Wohlgerüche ziehen uns magisch an. Wenn der Duft von frisch gebackenem, noch knusprig-warmem Brot durch die Straßen weht, ein Hauch von frisch aufgebrühtem Kaffee in unsere Nase dringt oder im Winter die würzigen Noten von Punsch und Glühwein unsere Riechzellen kitzeln, dann regen sich Gelüste – und vielleicht folgen wir dem köstlichen Geruch zu seiner Quelle. Halmfliegen geht es da nicht anders: Auch sie werden vom Duft ihrer Nahrung angezogen. Anstelle von Brot und Kaffee übt auf sie allerdings der Geruch verletzter Ameisen, von deren Körperflüssigkeiten sich die Fliegen ernähren, eine beinah magnetische Anziehungskraft aus.
Genau das macht sich Vincetoxicum nakaianum zunutze, eine in Japan heimische Pflanze aus der Familie der Hundsgiftgewächse. Die vor einem Jahr erstmals beschriebene Pflanze kommt eher unscheinbar daher und hat Probleme, über ihre Optik bestäubende Insekten anzulocken. Deshalb produziert sie mit ihren Blüten einen Duft, der den Geruch imitiert, den verletzte Ameisen nach einem Spinnenangriff absondern, um ihre Artgenossen zu warnen. Denn dieser Geruch lockt vier verschiedene kleptoparasitäre Fliegenarten an – Fliegen also, die anderen Tieren die Beute stehlen oder sich auf das stürzen, was von ihr übrigbleibt. Bis den Fliegen aufgeht, dass auf den duftenden Blüten weit und breit kein Ameisen-Festmahl zu finden ist, haben sie ihren Zweck längst erfüllt und die Blüten bestäubt.

Vincetoxicum nakaianum ist damit die erste bekannte Pflanze, die den Geruch von Ameisen nachahmt, schreibt Ko Mochizuki von der Universität Tokio in einer Studie im Fachmagazin "Current Biology". Das zeige, dass das Spektrum floraler Mimikry vielfältiger ist als bisher angenommen.
Purer Zufall offenbarte den genialen Trick
Die Entdeckung des beinahe unglaublichen Tricks war reiner Zufall: Mochizuki hatte die Pflanze ursprünglich nur als Kontrollpflanze für ein anderes Forschungsprojekt in der Gärtnerei des Koishikawa-Botanischen-Gartens gesammelt. "Durch Zufall bemerkte ich Chloropidae-Fliegen, die sich um ihre Blüten versammelten", sagt der Botaniker in einer Mitteilung der Universität. Mit seinem Wissen um die Fliegenfamilie und andere Studien, die nahelegen, dass Pflanzen Gerüche abgeben, die denen von Insekten ähneln, war ihm sofort klar, dass die Blüten tote Insekten imitieren könnten.
"Der Moment, als ich die Fliegen auf den Blumen sah, war wirklich inspirierend", erinnert sich Mochizuki. "Plötzlich nahm eine Hypothese Gestalt an. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass unerwartete Entdeckungen oft aus einer Kombination von Vorbereitung und Zufall entstehen."
Wie Tiere mit falschen Augen tricksen

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Um seinen Verdacht zu überprüfen, verglich er den von Vincetoxicum nakaianum abgesonderten Duft mit den Gerüchen verschiedener Insektenarten – und entdeckte eine Übereinstimmung mit dem Geruch von Ameisen nach einem Spinnenangriff. Die Chemikalien und flüchtigen Verbindungen, die die Pflanze ausschied, glichen den Pheromonen, die die Ameisen in einem Glas absonderten, nachdem sie von einer Springspinne angegriffen worden waren.
Zahlreiche Amateur-Naturforschende auf Social Media unterstützten Mochizukis Vermutung: Sie hatten beobachtet, dass kleptoparasitäre Fliegen auftauchen, nachdem Ameisen von Spinnen angegriffen worden waren. Anschließend testete der Botaniker seine Hypothese in einem Experiment: In einem Y-förmigen Labyrinth stellte er den Fliegen verschiedene Gerüche zur Auswahl. Und tatsächlich wurden die Fliegen stärker vom Geruch von Ameisen nach einem Spinnenangriff – der dem Geruch von Vincetoxicum nakaianum gleicht – angelockt als von allen anderen Gerüchen.
Möglich, dass die Pflanze mit ihren genialen Nachahmungsfähigkeiten nicht allein ist. Weil viele Arten von Blütenmimikry noch völlig unerforscht sind, möchte Mochizuki nun auch andere Pflanzen untersuchen – und sich dabei ganz von ihrem Duft leiten lassen.