Blicken wir ab der Lebensmitte auf unsere Biografie zurück, stellen wir fest, dass unsere Erinnerungen nicht gleichmäßig über die Jahre verteilt sind:
- Die frühe Kindheit fehlt im Gedächtnis meist völlig;
- die Jugend steht uns oft am lebhaftesten vor Augen, vor allem die Zeit zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr;
- aus den mittleren Jahren bleibt dagegen in der Regel vergleichsweise wenig im Gedächtnis haften;
- die letzten Jahre vor der Gegenwart sind den meisten Menschen in der zweiten Lebenshälfte noch relativ deutlich präsent.
Diese Verteilung nennen Forscher "Erinnerungskurve", und sie ist charakteristisch für fast alle Menschen. So spiegelt die Tatsache, dass wir alle aus unserer jüngeren Vergangenheit am meisten Erlebnisse vor Augen haben, uns mit größerem zeitlichen Abstand aber an immer weniger erinnern können, den ganz normalen Prozess des Vergessens – einen Vorgang, der ungemein wichtig ist, um unser Gedächtnis nicht mit Ballast zu überfrachten.
Die Jugendjahre sind entscheidend für die Identitätsbildung
Die Häufung von Erinnerungen aus der Zeit des Erwachsenwerdens hebt sich davon jedoch ab: Wissenschaftler nennen sie "Reminiszenzhöcker". Sie lässt sich selbst noch bei Menschen beobachten, deren Vergangenheit immer weiter entschwindet, etwa bei Alzheimerpatienten. Trotz nachlassen der Gedächtniskraft haben auch sie noch am meisten über ihre Jugendjahre zu erzählen.
Wissenschaftler erklären diesen Effekt unter anderem damit, dass wir in dieser Zeit viele Erfahrungen zum ersten Mal machen und sich die besonders tief einprägen. Zudem sind diese Jahre für unsere Identitätsbildung entscheidend: Was wir zwischen dem 15. und dem 25. Geburtstag erleben, bestimmt oft den Kurs unseres gesamten Lebens.
Aus den ersten Lebensjahren bleibt hingegen fast nichts in unserem Gedächtnis haften. Die frühesten Erfahrungen werden vollständig gelöscht. Bis heute sind sich Forscher nicht darüber einig, ob während dieser Zeit gar keine Erinnerungen gespeichert werden oder ob sie zwar entstehen, später aber nicht mehr erreichbar sind.
Möglicherweise ist das Gehirn von Kleinkindern schlicht noch nicht ausgereift genug, um Erinnerungen lange Zeit festzuhalten; vielleicht ist das Denkorgan aber auch erst mit einem gewissen Stand der sprachlichen Entwicklung imstande, dauerhaft Erinnerungen zu bilden.
Kindheitserlebnisse verschmelzen zur "Gesamterinnerung"
Das würde allerdings nicht erklären, wieso sich Dreijährige durchaus an Vorfälle erinnern können, die Monate zurückliegen – und was mit diesen Gedächtnis inhalten später geschieht. Manche Forscher vermuten, dass sich die Welt der Erwachsenen so stark von der kindlichen Wirklichkeit unterscheidet, dass es keine Verbindungen mehr zu Erinnerungsspuren aus dieser Zeit gibt.
Eine weitere mögliche Erklärung könnte sein, dass Kindheitserlebnisse durch ähnliche Erfahrungen immer wieder überschrieben werden, bis sie eine Art "Gesamterinnerung" ergeben. "Ein Kleinkind, das an seinem dritten Geburtstag zum ersten Mal in einen Zoo geht, wird noch einige Zeit eine lebendige Erinnerung daran bewahren", erklärt der niederländische Gedächtnis forscher Douwe Draaisma.
Aber wenn das gleiche Kind ein paar Monate später mit den Großeltern zum zweiten Mal in den Zoo gehe und wiederum später bei einem Schulausflug zum dritten Mal, so Draaisma, würden sich die Erinnerungen an die einzelnen Male zu einer allgemeinen Vorstellung von "in den Zoo gehen" vermengen.
Womöglich können wir aber auch erst dann ein autobiografisches Gedächtnis bilden, wenn wir ein Ich-Bewusstsein entwickeln – also frühestens im Alter von etwa 18 Monaten, so eine neuere Theorie. Unsere Erinnerungen wären somit untrennbar mit der Erkenntnis verbunden, dass wir eine einzigartige Identität besitzen.

Julia Shaw, 1987 in Köln geboren und in Kanada aufgewachsen, ist Rechtspsychologin. Sie lehrt und forscht an der London South Bank University.
Weitere Literaturempfehlung
In ihrem Buch „Das trügerische Gedächtnis“ (Carl Hanser Verlag) beschreibt die Rechtspsychologin Julia Shaw auf anschauliche Weise, wie dem menschlichen Gehirn immer wieder verblüffende Fehler beim Erinnern unterlaufen und weshalb wir uns – zumindest oftmals – nicht exakt auf unser Gedächtnis verlassen können.