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Alain de Botton "Im Pessimismus liegt die Kraft"

Pessimismus
© mauritius images / Science Source / GIPhotoStock
Wenn wir ein glückliches Leben führen wollen, sollten wir keinesfalls zu optimistisch sein - so der Schriftsteller und Philosoph Alain de Botton

Ein Freund ruft an. Er ist deprimiert, sein Blick auf die Zukunft: sorgenverhangen, pechschwarz. Wie reagieren wir? Üblicherweise versuchen wir es mit ein paar vermeintlich aufmunternden Floskeln: "Das Jahr hat doch erst angefangen, alles wird gut!“ Oder: "Der Frühling steht vor der Tür!" Oder: "Denk einfach an die schönen Dinge im Leben!"

Mir erscheint das als der hoffnungsloseste Weg, jemanden aufheitern zu wollen. Er führt diesen Menschen nur noch tiefer in die Verzweiflung. Meiner Meinung nach lautet einer der tröstlichsten Sätze: "Alles ist absolut furchtbar." Ich würde diesem Freund also eher mit dem antiken Philosophen Seneca kommen, der sagte: "Welche Notwendigkeit gibt es, über Teile des Lebens zu weinen? Als Ganzes verlangt es nach Tränen."

Oder mit Arthur Schopenhauer, dem Denker des 19. Jahrhunderts: "Es ist heute schlecht und wird nun täglich schlechter – bis das Schlimmste kommt." Oder mit Nicolas Chamford, französischer Moralist, 18. Jahrhundert: "Ein Mann sollte jeden Morgen eine Kröte schlucken, um sichergehen zu können, dass ihm an dem Tag, der vor ihm liegt, nichts Widerlicheres begegnet."

Was nützt uns in den deprimierenden Stunden des Lebens die aufgedrehte Tonlage der Optimisten? Nichts. Im Gegenteil: Die Gedanken der Pessimisten sind es, die uns aufrichten. Diese Aussage mag überraschen, gilt Pessimismus gemeinhin doch als unattraktive Lebensauffassung.

Doch in Wahrheit weisen die Pessimisten den Königsweg zu mehr Gleichmut. Weil sie uns von überzogenen Erwartungen befreien. Von Erwartungen, die zwangsläufig enttäuscht werden.

Der Fluch des Optimismus

Der oben zitierte Philosoph Seneca schrieb ein Buch "Über den Zorn". Er gelangte zu dem Schluss, dass der ganze Ärger und Frust in der Welt aus Optimismus entsteht. Genauer: aus den überzogenen Ansprüchen, die eine optimistische Lebenseinstellung mit sich bringt.

Warum etwa ärgern sich die Menschen in England nicht über verregnete Tage? Weil sie gar nichts anderes erwartet haben. Und warum ärgern wir uns, wenn die Schlüssel schon wieder verschwunden sind oder wenn wir mit dem Auto im Stau stehen? Weil wir seltsamerweise fest an eine Welt glauben, in der Schlüssel sich stets an ihrem Platz befinden und die Straßen verkehrsfrei sind.

Unser Empfinden dafür, was die Norm ist oder sein sollte, erscheint mir extrem verzerrt. Die Krise, auch die politische Krise, die Wirtschaftskrise: Sie ist der Normalzustand, war es schon immer. Dass an Krisen etwas Schlimmes ist, glauben nur Optimisten. Gerade in unseren Tagen, da wir in einer Ära des radikalen Optimismus leben, ist ein Maß an Pessimismus
von unschätzbarem Wert.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert haben die Gesellschaften des Westens sich die bürgerliche, wissensbasierte Weltsicht zu eigen gemacht. Der Glaube an Fortschritt und Segen der Technik verschmolz in ihr mit der Überzeugung, dass jedes menschliche Problem lösbar sei.

Früher war alles schlechter – gut so!

Es ist dies ein vergleichsweise junges Phänomen. Das jüdisch-christliche Weltbild, das uns prägt, wie auch das griechisch-römische Denken der Antike, hat stets die essenziell tragische, zutiefst unzulängliche Natur des Menschen betont. Auch die Weisheit des Buddhismus lehrt uns: Nichts kann perfekt sein. Den größten Teil ihrer Existenz hindurch hat die Menschheit stets mit dem Schlimmsten gerechnet.

