Ende der 1950er-Jahre steht die niederländische Großstadt Utrecht steht vor einem Problem: Wohin mit der steigenden Zahl der Autos? Deshalb beauftragt der Stadtrat den deutschen Verkehrsexperten Max-Erich Feuchtinger, Utrecht autogerecht umzugestalten.
Dessen Vorschlag könnte radikaler nicht sein: den 30 Meter breiten Kanal "Catharijnesingel", der die Altstadt auf dem Gelände des 850 Jahre alten Stadtgrabens umfließt, zuschütten, asphaltieren – und in eine zwölfspurige Stadtautobahn verwandeln. Für die Auf- und Abfahrten sollen auch historische Gebäude weichen.
Die Stadtautobahn war keine zwei Kilometer lang
Der Plan sorgt in der Stadt, aber auch darüber hinaus für so viel Wirbel, dass die niederländische Kultusministerin Marga Klompé einschreitet. Sie erklärt den größten Teil des einstigen Stadtgrabens kurzerhand zum Denkmal und verhindert so, dass der Stadtrat ihn zubauen kann. Die Nordwestseite des Kanalrings aber ist nicht zu retten: 1968 rücken die Bagger an, fünf Jahre später werden an seiner Stelle die Autobahn sowie ein Parkplatz eingeweiht.

Keine zwei Kilometer ist die Verbindung zwischen Altstadt und modernem Zentrum lang, Autofahrerinnen und -fahrer benötigen von der Auffahrt bis zur Abfahrt weniger als eine Minute. Und so fordern bereits in den 70er-Jahren Anwohner, den alten Stadtgraben mit seinem Kanal wieder herzustellen. Jahrelang zieht sich die Diskussion um die umstrittene Fahrbahn hin, 1989 erklärt der Stadtrat tatsächlich, einen Rückbau zu prüfen. Als erster Test wird zwölf Jahre später ein Parkplatz abgetragen und in die Kanalanlage eingegliedert. Kurz danach stimmen die Einwohnerinnen und Einwohner in einem Referendum dafür, die Autobahn komplett zurückzubauen.
Ab 2010 reißen Bagger die Straßen ein, transportieren LKW ungezählte Ladungen Betonschutt und Erde ab. Am Ufer werden die Kaimauern neue gesetzt, Bäume gepflanzt, Radwege angelegt. Schließlich erhält der zurückgebaute Stadtgraben Anschluss an das Kanalnetz und läuft mit Wasser voll. 2015 feiert Utrecht die Wiedereröffnung eines ersten Abschnitts des Kanals, fünf Jahre später gibt die Stadt das zweite und finale Stück frei. Seitdem fahren im alten Stadtgraben statt Autos Boote – und am Ufer Radfahrerinnen und Radfahrer.
Fünf Jahre dauerte es, die Stadtautobahn zu bauen. Zehn Jahre, sie wieder zu beseitigen. Um 40 Jahre lang wurde um sie gerungen.