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Zu Unrecht von der Wissenschaft vernachlässigt
Zugegeben: Jedermanns Lieblingstiere sind sie nicht. Selbst Spiderman kann wenig daran ändern, dass die meisten Menschen beim Anblick einer Spinne mit Abscheu, Flucht oder einem festen flachen Gegenstand reagieren, um die Bestie schleunigst aus der Welt zu schaffen. Und trotz beeindruckender Berechnungen, wonach die auf einem Hektar ländlicher Fläche lebenden anderthalb Millionen Spinnen Jahr für Jahr eine Tonne Insekten zu Brei verflüssigen und einsaugen, gelten die Fängerinnen allgemein auch nicht als Wohltäter bäuerlicher Betriebe. Doch auch das Grässliche hat seinen Reiz. Weshalb eine wachsende Gemeinschaft von Forschern ihre Karriere dem gewalterfüllten Leben, der heimtückischen Jagd und den riskanten Amouren der Spinnen widmet. Lange ist jene Klasse achtbeiniger Arachniden vom Hauptstrom des biologischen Establishments vernachlässigt worden zugunsten von Säugetieren, Vögeln und Insekten.
Zu Unrecht von der Wissenschaft vernachlässigt
Würde jemand ein Guinnessbuch der Gliedertierrekorde zusammenstellen, wären Spinnen mit mehreren Eintragungen vertreten. Sie gehören zu den giftigsten, gemeinsten, einsiedlerischsten, sozialsten, kannibalistischsten, schnellsten, kosmopolitischsten, erfinderischsten, sensibelsten - ja: und schönsten Arthropoden. Sie brauchen sich hinter der marktschreierischen Pracht der Schmetterlinge nicht zu verstecken. Im Tarnen und Täuschen besetzen sie Spitzenplätze. Als Schwarzfahrer der Abschreckung nehmen sie die Gestalt beißender Ameisen und stechender Wespen an, imitieren schillernde Wassertröpfchen und Vogelkot. So führen sie außer ihren Feinden auch menschliche Artenkenner an der Nase herum.

Technisch liegen netzwebende Spinnen vorn
Im gesamten Tierreich hat die von ihnen gesponnene Seide nicht ihresgleichen. Allein bei der Vorstellung, Menschen könnten diese total recycelbaren Naturfasern eines Tages selber herstellen, könnten deren Stahl übertreffende Festigkeit und Elastizität nutzen, bekommen Polymerchemiker glänzende Augen. Ebenso einzig sind die aus der Seide gesponnenen Schlingen. Nach herkömmlicher Auffassung ist es die Umwelt, die tierisches Verhalten, Körpergestalt und -funktionen formt. Anpassung heißt das in der Wissenschaft. Wahr ist aber auch das Umgekehrte: dass nämlich Tiere ihrerseits die Umwelt verändern können. Spinnen zum Beispiel haben mit ihrer Erfindung des Netzes in den Ablauf der Evolution eingegriffen und die natürliche Selektion in eine neue Richtung gedrängt.
Seit über 400 Millionen Jahren werden Netze gewoben
Denn seit die Achtbeiner ihre Fallen im freien Luftraum aufspannen - die ältesten gefundenen fossilen Seidenfäden werden auf 130 Millionen Jahre geschätzt, die ältesten Spinndrüsen auf 410 Millionen Jahre -, ist es vorbei mit der Flugsicherheit umherschwirrender Insekten. Radnetzspinnen haben im ständigen Rüstungswettlauf zwischen Räubern und Beute einen entscheidenden Vorsprung errungen. Ihre Innovation wirkt sich jedoch nicht nur auf die Völker der Kerbtiere aus. Erst recht haben die fähigen Baumeister ihrer eigenen Zukunft eine Wendung zum Besseren gegeben und die von Spinnen zuvor unbesetzte Nische des luftigen Nichts besiedelt. Wo Konkurrenten ohne Netz chancenlos bleiben, beuten die Seiltänzer ungenutzte Ressourcen aus. Die Folge: In einer durch Spinnweben veränderten Welt müssen sich fortan alle Nachgeborenen der Ordnung der Araneae etwas einfallen lassen, um bei der Verteilung der Beute nicht hoffnungslos abgehängt zu werden.
Verzerrter Wettbewerb

Der Wettbewerb hat dazu geführt, dass einige Spinnengattungen das aufwendige Fanggerät alsbald vereinfacht und neue Prototypen eingeführt haben. Kescherspinnen jagen zum Beispiel mit einem kleinen, tragbaren Gewebe. Sie halten es zwischen den Vorderbeinen und stülpen es der überraschten Beute über wie einen Sack. Noch minimalistischer ist das zur klebrigen Kugel geschrumpfte Netz der Bolaspinnen. Sie schleudern den an einem Seidenfaden befestigten Leimball nach einem ahnungslosen Opfer. Sobald er haftet, zieht ihn die Jägerin mitsamt der hilflos daran zappelnden Mahlzeit zu sich heran.