Es sind vor allem zwei Fundamente, auf denen innerhalb der bürgerlichen Ideologie die Hoffnungen auf das große Glück ruhen: Erfüllung in der Liebe. Und Erfüllung in der Arbeit. An diesen Verheißungen kämpfen wir uns nun täglich ab. Denn mit der optimistischen Zusicherung, dass ein jeder von uns sich in ihnen verwirklichen könne, ist eine gedankliche Grausamkeit verbunden: Was, wenn nicht?

In der Liebe wie auch in der Arbeit lässt sich ja durchaus Zufriedenheit finden. Nur ist sie meist nicht von Dauer. Sie ist eher die Ausnahme, ein Zustand, kostbar und selten. Wenn aber diese Ausnahmesituation zum Normalzustand verklärt wird, dann erscheint unser Scheitern in ihr als schuldhaftes Versagen. Und nicht als das, was es eigentlich ist: ein Aspekt unseres Daseins.

Der bürgerliche Optimismus nimmt der Katastrophe ihren natürlichen Platz im menschlichen Alltag. Und raubt uns damit die Möglichkeit des kollektiven Trostes angesichts unserer fragilen Ehen, unserer unerfüllten beruflichen Ambitionen. Sie verurteilt das enttäuschte Individuum stattdessen zu Gefühlen einsamer Scham.

Wir leben in einer Welt voll übertriebener Hoffnungen

Sie offenbart sich in der nie abebbenden Flut von Ratgeberbüchern, nach dem Muster "Sorge dich nicht, lebe!" oder "Mache mehr aus deinen Möglichkeiten!" Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern pausenlos die Erkenntnis aufdrängt, sie könnten alles erreichen, wird zwangsläufig zu einer Gesellschaft der Unglücklichen, der Frustrierten, der Neider.

Zu einer Gesellschaft, in der viel zu viele Menschen annehmen, etwas in ihrem Leben laufe dramatisch schief. Und doch glauben die Optimisten fest daran, sie seien ihres Glückes Schmied – und nehmen ihr Versagen folglich sehr persönlich. In Gesellschaften, in denen diese Überzeugung weit verbreitet ist, ist auch die Selbstmordrate hoch.

Ein pessimistischer Blick als Erfolgsrezept

Den Blick skeptisch auf die Probleme zu heften, Scheitern als Möglichkeit von vornherein einzukalkulieren, das ist ein Erfolgsrezept. Etwa bei der Bearbeitung großer wissenschaftlicher Fragen. Jedem ist einsichtig, dass die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ein enorm kompliziertes Vorhaben war.

Und es steht außer Frage, dass die Entwicklung eines alltagstauglichen selbst fahrenden Autos ein monströs schwieriges Unterfangen ist. Doch wir geraten nicht in Panik angesichts solcher Aufgaben. Denn niemand ist so optimistisch zu glauben, sie wären im Handumdrehen zu lösen.

Wir wären besser dran, wenn wir diese eigentlich pessimistische Lebenshaltung, die überzogene Erwartungen und Hoffnungen von vornherein dämpft, in den Alltag übernähmen. Denn viele Beziehungskonflikte resultieren aus einer falschen, einer zu optimistischen Deklarierung scheinbar banaler Probleme.

Wenn wir den Schwierigkeiten des Zusammenlebens mehr Prestige verliehen, wären wir weniger ungeduldig miteinander und weniger nörgelig. Wir würden unserem Gegenüber Mitgefühl und Hochachtung dafür zollen, dass er sich ihnen stellt.Der Pessimist bleibt skeptisch, ob das etwas nützt. Macht nichts.

Denn ihm ist es gegeben, auch die dunklen Stunden auszukosten, die eigene Traurigkeit in vollen Zügen zu genießen. Weil er Momente des Scheiterns nicht als Systemfehler begreift, sondern als bereichernde Facette des Lebens. Wir sollten solche Momente freudig begrüßen. Und eine traurige Musik dazu hören. Ich empfehle "Sad Songs (Say So Much)" von Elton John.

GEO Nr. 02/2017 - Atmen

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