Die Homepage des GEO-Tags der Artenvielfalt
Freitag, 13. Juni 2008, im "Waldbahn"-Waggon nach Ludwigsthal, 18.05 Uhr
Zur Bestimmung der verschiedensten Tier- und Pflanzenarten braucht es meist mehr als einen kurzen Blick. Zur Bestimmung der Experten nicht. Da reicht einer auf das Gepäck: Käscher, die aus mannshohen Trekkingrucksäcken ragen, verraten den Insektenkundler, Bastkörbe in allen Variationen den Pilzsammler im Dienste der Wissenschaft. Ornithologen, Pflanzenkundler oder auch Fledermaus-Experten sind wegen des handlicheren Equipments schon schwerer auszumachen, doch Wanderschuhe, Khaki-Hosen und entsprechende Reiseliteratur lassen Rückschlüsse zu.
Rund eine Stunde später, wenn sie im Haus zur Wildnis im Bayerischen Wald angekommen sind, werden sie alle für die nächsten zwei Tage an den dort ausgegebenen sandfarbenen Westen zu erkennen sein - und an der Begeisterung, mit der sie sich ans Werk machen. 20 Untersuchungsgebiete vom Hochmoor über das Offenland der Schachten (ehemals künstlich angelegte Hochweiden) bis hin zu Bachauen und natürlich dem hier reichlichen Wald liegen in dem 243 Quadratkilometer großen Gelände vor ihnen.
Ein ermutigender Auftakt auch: Eben hatten sich die Experten beim Aufstieg zum Haus der Wildnis noch darüber Gedanken gemacht, ob sie im Laufe der nächsten Tage wohl auch einmal einen Luchs zu Gesicht bekommen werden, da steht er schon vor ihnen. Im Wildgehege ist die ansonsten so scheue Wildkatze zwischen zwei Felsen hervorgetreten.
Freitag, 13. Juni 2008, Kolbersbach, 22.15 Uhr
Die Wolken, die vor wenigen Stunden noch bedrohlich über den Bäumen hingen, sind weitergezogen. Die Nacht ist sternenklar und für Mitte Juni reichlich kalt. Der Atem steht weiß vor Hermann Hackers Mund, der eben seiner Enttäuschung Luft macht: "Es ist nichts los. Das sind so ziemlich die ungünstigsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann", seufzt der Nachtfalter-Experte ob der Kälte. Dazu noch das Licht des zunehmenden Monds. Das weiße Tischtuch, das Hacker für Fangzwecke zwischen zwei Stangen aufgespannt hat und nun mit einer 250-Watt-Lampe bestrahlt, verliert damit zusätzlich an Attraktivität. Rund 150 bis 200 Nachtfalter-Arten wären hier zu erwarten, schätzt Hacker, magere fünf haben sich bisher anlocken lassen.
Zwar sind viele der Nachtaktiven auch noch bei Temperaturen unter dem Nullpunkt flugfähig. Im Sommer scheinen sie jedoch zu wissen, dass es nach der Schafskälte wieder wärmer wird und warten lieber ab. Selbst Arten, deren Vorfahren bereits die letzte Eiszeit überlebt haben, lassen sich an diesem Abend nicht blicken. Umso mehr Aufmerksamkeit erfährt deshalb der Achat-Eulenspinner (Habrosyne pyritoides), der - immerhin pünktlich zur Ankunft einer Besuchergruppe - ein wenig klamm ins Schweinwerfer-Licht flattert und sich wenig später in einem Fangglas wiederfindet.
Einige Meter unterhalb präsentieren Ulli Marckmann und Volker Runkel das selbst entwickelte automatische System zur Fledermauserfassung und Rufanalyse: Das Gerät steckt in einer Stoffhülle auf einem rund zwei Meter hohen Stab, rechts ragt eine Art dicke Stricknadel waagerecht heraus. Es unterscheidet Fledermausrufe von anderen Signalen, zeichnet die Rufsequenzen automatisch auf und zeigt dann am Computer an, um welche Arten es sich handelt. In dieser Nacht sind es Mops-, Bart- und Zwergfledermaus. Auch sie schätzen die Kälte nicht besonders, doch die Weibchen bekommen bald ihr Junges und müssen fressen.
