Landtagswahl 1929 Aufstieg der NSDAP: Wie Hitler Thüringen zu seinem Experimentierfeld machte

Adolf Hitler grüsst seine Soldaten aus einem offenen Auto heraus in Weimar
Weimar 1930: Die thüringische Stadt spielte für Hitler eine große Rolle. Mehrfach trat er hier auf
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In Thüringen sicherten sich die Nationalsozialisten nach der Landtagswahl 1929 zum ersten Mal in Deutschland Ministerposten – und unterwanderte mit einem Ermächtigungsgesetz sogleich die Demokratie. Damit wurde Thüringen zum Probelauf, von dem die NSDAP 1933 nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler profitierte

Am 23. Januar 1930 begann in Weimar Hitlers Testlauf für die Machtübernahme der Nationalsozialisten: Bei den zurückliegenden Landtagswahlen in Thüringen im Dezember 1929 hatte die NSDAP ihren Stimmenanteil auf 11,3 Prozent verdreifacht. Und weil die rechtsbürgerlich-konservativen Parteien nicht mit der SPD koalieren wollen, holten sie nun die Nazis in die Regierung. Zum ersten Mal erhielten NSDAP-Politiker Ministerämter in Deutschland. 

"Bereits zu Beginn der Regierungsbeteiligung hatte Hitler einen Masterplan zum Umbau Thüringens vorbereitet – das Land wurde zum Probefall für den Aufstieg der Nationalsozialisten", sagt der Historiker Prof. Alexander Gallus von der TU Chemnitz. 

"Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei", notierte Hitler Anfang Februar 1930 in einem Brief an einen NSDAP-Unterstützer in den USA. 

Hitler sicherte sich die wichtigsten Ministerien – obwohl die NSDAP nur Juniorpartner war

Hitler schaltete sich persönlich in die Koalitionsverhandlungen mit dem Thüringischen Landbund, der Wirtschaftspartei, der Deutschen Volkspartei und der Deutschnationalen Volkspartei ein. Gezielt sicherte er der NSDAP die zwei in seinen Augen wichtigsten Ministerien: das Innenministerium sowie das Volksbildungsministerium. Dabei handelte es sich um die Häuser, bei denen die Länder am meisten Verfügungsgewalt besaßen.

"Dem Innenministerium untersteht die gesamte Verwaltung, das Personalreferat, also Ein- und Absetzung aller Beamten, sowie die Polizei. Dem Volksbildungsministerium untersteht das gesamte Schulwesen, angefangen von der Volksschule bis zur Universität in Jena sowie das gesamte Theaterwesen", schrieb Hitler. Und weiter: "Wer diese beiden Ministerien besitzt, und rücksichtslos und beharrlich seine Macht in ihnen ausnützt, kann Außerordentliches wirken."

Als zuständigen Minister für gleich beide Häuser setzte Hitler seinen Gefolgsmann Wilhelm Frick durch. Dem promovierten Juristen traute der NSDAP-Vorsitzende besonders viel zu, zudem hatte er beim Hitler-Putsch 1923 seine Loyalität bewiesen, musste anschließend ins Gefängnis. "Dass ausgerechnet ein verurteilter Hochverräter als Innenminister für Recht und Sicherheit sorgen sollte, wirkte befremdlich und sorgte unter den bürgerlichen Kräften auch für Irritation", sagt Gallus. Dennoch stimmten deren Parteien zu – weil Hitler mit Neuwahlen drohte.

Nicht nur die Weltwirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit trugen zum Wahlerfolg der NSDAP bei. "Die Partei blickte in Thüringen auf eine langjährige Tradition zurück. De facto haben Rechtsaußenkräfte in dem Land bereits ab 1924 mitregiert", sagt Gallus. Nach dem Hitler-Putsch war die NSDAP zwar verboten, mehrere frühere Mitglieder traten bei den Landtagswahlen in jenem Jahr jedoch für die Vereinigte Völkische Liste (VVL) an, die die bürgerlich-konservative Koalition schließlich duldete – und noch 1924 die Aufhebung des NSDAP-Verbots in Thüringen bewirkte. Auch Hitlers Redeverbot wurde gekippt. 1926 konnten die Nationalsozialisten ihren ersten reichsweiten Parteitag in Weimar veranstalten. Gallus: "Thüringen wurde zum Sprungbrett der NSDAP." 

Das zeigte sich besonders nach den Wahlen 1930: Kaum an der Landesregierung beteiligt, unterwanderte die NSDAP die Demokratie. Obwohl die Nationalsozialisten von der Mehrheit im Parlament weit entfernt waren, wurde Thüringen ihr Experimentierfeld. "Dr. Frick wird hier mit rücksichtsloser Entschlossenheit eine Nationalisierung einleiten", kündigte Hitler Anfang Februar in dem Brief an den Unterstützter in den USA an. Da war die Landesregierung gerade eine Woche im Amt. 

