Studie Artensterben schlimmer als gedacht: Jede fünfte Art in Europa ist vom Aussterben bedroht

Von der Mittelmeer-Mönchsrobbe gibt es geschätzt nur noch zwischen 350 und 450 geschlechtsreife Individuen. Sie ist damit eines der seltensten Säugetiere Europas
Von der Mittelmeer-Mönchsrobbe gibt es geschätzt nur noch zwischen 350 und 450 geschlechtsreife Individuen. Sie ist damit eines der seltensten Säugetiere Europas
© Adobe Stock/anemone
Umfangreicher als zuvor analysiert eine aktuelle Studie, wie es um die Bedrohung Tausender Tiere und Pflanzen steht. Das Ergebnis ist alarmierend: Weltweit sind demnach mehr als doppelt so viele Arten bedroht, wie bislang angenommen

Die Mittelmeer-Mönchsrobbe, der Feldhamster, der Europäische Stör: Sie alle sind akut vom Aussterben bedroht, von der Mönchsrobbe etwa schwimmen Schätzungen zufolge nur noch rund 400 ausgewachsene Tiere durch das Mittelmeer. Doch einer aktuellen Studie zufolge ist das Artensterben noch drastischer als bislang angenommen, sind noch mehr Tiere und Pflanzen betroffen. Rund ein Fünftel der europäischen Tier- und Pflanzenarten in Europa sind vom Aussterben bedroht, schreiben die Autorinnen und Autoren einer im Fachjournal "Plos One" veröffentlichten Studie, für die die Roten Listen der Weltnaturschutzunion (IUCN) ausgewertet wurden.

Demnach sind weltweit fast doppelt so viele Arten vom Aussterben bedroht wie noch 2019 in der globalen Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrats IPBES angenommen. Dieser ging damals davon aus, dass von den weltweit geschätzten acht Millionen Arten rund eine Million bedroht sind. Neuere Daten zu bereits untersuchten Arten und Studien zu bisher nicht berücksichtigten Tieren und Pflanzen zeigen nun aber, dass sogar zwei Millionen Arten bedroht sind.

Das Team um den Biologen Axel Hochkirch vom Nationalmuseum für Naturgeschichte Luxemburg und der Universität Trier analysierte für die aktuelle Bestandsaufnahme alle 14.669 Arten europäischer Wirbeltiere, Wirbellosen, und Pflanzen, die in der Roten Liste der IUCN zu finden sind, deren Bestand also dokumentiert und in unterschiedliche Kategorien wie "ungefährdet", "gefährdet" oder "vom Aussterben bedroht" eingestuft ist. Darunter sind alle Wirbeltiere von den Vögeln über die Fische, Säugetiere, Amphibien und Reptilien sowie funktionell wichtige wirbellose Gruppen wie Bienen, Schmetterlinge und Libellen und etwa zwölf Prozent der bekannten Pflanzenarten.

Das Ergebnis ist erschreckend: Mit 2839 der untersuchten Arten in Europa ist fast ein Fünftel vom Aussterben bedroht. Besonders gefährdet sind die Pflanzen mit 27 Prozent, gefolgt von den Wirbellosen mit 24 Prozent und den Wirbeltierarten, von denen 18 Prozent vom Aussterben bedroht sind. 125 Tier- und Pflanzenarten gelten bereits jetzt als ausgestorben, regional ausgestorben oder möglicherweise ausgestorben.

Ursache für die Bedrohung der biologischen Vielfalt in Europa: Veränderungen in der landwirtschaftlichen Bodennutzung, die zum Verlust von Lebensräumen führen. Aber auch Umweltverschmutzung, Übernutzung biologischer Ressourcen und die Ausdehnung von Siedlungs- und Gewerbegebieten führen dazu, dass Tiere und Pflanzen in Europa immer weniger intakten Lebensraum finden. "Weite Bereiche europäischer Landschaften sind noch immer zunehmenden Landnutzungsintensivierungen ausgesetzt", sagt Carl Beierkuhnlein, Professor für Biogeografie an der Universität Bayreuth, dem Science Media Center. "Landwirtschaftliche Fragmentierung von Lebensräumen, Zusammenlegung von Parzellen zu großen Schlägen, Einsatz von Agrarchemikalien, Entsorgung von Gülle und vielfache Mahd von Grünland pro Jahr verurteilen die Naturschutzbemühungen auf den teils winzigen Restflächen zum Scheitern."

"Vernichten Arten schneller, als wir sie erforschen können"

Die Tatsache, dass das Artensterben in Europa dramatischer ist als bisher angenommen, könnte darauf hindeuten, dass das Problem auch in anderen Teilen der Welt größer ist als gedacht. "Europa ist eine jener Regionen der Erde, für die wir noch die besten Daten haben", sagt Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität an der Uni Hamburg. "Wenn sich hier die Situation schon derart dramatisch darstellt, bedeutet dies, dass sich die Biodiversitätskrise in anderen, weitaus artenreicheren Regionen sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter darstellt – insbesondere in den nach wie vor unzureichend erforschten Tropengebieten, etwa in Asien und Afrika, wo es ein ungebrochenes Bevölkerungswachstum der Menschen als letztlich den Ressourcenverbrauch treibenden Faktor gibt." Dabei gibt es immer noch viele Arten, die wissenschaftlich nicht erfasst sind. "Es sind Arten, die wir schneller vernichten, als wir sie erforschen können", so Glaubrecht.

Die Studienergebnisse stehen im krassen Gegensatz zu den gesetzten Zielen im Artenschutz. Ende letzten Jahres wurde in der Abschlusserklärung der Kunming-Montreal-Konferenz (COP15) das Ziel formuliert, das vom Menschen verursachte Artensterben bis 2030 zu stoppen und bis 2050 die Aussterberate beziehungsweise das Aussterberisiko aller Arten um das Zehnfache zu reduzieren.

Die Forschenden der aktuellen Studie sehen trotzdem auch Grund zur Hoffnung. So könnten Neuansiedlungen von Tierarten und ein besonderer Schutz helfen, die Artenvielfalt zu erhalten. Bei einigen Wirbeltieren zeigen solche Maßnahmen schon Erfolg: Einst gefährdete Arten wie der Seeadler oder der Fischotter breiten sich inzwischen wieder aus.

ftk/smc