Als Charles Darwin 1859 seine Evolutionstheorie veröffentlichte, prägte er auch den Begriff vom „Kampf ums Dasein“. Jeder Organismus, so spitzte es der Biologe Richard Dawkins in den 1970er Jahren in seinem Buch „Das egoistische Gen“ zu, sei nur eine Art Vehikel, um die eigenen Erbeinheiten zu verbreiten. Doch Homo sapiens – jenes Lebewesen, das die Erde so erfolgreich besiedelt hat wie keine Art zuvor – scheint nicht in dieses Schema zu passen.
Denn nicht allein sein Egoismus oder seine Aggressivität haben es ihm ermöglicht, die Erde von Alaska bis zur Arktis zu bevölkern, sondern vor allem seine Bereitschaft, im Team zu arbeiten. Während es Tieren schwerfällt, etwas abzugeben, ist es für den Homo sapiens selbstverständlich, zu teilen.
Die menschliche Neigung zur Kooperation ist nicht anerzogen, sondern angeboren und von Genen geprägt – das jedenfalls nehmen Forscher an. Schon Kleinkinder versuchen, anderen zu helfen, ohne dazu aufgefordert zu werden. Und gibt man einem einjährigen Kind ein paar Apfelstücke, wird es die meist schon nach kurzer Zeit mit anderen Menschen teilen. Oft gibt es sogar Fremden ab, ohne eine Gegenleistung dafür zu erwarten. Einjährige sind geradezu versessen darauf, zu schenken, zu trösten, Essen zu verteilen oder etwas mit anderen gemeinsam zu tun, wie Psychologen nachgewiesen haben.
Pure Selbstlosigkeit ist das allerdings nicht. Wenn ein Mensch einem anderen hilft, werden Regionen im Gehirn aktiviert, die Belohnungen verarbeiten. Freundlich zu sein macht also zufrieden – selbst dann, wenn es etwa für ein Geschenk keine direkte Gegenleistung gibt: Schon Kleinkinder machen die Erfahrung, dass es sich immer lohnt, anderen zu helfen. Und sie registrieren sehr genau, wer ihnen Essen abgibt oder hilfsbereit ist – und wer nicht. Mit etwa drei Jahren beginnen Kinder dann jene Personen zu bevorzugen, die vorher hilfsbereit waren.
Die Teamarbeit verhindert Nahrungsengpässe
Die Neigung des Menschen, andere zu unterstützen, ist zudem von der Situation abhängig: Jemand, der hungert, wird nicht generös teilen. Vergleicht man aber das Verhalten des Homo sapiens etwa mit dem von Menschenaffen, dann wird deutlich, was beide unterscheidet: Affen geben nur dann etwas ab, wenn ein anderes Tier intensiv bettelt oder sie bedroht (oder wenn ein Männchen von einem Weibchen Sex erhofft).
Menschen dagegen schützen sich durch ihre Kooperationsbereitschaft, etwa vor Nahrungsengpässen. Das lässt sich noch heute an den traditionellen Jäger- und Sammler-Gemeinschaften Südamerikas sehen. Dort gelingt es einem Jäger nur gelegentlich, ein besonders großes Tier zu erbeuten, das dann für kurze Zeit reichlich Kalorien liefert; in der Zeit dazwischen aber wird die Nahrung knapp. Bekäme er von den Fängen der anderen nichts ab, würde seine Familie durchschnittlich an einem von vier Tagen Hunger leiden. Da aber die gesamte Gruppe ihre Beute teilt, tritt dieser Fall kaum je ein.
Könnte der Mensch nicht so gut mit anderen teilen, hätte er wohl auch nie erfolgreich Mammuts gejagt. Denn nur wenn die Beute hinterher gerecht aufgestückelt wird, lohnt sich die Gruppenjagd für jeden. Allein der Mensch ist in der Lage, gemeinschaftlich auf Beutefang zu gehen und dazu Strategien abzustimmen. Dabei hilft ihm seine Fähigkeit zu sprechen, und so entstand die Sprache womöglich nur deshalb, glauben manche Anthropologen, weil sie es den Menschen erleichtert, gemeinsames Handeln zu koordinieren.
Ohne seine Teamfähigkeit hätte der Homo sapiens auch keine Werkzeuge und Waffen erfunden. Denn dazu ist eine weiterentwickelte Form der Zusammenarbeit vonnöten, die unter Tieren unbekannt ist: Der Mensch gibt seine Erfahrungen und Fähigkeiten weiter. Er wird zum Lehrer. So kann er Wissen sammeln und Erfindungen verbessern.