Samstag, 14. Juni, Lackerberg, ab 5.30 Uhr
"Das wird jetzt ein Abenteuerspaziergang", kündigt Jens Schlüter an. Vor dem Projektkoordinator des BUND, dem diesjährigen GEO-Partner der Hauptveranstaltung, stehen unter anderem die Gewinner des letztjährigen Wettbewerbs für Schülerexperten, Jacob und Maike Winter sowie Jonas Melzer. Sie wollen Vögel beobachten. Auerhühner wären hier am Lackerberg das Beste, meint Jens Schlüter, während einige seiner Begleiter ein wenig schockiert den Hang hinaufblicken: Jenseits eines grünen Gürtels zeigt sich eine Schneise der Verwüstung, geschlagen von Wirbelsturm Kyrill im Winter 2007.
Über 50 Hektar zieht sich der Windwurf über die Flanken des Berges. Einzelne nadel- und rindenlose Fichten recken sich noch grau in den Himmel, doch der Großteil ist gestürzt. Die herausgerissenen Wurzelteller - groß, aber zu wenig tief, um solchen Naturgewalten standzuhalten - stehen senkrecht und haben überall flache Mulden hinterlassen. Es ist ein Bild der Verwüstung, das so gar nicht zu dem von einem Wald-Paradies passen will. Zumal, wenn man weiß, dass sich unter den Rinden von Bäumen, die Kyrill getrotzt haben, zahllose Borkenkäfer eingenistet haben.
"Viele müssen sich noch daran gewöhnen", räumt Schlüter ein. "Aber jetzt könnt ihr Wildnis am eigenen Leib erleben." "Kaputte Wildnis", fügt einer aus der Gruppe hinzu.
Die umgestürzten Bäume sind von einer dünnen Reifschicht überzogen und ziemlich glitschig - als wäre das Gebiet nicht bereits unzugänglich genug. Das hindert Tobias Fröhlich aber keinesfalls am Vögel-Bestimmen. Zaunkönig, Zilpzalp und Kohlmeise macht er aus, den Buchfink natürlich, Mönchsgrasmücke, Wacholderdrossel, Baumpieper und Singdrosel. An einem der verbliebenen kahlen Stämme sucht ein Buntspecht nach Futter, wenig später rückt ein Fitis in den Fokus der Ferngläser.
Schon allein daran wird klar, dass auch dieser Teil des Waldes alles andere als tot ist. Es gibt sogar Gewinner der Katastrophe: Der Dreizehenspecht ist auf Borkenkäfer spezialisiert und könnte ohne sie nicht überleben, der inzwischen äußerst seltene Gartenrotschwanz findet im Totholz die Strukturen, die er zum Brüten braucht. Der Habichtskauz nutzt die verbliebenen freistehenden Stämme als Aussichtsturm und wie der weit kleinere Zwergschnäpper als Höhlenbäume. Pflanzen wie Weidenröschen, Himbeere, Siebenstern und Fuchsgreiskraut schätzen das Mehr an Platz, Sonnenlicht und Wärme, das ihnen der Tod der alten Bäume beschert hat. Sie wiederum ziehen Insekten, Käfer und Schmetterlinge an. Es folgen Molche, Blindschleichen, Eidechsen und Kreuzottern, die sich auf den umgestürzten Bäumen sonnen und Luchse, die sie als Brücken verwenden.
Natürlich gibt es auch Verlierer: Goldhähnchen, Meisen, Erlenzeisig oder Fichtenkreuzschnabel suchen üblicherweise im geschlossenen Kronendach Schutz und Nahrung in Zapfen und Nadeln, die hier kaum noch zu finden sind. Auch Mäuse, Siebenschläfer und Ameisenkolonien wandern in angrenzende alte Waldstücke ab, wo sie besser gedeckt und geschützt sind.
Gefährdet sei deshalb jedoch keine der Arten. Lediglich die Zusammensetzung der Bestände verändere sich, sagt Schlüter. Er spricht von einem Waldmosaik, das im Laufe der Jahre ein immer neues Bild ergibt: Wo heute viele Arten leben, werden es in einigen Jahren, wenn die jungen Bäume zu einem dichten Wald herangewachsen sind, wieder weniger sein.
