausgewiesene Spezialisten. Beim Schnorcheln oder Tauchen wird man sie höchst selten zu Gesicht bekommen, denn die schuppenlosen, durchsichtigen Meeresbewohner führen ein Dasein im Verborgenen. Genauer gesagt: Sie leben im Inneren von Muscheln, Seesternen, Seescheiden oder Seegurken. Darin finden die aalähnlichen Fische besten Schutz vor Fressfeinden.
Der Anus einer Seegurke dient ihnen als Ein- und Ausgang
Um nach Beute wie kleinen Wirbellosen oder Eiern zu suchen, wagen sie sich hin und wieder nach draußen – wobei ihnen zum Beispiel der Anus einer Seegurke als Ein- und Austrittspforte dient. Nur selten wird einem Eingeweidefisch seine lebende Behausung zum Verhängnis: Der englische Name "Pearlfish" geht auf den Fund eines leblosen Austernbewohners zurück, der im Inneren der Muschel über und über mit Perlmutt bedeckt war.
Noch so ein Wunder der Evolution ist die Wallaus: Sie hat sich im Laufe von Jahrmillionen perfekt an ein Leben auf – klar: Walen angepasst. Mit ihren ultrastarken Beinchen klammert sie sich an der Haut der Meeressäuger fest. Ihr Körper ist so abgeflacht, dass er dem Wasser kaum Widerstand entgegensetzt. Trotzdem verkrümelt sich das Tier gern in den Schutz einer Walbauchfalte. Wo sie kann, nascht die Laus – die eigentlich ein Krebs ist – Hautschuppen, Körpersekrete oder auch Algen.

Von der Wallaus zu schreiben, ist übrigens schlicht falsch. Derzeit sind 31 Wallaus-Spezies beschrieben (zum Vergleich: nicht einmal ein Viertel so viele Arten von Meeresschildkröten gibt es) – und wahrscheinlich harren noch etliche weitere ihrer Entdeckung. Die meisten Spezies haben sich auf eine bestimmte Walart spezialisiert: Auf einem Nordkaper etwa findet man andere Walläuse als auf einem Orca. Ja, manche der Parasiten sind sogar wählerisch, was das Geschlecht ihres Wirtes angeht. Cyamus catodontis lebt auf Pottwalbullen, Neocyamus physeteris dagegen krallt sich an Pottwalweibchen oder –jungtieren fest.
Ihr krummer Leib mag zwar nicht unserer Vorstellung von Ästhetik entsprechen, ihr Lebensstil findet größtenteils im Verborgenen statt. Doch allein die schiere Zahl der Walläuse ist eine Erwähnung wert, spricht für ihren evolutionären Erfolg: Auf einem einzigen Wal können locker 100.000 dieser erstaunlichen Schmarotzer hausen. Von wegen Underdogs …
Kaum jemand kennt Pfeilwürmer. Dabei sind sie ein wichtiger Part des Ökosystems
Apropos Anzahl: Haben Sie schon einmal von Chaetognathen gehört, auch Pfeilwürmer genannt? Ebenso eine Gruppe von Vergessenen. Dabei leben die bis zu zehn Zentimeter langen, torpedoförmigen Organismen in allen Weltmeeren: fühlen sich an tropischen Küsten wohl, in Gezeitentümpeln, im eisigen Wasser der Pole und auch in der Tiefsee. Und: Pfeilwürmer zählen zu den häufigsten Tieren unseres Planeten. Sie machen rund zehn Prozent des Zooplanktons aus.
Obendrein stellen die rund 130 bekannten Spezies einen wichtigen Part im Nahrungsnetz dar. Es sind geschickte Beutegreifer: Lauerjäger, die mit komplex gebauten Augen nach anderem Plankton Ausschau halten, pfeilschnell durch das Nass schießen und ihre Opfer mit spitzen Klauen ergreifen. Sie selbst wiederum stehen auf dem Speiseplan von anderen Prädatoren. Und machen schließlich unzählige Fische fett.
Ob uns eine Art oder eine ganze Gruppe von Organismen geläufig ist, ob wir sie sympathisch finden, ob wir etwas über ihre Lebensweise oder überhaupt etwas über ihre Existenz wissen, das entscheidet sich oft anhand der Optik. Seepferdchen finden wir niedlicher als glasige Pfeilwürmer. Buntgebänderte Papageienfische begeistern uns mehr als schuppenlose Eingeweidefische. Seesterne sind in unseren Augen formschöner als krallige Walläuse.
Jede Spezies ist eingebunden in das vielschichtige Netz der Natur
Das heißt aber nicht, dass die Unscheinbaren unwichtig sind. Sie alle tragen zur Artenvielfalt bei, sind eingebunden in vielschichtige Nahrungsnetze, fressen und werden gefressen. Die Bedeutung dieser "Unbekannten" offenbart sich mitunter allein schon auf Ebene der Systematik, also der evolutionären Verwandtschaftsverhältnisse.
Pfeilwürmer zum Beispiel rangieren auch im Stammbaum des Lebens mitnichten unter "ferner liefen": Sie bilden ein eigenes Phylum (einen Stamm), stehen also, rein taxonomisch gesehen, auf einer Stufe mit den Chordatieren. Zu denen gehören unter anderem sämtliche Wirbeltiere – Fische, Wale, Seelöwen. Und auch wir Menschen.