Die Luft wird immer dünner
Im Herzen der Tropen, nicht weit vom Äquator, stolpert Lonnie Thompson über Fraktale aus Eis. Er keucht, hält an, ringt nach Kraft, und schleppt sich dann doch ein Stück weiter durch die Welt aus bizarren Skulpturen, die das Höhenlicht in den Gletscher geätzt hat: gefrorene Krater, Arsenale aus knöchelhohen Speeren und Dolchen, erstarrte Wellen, Paläste im Frost. Sie bersten hohl unter jedem Schritt; darunter fließt Schmelzwasser.
Die Luft wird immer dünner
Blendendes Weiß, hauchdünne Luft. Der Höhenmesser zeigt 5420 Meter. Vom Ziel, dem Gipfel des größten tropischen Eisschilds der Welt, dem "Quelccaya Icecap" im Südosten Perus, ist Lonnie Thompson noch Stunden entfernt. Er schafft kaum mehr als zehn Schritte am Stück. Dann muss er ausruhen und sich auf seinem Wanderstock abstützen. Muss den Kopf zu den Knien hinabbeugen, damit sauerstoffreiches Blut ins Gehirn fließt. Damit er denken kann – an die nächsten zehn Schritte. Hustenanfälle begleiten fast jede Pause; manche hören sich an, als könnten sie ihm eine Rippe zerbrechen, wie vor Jahren schon einmal.
Nicht selten scheint es, als würde er es diesmal nicht schaffen. Als würde er aufgeben, oder eher: zusammenbrechen. Als sei das Gebirge diesmal zu hoch, obgleich er doch schon viel Schlimmeres überstanden hat. Den 7200-Meter-Giganten Dasuopu in China zum Beispiel. Oder die Lawinen und Schneestürme am Gipfel des Huascarán nördlich von Lima. Er sieht alt aus – und ein wenig deplatziert mit seinem breitkrempigen Hut und dem blauen Hemd, wie es andere nur im Büro anziehen würden. Andererseits ist eben dies hier Thompsons Büro. Seine Welt, seine "Sommerresidenz", wie er sagt: ein Schneeberg von 5680 Meter Höhe. Zwei Stunden später erreicht Thompson endlich den Gipfel.
Asthmatiker und Extrembergsteiger
Lonnie Thompson ist 58 Jahre alt, Asthmatiker, herzkrank. Vor 20 Jahren schon haben ihm seine Ärzte gesagt, er solle nie wieder auf einen Berg steigen. Dennoch hat er seither so viel Zeit wie kaum ein anderer in der eisigen Luft der welthöchsten Gebirge verbracht: zusammengerechnet dreieinhalb Jahre in mehr als 5500 Meter Höhe. Lonnie Thompson hat eine Mission. Er sammelt Eisproben von tropischen Gletschern. Aus deren chemischer Zusammensetzung, aus den Gaseinschlüssen, Staubspuren und Schichten im Eis versucht er, Rückschlüsse auf das Erdklima der Vergangenheit zu ziehen - und damit zugleich auch auf jenes der Zukunft.
Geschichte im Bohrkern
Seit 1974 reist der Glaziologe der Ohio State University in den USA dafür rund um die Welt: in die Anden, nach Tibet, zum Kilimandscharo, ins ostafrikanische Ruwenzori-Gebirge. Nur in extremen Höhen ist es hier, in Äquatornähe, noch kalt genug, dass Eisfelder das ganze Jahr über gefroren bleiben. Klimaforscher haben den Wert dieser Gletscher lange missachtet: Die Tropen seien von den erdgeschichtlichen Klimaveränderungen ohnehin kaum betroffen, hieß es. Nur in den Polargebieten zeige sich der Wandel von Temperaturen und Niederschlägen. Außerdem sei es völlig unmöglich, die nötige Ausrüstung für eine wissenschaftliche Bohrung auf so hohe Berge zu transportieren.