Hitlers Auftrag: Die "Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten"

Im März setzten die Nationalsozialisten ein erstes Ermächtigungsgesetz in Thüringen durch: Fortan konnte Frick am Parlament vorbei Sozialdemokraten und andere republiktreue Personen aus dem Beamtenapparat wie der Polizei entfernen – und NS-Leute einsetzen. Obwohl nur Juniorpartner, ließen die anderen Koalitionsparteien die NSDAP gewähren. Keinesfalls wollten sie ein Ende des Bündnisses riskieren – davon würden, so ihre Überzeugung, linke Parteien profitieren. "Der Riss zwischen der politischen Rechten und Linken im Land war so groß, dass die Chance eines Arrangements mit der gemäßigten Sozialdemokratie nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde", sagt Gallus.

Fricks zweiter Auftrag von Hitler lautete: "Wir werden in Thüringen nunmehr das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten stellen." So startete der Volksbildungs-Minister einen regelrechten Kulturkampf. An der Uni Jena richtete er einen Lehrstuhl für "Rasseforschung" ein und setzte dort – gegen den Widerstand der Hochschule – den umstrittenen Philologen Hans F. K. Günther ein, bekannt als "Rasse-Günther". Dutzende Kunstwerke, die den Nazis als "entartet" galten, etwa von Wassily Kandinsky und Paul Klee, ließ Frick aus dem Weimarer Schloss entfernen. Erich Maria Remarques Antikriegsroman "Im Westen nichts Neues" wurde als Schullektüre verboten. Stattdessen führte der Minister das Schulgebet wieder ein – in nationalsozialistischer Färbung: "Ich glaube an mein liebes deutsches Volk und Vaterland. / Ich weiß, dass Gottlosigkeit und Vaterlandsverrat unser Volk zerriss und vernichtete", sollten Mädchen und Jungen nun aufsagen. 

Wilhelm Frick in Uniform hält eine Rede
Aufstieg: In den Augen Hitlers hatte sich Wilhelm Frick (l.) in Thüringen bewährt. 1933 ernannte er ihn zum ersten Reichsinnenminister
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Der große öffentliche Aufschrei blieb aus. Nur wenige Zeitgenossen erkannten in der direkten Regierungsbeteiligung der NSDAP eine Zäsur. "Viele verfolgten die Maßnahmen der Nationalsozialisten eher belustigt nach dem Motto: ‚Die Phase wird wieder vorbeigehen‘", sagt Gallus.

Lediglich 14 Monate blieb die NSDAP in Thüringen in der Regierung, bereits 1932 stürzte Frick über einen Misstrauensantrag im Parlament. Doch nicht etwa die quasi-diktatorische Politik führte zum Koalitionsbruch: NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel hatte Vertreter der eigenen Koalition als Gruppe von "trottelhaften Greisen, Verrätern und Betrügern" beschimpft und so gegen die Partei aufgebracht. "Wir kommen wieder, und über Ihre Parteileichname spaziert das deutsche Volk", prophezeite Sauckel. Er sollte Recht behalten: Bei der Neuwahl im Juli 1932 triumphierte die NSDAP mit 42,5 Prozent. 

Die Macht der Worte: Mit Hassbotschaften schürt die NS-Führung gezielt Stimmung in der Bevölkerung, hier 1938 im Rahmen der Besetzung des Sudetengebiets in der Tschechoslowakei

Nazi-Rednerschule Hitlers Hassredner: Die Armee der Propagandisten

Als die NSDAP noch eine nahezu bedeutungslose Splitterpartei war, erfand einer ihrer fanatischsten Anhänger eine neuartige Rednerschule. Dort wurden allein bis 1933 6000 Redner ausgebildet, die Hitlers Hass-Botschaften im ganzen Land verbreiteten

"Auch wenn die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP auf Landesebene vorzeitig endete, gewann die Partei doch wichtige Erkenntnisse", sagt Gallus. Etwa, wie sie mit bürgerlich-konservativen Kräften nicht nur eine Koalition eingehen, sondern diese auch dominieren kann. Oder wie ein Ermächtigungsgesetz das Parlament als Entscheidungs- und Legitimationsinstanz ausschaltet. "Und natürlich hat die NSDAP registriert, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Politik goutieren", sagt Gallus. Während der Regierungsbeteiligung der NSDAP trat Hitler als Redner auf 14 Großveranstaltungen in Thüringen auf, die Mitgliederzahlen der Partei und der SA verdoppelten sich. Schließlich gewann sie bei den Landtagswahlen 1932 im Vergleich zu 1930 gut 30 Prozent hinzu. 

Und so machte Hitler nach seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wohlweislich den Mann zum ersten Reichsinnenminister, der bereits in Thüringen erprobt hatte, wie sich eine Demokratie zerstören lässt: Wilhelm Frick. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Nürnberger Prozessen als einer der Hauptkriegsverbrecher angeklagt und 1946 hingerichtet.