Affen sind zur Kooperation nicht in der Lage
Wenn es aber die Kooperation ist, die den Menschen so erfolgreich gemacht hat, warum arbeiten dann nicht auch seine nächsten Verwandten, die Menschenaffen, enger zusammen? Offenbar sind sie dazu nicht in der Lage. Das zumindest ergaben Experimente von Forschern des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Bei den Versuchen sollten zwei Schimpansen kooperieren, um mithilfe eines Seils eine Portion Obst auf einem Brett zu sich heranzuziehen. Das Seil verlief durch zwei Ösen im Brett, und jeder der Affen musste an einem Ende ziehen, damit sich das Brett zu ihnen hinbewegte und das Seil nicht hinausflutschte.
Technisch waren die Tiere dazu durchaus fähig, doch zur Zusammenarbeit kam es zumeist nicht, weil das rangniedere Tier – zu Recht – ahnte, dass ihm das ranghöhere hinterher nichts abgeben würde. Es war den Affen nicht möglich, gerecht zu teilen. Auch zu anderen Formen der Kooperation, etwa gemeinsam einen schweren Gegenstand zu schleppen, sind Schimpansen unfähig.
Die Erklärung: Den Tieren fehlt die „shared intentionality“, wie Forscher es nennen: die Fähigkeit, zu verstehen, was der andere will, und einen gemeinsamen Plan zu erstellen. Doch nur wer ein gemeinsames Ziel hat, kann auch zusammenarbeiten. Der Homo sapiens ist darauf spezialisiert, zu erkennen, was in den Köpfen anderer vorgeht. Und es interessiert ihn nicht nur, was andere denken – sondern auch, was sie über ihn denken.
Daher ist der Mensch wie kein anderes Lebewesen um sein Image bemüht, um sein Bild in den Augen der anderen. Er möchte zur Gruppe gehören und zumeist der Norm entsprechen – so sehr, dass er sich den Individuen in seiner Umgebung anpasst, auch optisch.
Das konnten Forscher in Versuchen nachweisen, in denen Probanden anhand von Fotos von Menschen mutmaßen sollten, wer mit welchem Partner verheiratet ist. Wurden ihnen die Bilder frisch Vermählter gezeigt, gelang ihnen das mit geringerer Treffsicherheit als mit Fotos derselben Personen nach vielen Ehejahren. Offenbar hatten sich die älteren, schon lange zusammenlebenden optisch einander angeglichen.
Und erfüllt ein Mensch einmal nicht die Erwartungen der anderen, wenn er etwa versehentlich jemanden verletzt, kann er meist darauf vertrauen, dass auch die anderen Einfühlungsvermögen besitzen: Sofern er sich offensichtlich schämt und Reue zeigt, sind die anderen – wie Experimente belegen – geneigt, ihm zu verzeihen.

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Die Empathiefähigkeit – also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – wird durch eine Besonderheit des menschlichen Körpers sogar verbessert: Der sichtbare Teil des Weißen im Auge ist beim Menschen dreimal größer als bei Menschenaffen. Daher kann er viel besser erkennen, wohin sein Gegenüber blickt, und so besser einschätzen, was der andere denkt, fühlt und worauf seine Aufmerksamkeit gerichtet ist.
Zu all diesen Anpassungen muss es im Verlauf der menschlichen Evolution gekommen sein. Doch wie und wann haben sie sich entwickelt?
Möglicherweise war die Nahrungssuche dabei ein wichtiger Faktor. Da die frühen Menschen stark mit Tieren um die gleichen Nahrungsressourcen konkurrieren mussten, haben sich im Laufe der Evolution wohl jene Individuen durchgesetzt, denen es gelang, neue Futterquellen zu erschließen, etwa durch die gemeinsame Jagd. Diejenigen, die teilen und sich gut in andere einfühlen konnten, waren dann im Vorteil.
Vielleicht verbündeten sich auch unsere Vorfahren, um gegen Artgenossen zu kämpfen. Kooperation innerhalb eines Clans war hilfreich, so die Evolutionsbiologen, um sich gegen menschliche Feinde und Konkurrenten durchzusetzen. Allerdings begannen menschliche Populationen erst vor etwa 80 000 Jahren stärker zu wachsen. In der zuvor dünn besiedelten Welt war es dagegen weniger sinnvoll, seine Energie im Kampf gegen benachbarte Gruppen zu verschwenden, als einfach weiterzuziehen.