Mehrere Tausend Jahre Geschichte in einem Bohrkern
Lonnie Thompson hat zu Beginn der 1980er Jahre erstmals das Gegenteil bewiesen: am Quelccaya-Eisfeld, hier in Peru. Seither gilt er als eine Legende der Klimaforschung. Mehr als 50 Expeditionen hat Thompson inzwischen geleitet. In den Bohrkernen können Thompson und seine Kollegen bis zu mehrere tausend Jahre weit in die Geschichte zurückblicken; sie haben Vulkanausbrüche des Mittelalters darin wiedererkannt, Vegetationsmuster und Niederschlagsmengen, herrschende Windrichtungen sowie den Anteil an Kohlendioxid und Methan in der Atmosphäre längst vergangener Erdzeitalter.
Die Jagd nach solchen Daten ist für die Forscher stets auch ein Wettrennen mit der Zeit. Der weltweite Klimawandel lässt die tropischen Gletscher noch schneller schmelzen als das Eis in den Alpen oder in den Polargebieten. Die Gletscherfelder am Kilimandscharo zum Beispiel sind nach Thompsons Berechnungen im Laufe des 20. Jahrhunderts um 80 Prozent geschrumpft. Im Jahr 2020, so prognostiziert er, wird der "ewige Schnee" über Afrika nur noch eine Erinnerung aus Ernest Hemingways berühmtem Roman sein. Auch die Ausläufer des Quelccaya Icecap haben sich seit Thompsons erstem Besuch 1974 rapide zurückgezogen. Wie weit genau - das ist eine der Fragen, die Thompson diesmal mit seinem siebenköpfigen Expeditionsteam klären will.
Das Eis ist nur noch ein Schimmer am Horizont
Wir haben die Zelte an jenem Punkt aufgeschlagen, an dem vor 32 Jahren die Klippen des Eisfeldes endeten: auf 5170 Meter Höhe, am Rand des Tales, geschützt von Moränenrücken. Das Eis allerdings ist heute nur noch ein Schimmer am Horizont. In den Mulden, über die sich früher die Gletschermassen langsam ins Tal schoben, liegen nun Sümpfe und Schmelzwasserseen. Langsam gewöhnen wir uns an die Bedingungen der dünnen Luft, die nur halb so viel Sauerstoff enthält wie die Atmosphäre auf Meeresniveau.
Tagsüber zerfrisst die Strahlung der Sonne die Haut unserer Wangen, und im Zelt wird es über 30 Grad Celsius warm; abends hingegen fällt die Temperatur schlagartig bis weit unterhalb des Gefrierpunktes. Nach zwei Tagen hat sich das Lager in ein Lazarett verwandelt. Der junge Klimatologe Aaron Buffen glaubt, "seit mindestens drei Tagen nicht mehr durch die Nase geatmet zu haben", weshalb seine Zunge nun über Nacht am Gaumen festgefroren sei. Carsten Peter, der Fotograf, laboriert an einer Knieverletzung, ich plage mich mit einer Bronchitis herum, und Mary Davis, Thompsons beste Dolmetscherin für die subtile Sprache des Eises, wird von solchen Kopfschmerzen gepeinigt, dass sie "nur noch sterben" will.
Die Symptome der Höhenkrankheit
Aber: Die Forscher kennen das. Die meisten von ihnen sind bereits seit Jahren dabei. Auf dem Gipfel des Sajama, dem mit 6520 Metern höchsten Berg Boliviens, haben sie gemeinsam mit Lonnie Thompson tagelang in einer Schneehöhle ausgeharrt und von wenig mehr als Kaffee und Tütensuppen gelebt. Am Kilimandscharo warteten sie über Wochen auf einen Ballon, der die Eisproben nach Nairobi transportieren sollte - und dann doch an der Bürokratie Tansanias hängen blieb. In China haben sie sechs Tonnen Ausrüstung per Hand auf den Gipfel gehievt und die Eisproben anschließend mit Schlitten ins Tal gefahren.
