"Baby Tooth Survey" Wie Milchzähne die Strahlenbelastung durch Atomtests bewiesen

Kim Garber and Russell Schrier nahmen an der Studie teil und zeigen ihre Zahnlücken
Sie haben ihre Milchzähne an die Wissenschaft gespendet: Kim Garber und Russell Schrier aus St. Louis im US-Bundesstaat Missouri posieren 1962 stolz
© Anonymous / picture alliance
1958 startet in den USA eine beispiellose Spendenaktion: Forschende sammeln 320.000 Milchzähne – und beweisen deren Kontaminierung durch Atomtests. Die Folgen der denkwürdigen Studie

Die beiden Kinder strahlen. Stolz posieren sie vor der Kamera – und zeigen die großen Lücken, die die ausgefallenen Milchzähne im Kiefer hinterlassen haben. Am Shirt des einen Jungen prangt ein Anstecker mit der Aufschrift: "Ich habe meinen Zahn der Wissenschaft gespendet". 

Die Beiden sind bei Weitem nicht die einzigen, die in den 1960er-Jahren im US-Bundesstaat Missouri an einer beispiellosen Spendenaktion teilnehmen: Milchzähne für die Erforschung der Strahlenbelastung durch Atomwaffentests. Forschende wollen herausfinden, wie stark US-amerikanische Kinder der Radioaktivität ausgesetzt sind – und sammeln Zehntausende Milchzähne. Die Ergebnisse des "Baby Tooth Surveys", zu Deutsch "Milchzahnuntersuchung", werden die Öffentlichkeit schockieren – und dazu beitragen, Atomwaffentests einzuschränken.

Radioaktive Partikel in der Kuhmilch

Am 16. Juli 1945 ließ der Physiker Robert Oppenheimer in New Mexico weltweit die erste Kernwaffe zünden. Danach starten die USA mehrere Testreihen, darunter auf dem Bikiniatoll im Pazifik, aber auch im Bundesstaat Nevada. 29 Atombomben detonieren dort allein im Rahmen von "Operation Plumbbob" im Jahr 1957.  

In jener Zeit können Forschende radioaktive Partikel in Kuhmilch nachweisen – vor allem die Region rund um St. Louis in Nevada erklären sie zum radioaktiven Hotspot. Messungen der Luft- und Wasserqualität heizen die Debatte über die gesundheitlichen Folgen der atomaren Tests an: 1958 gründen Forschende und Aktivisten das "Committee for Nuclear Information" (CNI) und starten die Milchzahn-Kampagne.

Robert Oppenheimer lehnt sich an einen Stuhl und hat eine Zigarette in der Hand

Robert Oppenheimer "Nun bin ich der Tod geworden"

Am 16. Juli 1945 wird in New Mexico die erste Atombombe gezündet. Ein Triumph für Robert Oppenheimer – den er schon wenig später zutiefst bereut. Vom Aufstieg und Fall eines brillanten Physikers

Denn: Rückstände der Nukleartests finden ihren Weg auch in den menschlichen Körper – in Form des radioaktiven Isotops Strontium-90, eines radioaktiven Nebenprodukts der Bombentests, das sich über Wasser und Milchprodukte in Knochen und Zähnen ablagert. 

Die Untersuchung, geleitet von der Physikerin Louise Reiss, erregt immense Aufmerksamkeit: "Jedes Kind mit einem wackeligen Milchzahn ist in St. Louis eine wichtige Persönlichkeit", konstatiert das US-Magazin "Newsweek" 1960. In Fernsehspots ruft eine "Zahnfee" Kinder dazu auf, ihre Milchzähne einzuschicken. Wer seine Zähne abgibt, wird offiziell Mitglied des "Operation Tooth Clubs", erhält eine Urkunde und jenen runden Anstecker mit der Aufschrift "Ich habe meinen Zahn der Wissenschaft gespendet". Gut 320.000 Milchzähne sammelt das CNI bis 1970, nicht nur aus Missouri, sondern auch aus anderen Teilen der USA.

Gespendete Babyzähne und eine Spenderkarte
Die gespendeten Zähne werden abgepackt und landen in einem Labor der Uni Washington
©  Image courtesy of Marc Weisskopf, PhD, of Harvard University's T.H. Chan School of Public Health

Forschende untersuchen die Zähne in einem Labor der Universität Washington. Ab 1961 werden die Ergebnisse der Studie nach und nach veröffentlicht – und lösen Entsetzen aus: Milchzähne von Kindern, die 1958 geboren wurden, weisen einen mehr als 30-mal höheren Gehalt an Strontium-90 auf als solche des Jahrgangs 1947. Damit beweist der Baby Tooth Survey: Die Zunahme von oberirdischen Atomwaffentests führt zu höheren Strontium-90-Werten.

Die Studie ist eine Mahnung: vor den Gefahren durch nukleare Tests. Und hat weltweit Konsequenzen: Sie trägt dazu bei, dass US-Präsident John F. Kennedy 1963 einem wegweisenden Abkommen zwischen den USA, der Sowjetunion und Großbritannien zustimmt – und Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser untersagt. Ein Ende der Testexplosionen bedeutet das jedoch nicht: Die USA und andere Staaten führen ihre nuklearen Versuche unterirdisch weiter, die Atommächte Frankreich und China treten dem Vertrag gar nicht erst bei und lassen bis 1974 beziehungsweise 1980 oberirdisch Atombomben explodieren. 1992 führen die USA schließlich ihren letzten Atomtest durch.

Ein kleiner Junge erhält den Button mit der Aufschrift : Ich habe einen Zahn für die Wissenschaft gespendet
"Ich habe meinen Zahn der Wissenschaft gespendet", prangt auf dem runden Button, den die jungen Spender erhalten, hier 1962
© JH / picture alliance

Längst nicht alle der 320.000 gespendeten Milchzähne lässt das CNI auf ihren Strontium-90-Gehalt hin untersuchen. Nach Ende des Projekts 1970 geraten die Testobjekte in Vergessenheit: Erst im Jahr 2001 entdeckt ein Biologie-Professor der Universität Washington in einem Lagerraum zufällig rund 100.000 abgepackte und beschriftete Milchzähne, die noch nicht untersucht waren. 

Wissenschaftlich aussagekräftig sind sie noch immer: Im Rahmen der "St. Louis Baby Tooth – Later Life Health Study” werten Forschende bis heute die Zähne aus und verfolgen das Schicksal von Personen, die an der Kampagne teilgenommen haben. Mittlerweile können Untersuchungen auch die langfristigen gesundheitlichen Risiken der Atomtests belegen. So ergab eine Studie des "Radiation and Public Health Projects" (RPHP), dass Männer, die in den frühen 60er-Jahren in St. Louis aufgewachsen und später an Krebs gestorben waren, in ihren Milchzähnen einen doppelt so hohen Strontium-90-Gehalt hatten als Männer, die noch lebten. 

Zuletzt veröffentlichte die Harvard T. H. Chan School of Public Health im Sommer 2025 eine neue Studie: Danach hatten Menschen, die in den 1940er- bis 1960er-Jahren weniger als einen Kilometer vom Coldwater Creek – einem durch Atombombentests verschmutzten Nebenfluss des Missouri – aufgewachsen waren, ein 44 Prozent höheres Risiko, an Krebs zu erkranken, als diejenigen, die mindestens 20 Kilometer entfernt lebten. Besonders hoch, nämlich um 85 Prozent höher, war bei diesen Menschen sogar das Risiko für strahlenempfindliche Tumore wie Schilddrüsen- oder Brustkrebs.