Mutationen im Erbgut lösten selbstloses Verhalten aus
Darüber, wie sich eine solch intensive Kooperation unter Menschen mit der Vorstellung vom egoistischen Gen vereinbaren lassen, haben Forscher lange nachgedacht. Ihre These: Offenbar gab es im Verlauf der menschlichen Evolution Mutationen in den Erbanlagen, die selbstloses, kooperatives Verhalten auslösten. Und als dies bei mehreren Individuen dazu führte, dass sie zusammenarbeiteten und so als Gruppe ihren Überlebenserfolg steigerten, setzten sich die entsprechenden Mutationen nach der Darwin’schen Regel vom „survival of the fittest“ durch.
Der wahre Grund für das Aufkommen der Kooperation aber, davon ist zumindest die US-Primatenforscherin Sarah Blaffer Hrdy überzeugt, liegt in der Art, wie sich der Mensch um seinen Nachwuchs kümmert. Bislang habe die Forschung etwas Wichtiges übersehen: Fast kein Lebewesen auf der Erde wachse so langsam heran wie ein Menschenkind. Bis zur Geschlechtsreife brauche es rund 13 Millionen Kalorien. Das könne keine Mutter alleine schaffen, so Hrdy.
Verwandte und Gruppenmitglieder müssten also den Frauen unserer Vorfahren geholfen haben, ihre Kinder aufzuziehen. Tatsächlich sind Menschen die einzigen Primaten, die Kinder gemeinsam versorgen. Schimpansenfrauen
dagegen tragen ihre Jungtiere monatelang Tag und Nacht an ihrem Körper. Und der Orang-Utan-Nachwuchs
saugt manchmal noch mit sieben Jahren an der Brust der Affenmutter.
Irgendwann in der Evolution der Gattung Homo – möglicherweise beim Übergang vom Leben im Regenwald zu dem in der offenen, gefährlicheren Savanne – muss es für die Mütter vorteilhaft gewesen sein, andere Mitglieder der Gruppe mehr und mehr in die Versorgung ihrer Kinder einzubinden. Die Mütter erhöhten die Überlebenschancen ihrer Kinder, wenn sie zuließen, dass andere es betreuten, mit ihm spielten und ihm Nahrung beschafften.
Babys sind auf die Zuneigung anderer angewiesen
Die Entwicklung eines Kindes – und das ist noch heute so – hing daher davon ab, wie viele Helfer die Mutter hatte. Ein Baby unserer Ahnen musste also nicht nur die Liebe seiner Mutter auf sich lenken, um zu überleben, sondern auch die Zuneigung anderer.
Und tatsächlich: Versuche haben gezeigt, dass bereits acht Monate alte Säuglinge sich dafür interessieren, was andere über sie denken. Und sich genau merken, wer ihnen hilft und wer nicht. Über einen langen Zeitraum der Evolution hatten diejenigen Babys die besten Überlebenschancen, die es verstanden, die Absichten anderer gut einzuschätzen. So lernten die Kinder unserer Vorfahren, die Stimmungen der anderen Gruppenmitglieder zu beurteilen – schon lange bevor es den anatomisch modernen Menschen gab.
Ohne dieses Einfühlungsvermögen hätte der Homo sapiens nie so viel Teamgeist entwickeln und so erfolgreich werden können.
Und womöglich besäßen wir noch heute ein kleines Affenhirn, hätten unsere Vorfahren nicht irgendwann beschlossen, sich in der Gruppe um ihre Kinder zu kümmern: Denn nur die gemeinsame Aufzucht des Nachwuchses ermöglichte eine so lange Betreuungsphase. Weil die Kopfgröße bei der Geburt durch die Enge des weiblichen Beckens begrenzt ist, braucht ein Menschenkind nach der Geburt eine besonders lange Zeit, um sein Gehirn reifen zu lassen.
Erst durch die ausgedehnte Kindheit konnte das Denkorgan des Homo sapiens daher im Lauf der Evolution dreimal so groß werden wie das der anderen Menschenaffen.
„Wir mussten erst die freundlichsten Affen werden“, sagt Sarah Blaffer Hrdy, „ehe wir eine Chance hatten, auch die klügsten Affen zu sein.“