Der Nationalpark als Observatorium
Tom Müller, Organisator des GEO-Tags der Artenvielfalt, betrachtet den Nationalpark im Gegensatz zu Schutzgebieten deshalb "als Observatorium, das sich die Menschheit leistet, um zu beobachten, welche Prozesse da ablaufen. Der Mensch lässt Natur zu, ohne einzugreifen." Der Preis dieses Observatoriums ist nicht zuletzt ein mentaler: Selbst bei radikalen Umbrüchen gilt es "Ruhe zu bewahren" in dem Bewusstsein, dass auch sie nur Übergangsstadien sind.
"Im Waldboden schlummert ein ungeheures Samenpotenzial", erklärt Schlüter. "Die liegen im Boden und warten auf ihre Chance. Wenn dann mal die Sonne scheint, geht's ab." Eine Ahnung davon bekommt die Gruppe beim weiteren Aufstieg, der über und unter umgestürzte Bäume, durch kniehohes Landreitgras und über wunderbar weiche Moosteppiche führt. Oben angekommen breitet sich dann doch noch ein Bilderbuch aus: Zwischen Rahel und Falkenstein liegt ein Wolkensee über Frauenau und Zwiesel, darüber steht bereits die Sonne.
Samstag, 14. Juni 2008, Kolbersbach, 9 Uhr
Auf Thomas Rettelbachs Zeigefinger hat sich ein Rostfarbiger Dickkopffalter (Ochlodes sylvanus) niedergelassen. Ihm macht wie seinen nächtlichen Artverwandten die Kälte zu schaffen. Und auch die Bienen, die der Experte am Ufer des renaturierten Kolbersbachs eigentlich sucht, haben sich noch nicht zur Nektarsuche aufgemacht. Einzig die verschiedensten Hummeln sind hart im Nehmen. "Die haben einen Pelzmantel, sind dunkel und heizen sich auf diese Weise recht schnell auf", erklärt Rettelbach. Allgemein gilt: Je wärmer, desto besser die Bienenquote. "Deshalb habe ich diese Gattung so gerne, da muss man nur bei Sonne aktiv sein."
Margariten, Glockenblumen, Lichtnelken und Disteln säumen den Bach, der sich, einst für den Holztransport begradigt, nun wieder schlängeln darf. In einem wegen des hohen Eisengehalts rostroten, stehenden Seitenarm wimmelt es vor Kaulquappen. "Erdkröten und Grasfrösche", vermutet Michael Schreder, Ranger im Nationalpark. Während Rettelbach stattdessen lieber eine grüne Blattwespe in ein Fangglas bugsiert, dürfte das den Schwarzstorch freuen, der - wie Schreder nicht ohne Stolz erzählt - "abends um fünfe hier hereinkommt zum Fischen. Brüten tut er auch, aber wir wissen nicht wo."
Samstag, 14. Juni 2008, Zwieselter Filz, 10.15 Uhr
Es will partout nicht wärmer werden. Die Wolken haben sich über dem Hochmoor wieder zusammengeballt und lassen einzelne Tropfen fallen. "Wir bräuchten Sonne", klagt Käfer-Experte Helmut Fürsch, der angesichts seines leeren Käschers lachend auf die Bibel verweist: "Wie steht in der Bibel: Ich habe den ganzen Tag gefischt und nichts gefangen." Von Frustration keine Spur, im Gegenteil. "Anfang der 1960er Jahre war ich zum ersten Mal da", erinnert sich der 81-Jährige. "Da hat's auch geregnet. So schließt sich der Kreis." Denn nächstes Jahr wird er wohl nicht mehr herkommen, der Aufstieg ist mittlerweile einfach zu beschwerlich.
Die Fläche ist von niedrigen Latschenkiefern überzogen, auf denen Fürsch ungeachtet der widrigen Witterung ein Exemplar von Brumus oblongus zu finden hofft. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen dicken Brummer, sondern einen eher länglichen Käfer, der auf Schildläuse spezialisiert ist. Für Frank Sieber hingegen, der nebenan mit ähnlich wenig Erfolg nach Schmetterlingen sucht, wäre der Fund eines Hochmoorgelblings die Sensation. "Wenn wir da einen sehen würden - das wäre eine Sache."