Leben mit den Symptomen der Höhenkrankheit
Sie haben gelernt, mit den Symptomen der Höhenkrankheit zu leben. Haben gesehen, wie Kollegen während der Expedition ihre besten Freunde nicht mehr erkannten, wie in ihren Augen "der Tunnelblick" einsetzte. Und wie sie selbst plötzlich 30 Minuten benötigten, um sich die Schnürsenkel zu binden. Umgekehrt haben einige der Wissenschaftler des Teams, auch Lonnie Thompson, im Himalaya-Gebirge während einer Eisbohrung fast fünf Wochen lang auf einer Höhe von mehr als 7000 Metern gelebt - und bewiesen, dass sich der Mensch selbst in dieser "Todeszone" eine Weile lang akklimatisieren kann.
Mehr noch als gegen alle Strapazen jedoch haben Lonnie Thompson und seine Gefährten gegen die Skepsis ihrer Kollegen ankämpfen müssen. Als der Glaziologe 1974 nach Peru reiste, um die erste Eisprobe eines tropischen Gletschers Quelccaya Icecap zu nehmen, hielten ihn die meisten Klimatologen für verrückt. Für das Abenteuer hatte sein Team ein Budget von lediglich 7000 US-Dollar zusammengebracht - gerade genug, um herauszufinden, wo dieses Eisfeld überhaupt lag, und um per Anhalter, auf einem Lastwagen zwischen toten Alpacas und faulenden Kartoffeln, dort hinzukommen. Mit seiner ersten Analyse konnte er die US-Forschungsorganisation "National Science Foundation" (NSF) davon überzeugen, eine Nachfolge-Expedition zu finanzieren. Ein Hubschrauber sollte am Gipfel landen und einen Eisbohrer absetzen. Aber die Luft war zu dünn, der Hubschrauber taumelte, den Piloten ergriff Panik. Unverrichteter Dinge musste das Team umkehren.
300-jährige Kälteperiode
Seither vertraut Lonnie Thompson auf Pferde, Maultiere oder Yaks. Doch um sie einsetzen zu können, musste ein besonderer, mit Solarzellen betriebenen Eisbohrer entwerfen werden. Im Sommer 1983 kam der Solarbohrer erstmals zum Einsatz: hier am Quelccaya-Eisfeld. Das Ergebnis war überwältigend. Zwei perfekt geschichtete Bohrkerne konnte das Team dem Gletscher entlocken. Das Alter dieser Schichten reichte bis zu 1500 Jahre zurück. Sie bewiesen zum ersten Mal, dass eine 300-jährige Kälteperiode zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, die so genannte "Kleine Eiszeit", auch die südliche Hemisphäre betroffen hatte. Zudem berichteten sie von extremen "El Niño"-Ereignissen. Und von einer 300 Jahre dauernden Epoche der Dürre, die um 950 n. Chr. ausbrach und vermutlich dafür verantwortlich war, dass die Tiahuanacu-Kultur am nahegelegenen Titicacasee trotz ihrer raffinierten Bewässerungstechnik innerhalb von Jahrzehnten aus der Geschichte verschwand.
Revolution in der Klimatologie
In der Fachwelt der Klimatologen lösten diese Erkenntnisse eine Revolution aus. Immer mehr Kollegen unterstützen seither die von Thompson entwickelte Theorie, dass die Tropen eine besondere Rolle im Erdklima spielen. "Der Wasserdampf, der in diesen feuchtheißen Breitengraden entsteht, ist das stärkste Treibhausgas unserer Erde", sagt er. "Die tropische Hitze treibt wie ein Motor das Weltklima an. Zugleich seien die tropischen Breiten zwischen 30 Grad Nord und 30 Grad Süd aber auch am stärksten vom Klimawandel betroffen: "Hier liegen 50 Prozent der Landmassen, hier leben 70 Prozent der Weltbevölkerung. Viele dieser Menschen sind von Trinkwasser abhängig, das aus Gletschern gespeist wird, sie wohnen an Flüssen wie dem Indus und dem Brahmaputra am Fuße des Himalaya oder an den kleineren Strömen hier in den Andentälern."
