Wie rapide sich die Arktis verändert, macht das Schwinden des Meereises sichtbar. Doch auch an Land sind die Umwälzungen nördlich des Polarkreises, in Nordamerika, Skandinavien und Sibirien, dramatisch. Und ihr Tempo wurde bislang offenbar unterschätzt.
Ein Team des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) hat Satellitenbilder aus dem Nordwesten Alaskas ausgewertet – und kommt in einer aktuellen Studie zu dem Ergebnis: In den Jahren 2017 und 2018 taute so viel Permafrostboden wie nie zuvor seit der letzten Eiszeit vor rund 20.000 Jahren. Und schneller als gedacht: Mit den beobachteten Veränderungen haben Forscher erst zum Ende dieses Jahrhunderts gerechnet.
Konkret haben die Wissenschaftler anhand von Aufnahmen von Erdbeobachtungssatelliten ermittelt, wie viele Schmelzwasser-Seen ausgelaufen sind. Solche Gewässer haben sich nach dem Ende der letzten Eiszeit aus dem Schmelzwasser der zurückweichenden Gletschermassen gebildet. Weil der seit Jahrtausenden, oft Hunderte Meter tief gefrorene Boden nun von der Oberfläche her auftaut, geraten Erdmassen in Bewegung. Uferböschungen werden instabil – und immer mehr der Seen laufen aus. Im Sommer 2018 waren es rund um die Stadt Kotzebue 192 Seen, die komplett oder teilweise ausgelaufen waren. Zehnmal mehr als im Durchschnitt der vergangenen Jahre.
Forscher befürchten Rückkopplungseffekte
Die Gegend ist dünn besiedelt, zu Schäden an Personen oder Gebäuden sei es nicht gekommen, berichten die Wissenschaftler. Doch neben der unerwarteten Geschwindigkeit der Veränderungen beunruhigt die Forscher etwas anderes:
Den Grund der Seen bilden Sedimente aus organischen Überresten. Nach dem Auslaufen der Seen kommen sie mit Luft in Berührung und beginnen zu verrotten. Bei der Zersetzung von Pflanzenmaterial durch Mikroben wird dann genau diejenige Menge Kohlendioxid freigesetzt, die die Pflanzen beim Wachsen aus der Luft gebunden haben. Jahrtausende lang sicher gespeichertes Klimagas gelangt zurück in die Atmosphäre – und treibt so den Klimawandel an, der zu seiner Freisetzung beigetragen hat.
Bis Ende des Jahrhunderts 9 Grad Temperaturanstieg möglich
Die Temperaturen in der Region hätten im Winter 2017/2018 im Schnitt fünf Grad Celsius über dem langjährigen Durchschnitt gelegen, schreiben die Forscher. Damit war die Saison die wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1949. An manchen Tagen sei es sogar bis zu 20 Grad wärmer gewesen als für die Jahreszeit üblich.
Der Seen-Kollaps ist für Ingmar Nitze vom AWI ein Hinweis auf die sich beschleunigenden Veränderungen im Zuge des Klimawandels: „Dieses Auslauf-Ereignis zeigt, welche extremen Ausmaße die Erwärmung in der Arktis in den kommenden Jahrzehnten annehmen wird“, sagt der Erstautor der Studie. „Vor allem aber, dass es solche Extremereignisse nicht erst Ende dieses Jahrhunderts geben wird, sondern schon heute und in den kommenden Jahren.“
Laut einem UNO-Report könnten die Temperaturen in der Arktis bis 2050 gegenüber vorindustriellen Zeiten um drei bis fünf Grad steigen – und zwar selbst dann, wenn die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens eingehalten und die weltweiten Emissionen dramatisch gedrosselt würden. Bis zum Ende des Jahrhunderts halten Forscher sogar einen Anstieg um 9 Grad für möglich.