Netze sind erstarrtes Verhalten
Jede Spezies arbeitet mit einem ureigenen Netz-Design. Dennoch spannen die Tiere ihre Leinen nicht allein nach einem festgelegten genetischen Bauplan. Vielmehr nehmen Individuen an der Grundform gezielte Veränderungen vor, wie Forscher entdecken: je nach Größe und Zahl der Beute, mit der sie rechnen. Je nachdem, ob sie selber fit oder fertig, satt oder hungrig sind, ändern sie ihren Entwurf. Er spiegelt ihr Befinden, ihre Erwartungen wider - und was sie in der Vergangenheit erlebt haben. Neulinge am Bau bevorzugen symmetrische Formen. Die Netze älterer Spinnen dagegen sind im unteren Teil ausladender als im oberen. Spinnen merken, dass es bequemer ist, mit der Schwerkraft zu jagen als gegen sie. Verfängt sich ein Opfer im unteren Teil des Gewebes, ist die Spinne aus ihrer Lauerposition im Zentrum des Rades rascher zur Stelle und erbeutet mehr, als wenn sie in die Höhe klettern muss.
Spinnen manipulieren ihre Umwelt
Dass Spinnen eine Vorstellung von ihrer Umgebung haben und sie sogar manipulieren, um sich das Leben angenehmer zu machen, gehört zu den Überraschungen der jüngeren Forschung. Denn flexibles Verhalten und die Fähigkeit zu lernen haben Biologen traditionell bei Tieren mit großen, hoch entwickelten Gehirnen erwartet. Etwa bei Delfinen und Schimpansen. Nicht aber bei solchen, deren Denkorgan bequem auf der Spitze einer Stecknadel Platz fände. Nicht bei Springspinnen der Gattung Portia zum Beispiel.
Ein Beispiel: Portia
Die rund 15 Portia-Arten kommen in Ostafrika, Malaysia, Sri Lanka, Australien und auf den Philippinen vor und fallen zunächst dadurch auf, dass sie nicht aussehen wie Spinnen oder überhaupt wie ein Tier. Sie ähneln eher etwas Verwesendem, einem winzigen Stück Treibgut des Lebens, das allem Anschein nach zufällig im Netz einer anderen Spinne hängen bleibt und dort die Fäden in Schwingung versetzt. Das ist ein Signal, auf das die Besitzerin des Gewebes gelauert hat. Begierig läuft sie herbei - und schon springt das Stück Dreck auf, packt zu, beißt zu und hat wieder einmal durch List eine Mahlzeit ergattert.
Trickreiche Jagd auf Spinne
Eine Portia baut selbst keine Fanganlage. Wozu auch? Sie jagt in fremden Netzen. Ihre Beute ist die Spinnerin selbst, ihre Methode die Tücke.
Oft kennt Portia die Spezies, die sie beschleicht, und weiß, welche Fäden sie zupfen muss, um der lauernden Jägerin ein zappelndes Insekt vorzutäuschen. Das gelingt so gut, weil Netzspinnen beim Beutemachen nicht auf ihre Augen vertrauen, sondern auf die Botschaften ihrer Gespinste, auf deren typisches Beben und Zittern. Das macht sich die Springspinne zunutze.
Trifft sie auf das Netz einer Spezies, deren Signale sie nicht kennt, probiert Portia erst einmal ein bisschen herum. Sie wechselt die Frequenzen, greift mit ihren Kiefertastern und allen acht Beinen in die Seide wie in eine Harfe, wippt mit dem Hinterleib und sendet Signal um Signal. Regt sich die Netzbewohnerin und zeigt Interesse, verrät sie so ihrem Todfeind ahnungslos die richtige Wellenlänge. Nun wiederholt Portia die verlockende Schwingung so lange, bis die Betrogene ihre Beißklauen nach der vermeintlichen Beute ausstreckt und selber erbeutet wird. Der ärgste Feind der Spinne ist die Spinne.

Wie schaffen die Spinnen das?
Antworten auf die Frage, wie Spinnen mit ihrem vergleichsweise winzigen Gehirn solch erstaunliche Leistungen bewerkstelligen können, liefern Populationen von Cupiennius salei, einem handtellergroßen Mitglied aus der Familie der Kammspinnen. Sie leben normalerweise in mittelamerikanischen Regenwäldern. Ausnahmsweise aber auch im warmen feuchten Keller des Zoologischen Instituts der Universität Wien. Dort besiedeln sie Regalreihen voll hoher Gurkengläser, deren Öffnungen vorsorglich mit Gaze abgedeckt sind. Denn auch Cupiennius ist keine Ausnahme und ernährt sich wie alle Spinnen, vor allem die weiblichen, bei passender Gelegenheit kannibalisch. Jungtiere wohnen daher in ihren eigenen Kinderstuben und werden mit Fruchtfliegen versorgt, erwachsene Räuber mit etwa drei Schmeißfliegen pro Woche. So oft es sich für ihre Spezies gehört, wählen sie einen Partner und zeugen Nachwuchs. Ein paar 100000 Spinnlein entschlüpfen in der Wiener Brutstation Jahr für Jahr ihren Seidenkokons.