Heute, im Jahr seiner 27. Expedition zum Quelccaya, ist Thompson ein weltweit respektierter Experte der Gletscherforschung. Vor kurzem wurde er in die amerikanische Akademie der Wissenschaften berufen; er berät den US-Senat und Kongressabgeordnete in der Klimapolitik. 2005 gewann er für seine Arbeit den angesehenen "Tyler Award", eine Art Nobelpreis im Umweltschutz. Aber das zu erreichen, hat Zeit gekostet. Überwindung. Und unendlich viel Kraft. Doch am Sinn seiner Arbeit habe er niemals gezweifelt. Nicht einmal in jener Nacht vor 13 Jahren am Huascarán, als eine Sturmböe sein Zelt davontrug, während er darin schlief, und er es erst wenige Zentimeter vor einem 500-Meter-Abhang zum Stoppen bringen konnte, indem er seinen Eispickel durch den Zeltboden stieß.
Pflanzen als Beweis für den Klimawandel
Ausgelaugt, aber unnachgiebig gegen sich selbst, taumelt Thompson an der Kante des Quelccaya Icecap entlang. Nach ein paar Metern sinkt er auf einen Stein; er mustert die Ränder der zerklüfteten Eiswand, denkt nach. Er sucht nach Pflanzen. Nach Beweisen für einen Klimawandel, der seiner Vorstellung nach vor rund 5200 Jahren die Welt verändert hat. Vor drei Jahren ist Thompson hier am Quelccaya erstmals auf die Spuren dieses Umschwungs gestoßen. An der Eiskante hat er gefriergetrocknete Pflanzen der Spezies Distichia muscoides entdeckt, die der Gletscher auf seinem Rückzug in den vergangenen Jahren freigelegt hat. "Sie waren perfekt erhalten! Der Gletscher muss sie schlagartig in sich eingeschlossen haben."
Anhand von Kohlenstoff-Isotopen haben Thompsons Kollegen die getrockneten Distichia-Blätter tatsächlich auf ein Alter von rund 5200 Jahren datieren können. "Seither kann das Klima hier oben nicht wärmer gewesen sein, als es heute ist", erklärt der Eisforscher, "andernfalls wären die Pflanzen verrottet." Nun sucht Thompson nach anderen Fossilien, die in der Zwischenzeit aus dem immer weiter zurückweichenden Gletscher aufgetaut sind. Aus deren Alter könnte er dann die Geschwindigkeit jenes Klimawandels um 3200 bis 3000 v. Chr. berechnen, von dem er glaubt, dass er die Menschheitsgeschichte entscheidend geprägt hat.
Seit 5000 Jahren war es in Peru nicht mehr so warm wie heute
Lonnie Thompson wird in den Tagen darauf noch einmal zum Gipfel aufbrechen, wird seinen Eisbohrer in das Schneefeld hineinrammen. Er wird 8,20 Meter tief bohren, tief genug, um dann im Universitätslabor seine Daten von 2003 aktualisieren zu können. Und er wird neue Pflanzen finden, die vielleicht seine These bestätigen: dass es in Peru seit mehr als 5000 Jahren nicht mehr so warm war wie heute. "Manchmal fürchte ich, dass ich noch erlebe, wie dieser riesige Eispanzer in sich zusammenfällt", sagt er. "Wenig weist darauf hin, dass wir das noch verhindern können. Wir müssten den Ausstoß an Treibhausgasen weltweit ab sofort um 60 bis 70 Prozent verringern. Andererseits gibt es einen Grund zur Hoffnung: Haben wir Menschen nicht oft gezeigt, dass wir zu scheinbar unmöglichen Anstrengungen in der Lage sind, wenn die Gefahr für unsere Welt nur groß genug ist?" Um dafür zu werben, um von der Gefahr zu berichten und dazu beizutragen, sie womöglich noch abzuwenden, wird Lonnie Thompson weiter auf Berge steigen. Immer wieder, vielleicht bis zum Schluss.