Samstag, 14. Juni 2008, Kohlschachten, 10.50 Uhr
Moorbläuling, -gelbling und -perlmutterfalter stehen auch bei Rudolf Ritt ganz oben auf der Wunschliste. Der Zahnarzt, der sonst eine Praxis namens "Löwenzahn" führt, wirft sich mit seiner Kamera ins Gras. Er hat einen Brombeerspinner (Macrothylacia rubi) gesichtet, der sich wegen der Kälte widerstandslos ins rechte Licht rücken und fotografieren lässt. "Die Kollegen würden ihn gleich im Ätherglas versenken. Das mache ich nicht. Das ist doch ein hübsches Viech." Nein, er sei nicht so der Schmetterlingsfänger und -töter. "Ich versuche, das mit der Kamera zu dokumentieren." Dass das wissenschaftlich nicht ganz unproblematisch ist, ist ihm durchaus klar. Schließlich sind manche Merkmale auf einem Foto schlichtweg nicht zu sehen. "Aber ich kann das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, die alle umzubringen."
Dieses Problem hat sich für Klaus Burbach heute noch gar nicht gestellt. Auf die Frage, wonach er sucht, antwortet er. "Nach dem Glück." Für ihn bestünde das in fünf verschiedenen Libellenarten. Bisher ist ihm jedoch keine einzige ins Netz gegangen. Nur eine Arktische Smaragdlibelle (Somatochlora arctica) hat er bisher anhand einer abgestreiften Larvenhaut identifiziert und selbst das ist schwierig, weil der Regen der letzten Tage bereits die meisten Häute weggespült hat. Der Experte nimmt es jedoch gelassen: "Man kann's nicht zwingen." In der Früh habe es noch besser ausgesehen, aber in Höhenlagen habe man nun einmal immer das Risiko der schnellen Wolkenbildung. Da kann man nichts machen.
Samstag, 14. Juni 2008, Albrechtschachten, 11.52 Uhr
Endlich einer, dessen Fund-Erfolge nicht vom Wetter abhängen: Wolfgang von Brackel nimmt einen Buchenstamm unter die Lupe, auf dessen Rinde sogar der Laie unterschiedlichste Flechten erkennen kann. Etwas "wahnsinnig Herausragendes" sei bisher zwar nicht dabei gewesen. "Aber die Vielfalt ist toll." Zudem tragen die Flechten wie etwa die Parmelia ernstiae Früchte. Sie sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen, doch unter der beleuchteten Lupe wachsen sie zu bizarren Schönheiten heran, leuchtend gelb mit pelzigem weißem Rand. Die Art als solche ist nicht selten, ihr Fruchtstand dem Experten zufolge schon. Er deute auf gute Luft hin. Am Ruchowitzschachten hat Brackel innerhalb von eineinhalb Stunden 52 Arten entdeckt. "Das ist schon ganz schön ordentlich."
Bei GEO-Bildredakteur Markus Seewald wecken die Heidelbeer-Büsche, die fast die ganze Lichtung bedecken, unterdessen Kindheitserinnerungen: "Ich war als Kind mal im Bayerischen Wald. Da haben wir Blaubeeren gefuttert wie verrückt." Eine Wiederholung ist an diesem Tag jedoch nicht möglich, denn die Beeren sind bisher noch nicht einmal zu sehen.
Samstag, 14. Juni 2008, Ruchowitzschachten, 12.35 Uhr
Auf einer Bank sitzend lassen sich Günther Kleinecke und Johannes Mohr ihre Brotzeit schmecken und genießen den Ausblick auf den Großen Arber. "Wir sind die frustrierten Nachtfalter-Leute", erklärt Mohr und lacht. Nicht einmal einen Fotografen habe man in der vergangenen Nacht angelockt. "Aber wir haben einen schönen Tagfalter gefunden." Mindestens sieben Feuerfalter der Art Chrysophanus hippothoe haben er und sein Kollege in der üppigen Blumenwiese entdeckt, über der das Summen der Hummeln liegt.
Dem Fotografen - nunmehr zur Stelle - wollen sich die Falter allerdings trotz intensiver Suche nicht noch einmal zeigen. Auch zwei aufgeschreckte Bergmolche sind zu schnell im hohen Gras verschwunden, als dass er sie hätte ablichten können. Dafür posiert eine giftgrüne Spinne geduldig auf einem Blatt, entzieht sich aber der genaueren Bestimmung.