Wahrnehmung am Rand des physikalisch Möglichen
Als so etwas wie die weiße Maus der Neurobiologie beweist Cupiennius bei Laborversuchen und im Feld, wie fein ihre Sinne im Verlauf von 400 Millionen Jahren geschliffen, gewetzt, poliert und schließlich derart geschärft worden sind, dass zum Beispiel die Fadenhaare auf ihrem Körper mühelos die von einem fliegenden Insekt erzeugte Bugwelle aus Luft wahrnehmen. Und nicht nur das: Sie unterscheiden am Verwirbelungsmuster des Flügelschlags sogar Beute von Feinden.
Fadenhaare oder Trichobothrien messen bis an die Grenze des physikalisch Möglichen. Sie melden schon, wenn ein paar Luftpartikel die vorgeschriebene Geschwindigkeit überschreiten oder trudelnd ihre Position verlassen. Und da überall auf dem Chitinpanzer und den Beinen von Cupiennius mehrere 10000 dieser exakt getunten Sinneshaare aus winzigen Löchern sprießen, ist die Spinne genau im Bilde über den biologischen Luftverkehr. Jedenfalls so lange er sich innerhalb einer Viertelmeterzone um die Jägerin herum bewegt. Jenseits davon liefern die Haare nur ungenaue Daten, schaffen es nicht, die relevanten Informationen herauszufiltern aus dem Wehen des Windes. Aber was macht das schon?
25 Zentimeter Reichweite genügen
Bewegungsreize über die Distanz eines Viertelmeters geben Cupiennius genug Zeit, auf die eintreffende Botschaft zu reagieren - sich entweder zu verstecken oder den betreffenden Überflieger mit einem Sprung aus der Luft zu holen. So haargenau arbeiten die Sensoren dieser Spinne, dass sie beim Jagen ohne Netz auskommt. Zumal noch ein paar 100000 weitere Börstchen ihren Panzer für Tastreize empfänglich machen und ein Arsenal von 3500 in den Panzer eingebettete Schlitzsensillen Druck und Dehnung registrieren und so leiseste Erschütterungen der Pflanze wahrnehmen, auf der das Tier lebt. Die Spinne erkennt Beute, Partner, Feinde am Schritt, wenn diese noch fast vier Meter entfernt irgendwo am Stängel entlangschlendern.
Umwelt-Scanner auf acht Beinen

Kein Zweifel: Cupiennius salei ist flächendeckend mit Daten aus der Umwelt versorgt. Was niemand ahnte, bis Friedrich Barth sich um 1970 eines der unbeackerten Felder der Biologie vornahm: die Kontaktstellen zwischen der Spinne und der physikalischen Realität, auch Sinne genannt. Vor allem Probleme der Ökophysik reizten den Neurobiologen. Etwa wie Anatomie und Mechanik der tierischen Empfangsorgane zu den Reizen passen, die sie draußen in der Natur messen sollen. Wie präzise die Sensoren arbeiten. Welche Facetten sie aus dem breiten Spektrum der Möglichkeiten herausfiltern. Und wie sie Verhaltensweisen überhaupt erst ermöglichen, die Spinnen so erfolgreich machen.
Ein "Modellsystem" für Ingenieure
Heute, ein paar Jahrzehnte später, ist der "Spinnenordinarius" Barth von der Wiener Universität einer der berühmtesten Experten auf dem Gebiet der Sinnesphysiologie und gesuchter Partner der Industrie, deren Ingenieure einiges von dem nachbauen wollen, womit die Evolution die Achtbeiner ausgestattet hat. Cupiennius salei ist in der Fachliteratur nicht minder bekannt. Die Spinne gilt mittlerweile als "Modellsystem", dessen Sensibilität - wie sie von Barth und seinen Mitarbeitern bei typischen Alltagssituationen in Einheiten von Hertz, Millimeter, Sekunden, Grad, Pascal, Joule, Newton ermittelt worden ist - die der gesamten Ordnung repräsentiert.
Werben mit 100 Hertz
Seither wissen wir nicht nur bis auf eine Stelle hinterm Komma, wie Spinnen die Welt erleben. Auch was sie treiben, lässt sich in Zahlen angeben. Wenn etwa eine männliche Spinne ihre Wohnpflanze durch Wippen in Schwingung versetzt und mit diesen typischen Balzvibrationen ein Weibchen zu betören versucht, hat das stumme Trommeln in der Nacht eine bestimmte Frequenz: Er wirbt mit 100 Hertz. Und sie antwortet mit 40. Abweichungen von diesem Bandbereich wären nicht sinnvoll. Sie könnten statt Begehren Gleichgültigkeit bewirken - mit 10 Hertz weht der Wind - oder riskante Verwechslungen: 400 bis 900 Hertz erzeugt das appetitanregende Krabbeln einer Schabe.
Viele Entscheidungen - etwa die, ob Mann oder Mahl - werden, laut Barth, bereits an der Peripherie getroffen, in diesem Fall von den Vibrationssensoren im Fußgelenk des Achtbeiners. Die intelligenten Außenposten der Wahrnehmung nehmen dem Zentralen Nervensystem viel Arbeit ab. So kommt es, dass Spinnen trotz ihres kleinen Gehirns derart durchtrieben sind.