Wer sich heute in die stark verstrahlte Todeszone rund um den Reaktor wagt, erlebt Natur im Urzustand: wilde Tiere, ganz ohne Scheu vor Menschen. Wölfe, Füchse, Rothirsche streifen durch unberührte Wälder, an den Uferhängen des Flusses Prypjat brüten Eisvögel, im Wasser schwimmen Fischotter. Birkhühner balzen, wo früher einmal Felder und Wiesen waren. Sogar ein Braunbär – der erste seit Menschengedenken in der Gegend – lief in eine Kamerafalle. Kein Mensch, keine Autos, keine Fabriken stören die scheinbar heile Natur. Weißrussland hat im Sperrgebiet sogar eine Schutzzone eingerichtet, fast so groß wie Luxemburg. Schützen soll die allerdings uns Menschen: vor der Radioaktivität, die den Tieren anscheinend nur wenig anhaben kann.

Ein Jahr nach dem Tschernobyl-Unglück waren die Nager zurück
Dabei war die Reaktorkatastrophe zunächst auch für viele Tiere tödlich. Nur wenige Prozent der Würmer, Insekten und Spinnen waren im Sommer 1986 im Umkreis von sieben Kilometern noch lebendig. Bis zum Herbst starb ein Großteil der Nagetiere. Dies geht aus Zählungen hervor, die im Fachblatt „Integrated Environmental Assessment and Management“ veröffentlicht sind. Die Zahl der Fehlgeburten, Tumore und Deformationen stieg stark.
Doch ein Teil der freigesetzten radioaktiven Elemente zerfiel bereits nach kurzer Zeit, wodurch sich die Strahlung nach einigen Tagen, Wochen und Monaten deutlich verringerte. So hatten sich bereits im Frühjahr 1987 die Bestände der ohnehin sehr fruchtbaren Nagetiere wieder erholt.

Und in der Welt der Pflanzen eroberten strahlungsresistente Birken den abgestorben Nadelwald.
Radioaktive Substanzen im Körper
Ein weiterer Teil der Strahlung jedoch – etwa vom langlebigen Cäsium-137 oder Strontium-90 – verseucht die Gegend noch heute: Liegt die Intensität der Strahlung in der Randzone 30 Kilometer rund um den Reaktor nur etwas oberhalb der durchschnittlichen natürlichen Strahlung in Deutschland, steigt sie auf das bis zu 1000-fache direkt am Reaktor. Das geht an den Tieren nicht spurlos vorbei: Auch Jahrzehnte später reichern die Wildtiere und Rinder in den verstrahlten Gebieten noch gesundheitsgefährlich hohe Mengen radioaktiver Substanzen im Körper an. Dies führt zu Anomalien und Mutationen bei Fischen, Amphibien und Säugetieren, wie eine umfassende Studie der New York Academy of Sciences von 2009 belegt.

Trotzdem scheinen die Strahlung und ihre Folgen die Fortpflanzung von Elchen, Hirschen, Rehen und Wölfen kaum zu beeinflussen. Heute leben ähnlich viele dieser Arten in dem Gebiet rund um Tschernobyl wie in den benachbarten unverstrahlten Schutzgebieten. Wölfe sollen im verseuchten Gebiet sogar siebenmal häufiger vorkommen.
Erklären lässt sich dieses Phänomen nur mit einer Art Strahlenresistenz, die viele Tierarten entwickelt haben müssen. So zeigen Untersuchungen an Vögeln im Sperrgebiet: Die erhöhte Strahlung produziere über die Erzeugung freier Radikale zwar oxidativen Stress in den Körpern der Tiere. Und dieser droht das Erbgut zu schädigen. Doch viele Arten konnten sich offenbar physiologisch daran anpassen – und zwar umso besser, je höher die tägliche Strahlendosis war. Ob auch Wölfe oder Fischotter gelernt haben, sich so gegen die Strahlung zu wappnen, ist noch unklar.

Die weitaus größere Bedrohung für die Wildtiere – das folgt aus den erstaunlichen Beobachtungen rund um Tschernobyl – ist eindeutig der Mensch. Hört er auf, die Tiere zu jagen und ihren Lebensraum zu zerstören, erholen sich die Bestände.
Im Sperrgebiet rund um Tschernobyl können die Tiere hoffen, noch lange ungestört weiterzuleben. Denn Menschen werden so bald nicht zurückkehren: Die zweite Generation nach der Katastrophe aus der Gegend rund um Tschernobyl kämpft noch immer mit der Strahlenverseuchung. Nur zwanzig Prozent der Kinder sollen gesund sein – im Vergleich zu 90 Prozent vor dem Unglück.