Samstag, 14. Juni 2008, Watzlikhain, 13.27 Uhr
Die große Aktion liegt bereits acht Stunden zurück: Experten sind in den frühen Morgenstunden auf die älteste Weißtanne des Waldes geklettert. Sie steht seit etwa 400 Jahren hier, ist 50 Meter hoch und hat auf Brusthöhe des Vermessers einen Durchmesser von mehr als sechs Metern. Weder Hünenhaftigkeit noch ehrwürdiges Alter hielten die Insektenkundler jedoch davon ab, den Baum in 30 Metern Höhe mit einem Betäubungsmittel einzunebeln und geraume Zeit später die Früchte dieser Aktion von den am Waldboden ausgelegten Folien zu sammeln: Spinnen, Käfer, Wanzen und auch der ein oder andere Falter landeten in Schalen und Gläsern und schließlich unter dem Mikroskop.
Nicht genauer bestimmt sind hingegen die Insekten, die Hannes Kautzky gefunden hat. Oder eher sie ihn. Unverdrossen präsentiert der Experte seinen rechten Arm, auf dem zahlreiche rote Punkte leuchten. Nur so viel steht fest: "Die stechen." Und sind sehr wahrscheinlich mit den gemeinen Mücken verwandt. Erfreulicher waren da die Schwanzmeisen (Aegithalos caudatus), "diesen putzigen, kleinen Bällchen mit dem langen Schwanz", die er und seine Kollegin Karin Widerin ebenfalls in dem Waldstück gesehen haben. Im Gegensatz zum Großteil des Bayerischen Waldes wurde das laut Ranger Ludwig Kuchler nie wirtschaftlich genutzt und ist deshalb ein echtes Stück Urwald, in dem die 400-jährige Weißtanne längst nicht der einzige Baum-Greis ist.
Einige Bäume sind umgestürzt und von dichten Moosteppichen überzogen, andere dienen, bereits vermodernd, dem Nachwuchs als Lebensgrundlage. Es ist ein Kreislauf aus Werden und Vergehen, der Tod bringt hier stets neues Leben. Insofern nimmt Ludwig Kuchler auch die Borkenkäfer sehr gelassen, die er unter der Rinde gefällter Fichten am Wegesrand entdeckt. Die Bäume wurden nicht geschlagen, um die alten Bestände zu schützen, sondern um eine Ausbreitung des Borkenkäfers auf die umliegenden Privatwälder zu verhindern.
Samstag, 14. Juni 2008, Haus zur Wildnis, 14.40 Uhr
Heinrich Holzer beugt sich mit einer Lupe über einen Ast, an dessen Ende unscheinbare weiße Punkte zu erkennen sind. In der Vergrößerung zeigen sie sich als pelzige Wuschel mit dünnem Stil - winzige Pilze. "Für große Speisepilze ist noch ein bisschen zu früh, da braucht die Natur noch ein paar Tage Zeit", erklärt er. Allzu bedauerlich ist das für die Pilzexperten jedoch nicht, haben sie doch bereits am Vortag an der Mittelsteighütte eine kleine Sensation entdeckt: den Duftenden Feuerschwamm (Phellinus pouzarii). Auf der Rinde einer rund 300 Jahre alten Tanne verströmt er seinen charakteristischen Rosenduft. Deutschlandweit gibt es ihn nur hier, weltweit an gerade einmal acht Orten wird Claus Bässler, Gruppenverantwortlicher für Pilze, bei der Ergebniskonferenz später erläutern. Der Pilz wächst nur an hochbetagten Tannen, die sich in der so genannten Finalphase befinden, in der sich Holzteile mit dem Finger ablösen lassen.
Kurz kommt Unruhe auf: Das Glühlämpchen in Holzers Mikroskop ist ausgefallen. Doch ein echter Experte ist um Ersatz nicht verlegen und nach wenigen Minuten kann die Bestimmungsarbeit weitergehen. Vor einer jungen Frau steht eine große Schale voller Erdbeeren. Sie wandern jedoch nicht unters Mikroskop, das Insekten vorbehalten ist, sondern in den Mund der Wissenschaftlerin und stammen auch nicht aus dem Bayerischen Wald.
An den Computern werden eifrig die dicht beschriebenen, handschriftlichen Artenlisten eingegeben und zu einem großen Inventur-Katalog zusammengeführt, der rasch wächst. Bei 299 Arten kommt es zu einer kurzen Eingabe-Pause, dann ist die Dreihunderter-Grenze geknackt, der Zähler stockt nur noch gelegentlich und läuft beständig weiter.
Samstag, 14. Juni 2008, Haus zur Wildnis, 17 Uhr
Wo der Zähler schließlich vorläufig stehen geblieben ist, erfahren die Teilnehmer dieses 10. GEO-Tags der Artenvielfalt in der mit Spannung erwarteten Ergebnis-Konferenz im Kino-Saal: bei 1600 Arten. Wichtiger als diese Gesamtarten-Zahl sind aber die Funde im einzelnen: Der sehr seltene Heidelbeer-Kammpilz (Phlebia centrifuga) etwa, der laut Claus Bässler nur noch aus Schutzgebieten bekannt ist, oder der bereits erwähnte Feuerschwamm. Ästhetisch, das räumt er gerne ein, sind einige der gefundenen Baumpilze zwar "nicht der Brüller", wissenschaftlich betrachtet aber durchaus.
Leichter gefallen da die Gefäßpflanzen, die Karl-Heinz Englmeier vorstellt. Er präsentiert unter anderem den Oellgaards Flachbärlapp (Diphasiastrum oellgaardii), der in ganz Europa nur noch an 25 Standorten zu finden ist, darunter allein fünfmal im Bayerischen Wald. Nur hier kommt in Bayern noch der Sumpf-Porst (Rhododendron palustre) vor, die Vielteilige Mondraute (Botrychium multifidum) hat hier ihren letzten vitalen Standort. Das Moos Antitrichia curtipendula, eine deutschlandweit gefährdete Art, legt sich in den Untersuchungsgebieten des Nationalparks als weicher, grüner Teppich über Wurzeln und Stämme. Mit einem Zwischenapplaus honorieren die Zuhörer die erfolgreiche Rückkehr des Habichtskauzes (Strix uralensis), die Jörg Müller bekannt gibt. Ein Raunen geht durch die Reihen, als er den Weißrückenspecht (Dendrocopos leucotos) nennt, der nach drei Jahren heuer nun schon zum zweiten Mal nachgewiesen wurde.
Und dann gibt es noch die ganz persönlichen Höhepunkte: Um exakt fünf Minuten vor 15 Uhr hat GEO-Redakteur Martin Meister nach zehnstündigem Wandern und Klettern in die schwefeligen Augen des Habichtskauzes geblickt. "Ich stand auf 15 Meter vor dem. Es gibt zum Beweis ein Foto!" Der stellvertretende GEO-Chefredakteur Christoph Kucklick will da mit seiner Hochmoor-Spornzikade (Nothodelphax distincta) nicht hinterm Berg halten. Die sei zwar so klein gewesen, dass er kein einziges Merkmal habe erkennen können, steht für ihn aber symbolisch für das, was den GEO-Tag der Artenvielfalt ausmacht: All die Menschen, die sich mit viel Liebe auch dem Kleinsten, Unscheinbarsten und leicht Übersehenem zuwenden und es sichtbar machen. Unbedeutend ist dieser Fund auch aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs: Die Zikade ist ein Kennzeichen für den guten Zustand des Hochmoors.
Samstag, 14. Juni 2008, Haus zur Wildnis, 22.30 Uhr
Die Spannung der letzten Stunden hat sich längst gelöst. In kleinen Grüppchen sitzen die Experten beisammen, fachsimpeln noch ein wenig und lassen die vergangenen beiden Tage Revue passieren. Auch von Tom Müller ist die Anspannung abgefallen: Das zehnjährige Jubiläum, zugleich sein persönliches, ist rundum gelungen. "Ich bin richtig glücklich und zufrieden mit der Veranstaltung", sagt er. Kein Wunder also, dass es bei der abschließenden Feier nun doch noch ein wenig wild wird - zumindest wenn man Landler und Polka so nennen will: Der Projektleiter ist unter den Ersten, die sich nach einem Blitzkurs vom "Niederbayerischen Musikantenstammtisch" zu den bayerischen Volkstänzen verführen lassen: Zweimal links, zweimal rechts, vier Schritte nach vorn, noch einmal zweimal links, zweimal rechts und dann ab durch die Mitte. Artenvielfalt belebt eben ungemein.
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