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DDR Was von Honeckers Träumen blieb

Pfingsttreffen FDJ
Winkende Jugendliche vor der Ehrentribüne beim Pfingsttreffen der FDJ 1989 in Berlin. Paraden wie diese gehören zu den zunehmend erstarrten und sinnentleerten Ritualen der DDR
© mago/Stana
1971 wird Erich Honecker Chef der SED. Ein Spießer und Kleingeist, gehemmt in der Öffentlichkeit und gnadenlos eitel. Ein sozialistischer Fürst, der die Hasenjagd liebt und wie ein kleiner Sonnenkönig Geschenke ans Volk verteilt. Gleichzeitig aber nimmt die Verknöcherung der Diktatur zu, die das Regime taub macht gegen die Umbrüche anderswo. Alltagsszenen aus einem verschwundenen Land zum 25. Todestag Honeckers

Er hat viele Jahre auf diesen Moment gewartet, der schmächtige Parteisoldat, der FDJ-Vorsitzender war, dann inoffizieller Sicherheitschef und Organisator des Mauerbaus, schließlich einer der einflussreichsten Männer im Staat hinter seinem politischen Ziehvater Walter Ulbricht. Brav hat Erich Honecker jahrzehntelang in dessen Schatten gewirkt - und dann den fast 78-jährigen Ulbricht weggeputscht. Über Monate hat Honecker den zunehmend eigensinnigen Alten in Moskau denunziert, im Mai 1971 schließlich musste Ulbricht zurücktreten. Nun, am 15. Juni 1971, hat Honecker als neuer Erster Sekretär des ZK der SED vor mehr als 2000 Delegierten des VIII. Parteitags seinen ersten entscheidenden Auftritt als mächtigster Mann im Staat.

Genosse Erich beginnt seine Ära mit einem Kurswechsel: Die SED werde alles tun "für das Glück des Volkes", verspricht er. Und das bedeute vor allem: die Produktion konsequenter als bisher an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten - also etwa stärker in den Wohnungsbau zu investieren. Zugleich will er großzügige Sozialleistungen vergeben: Mietsubventionen, höheres Kinder- und Krankengeld.

Tatsächlich nimmt der Lebensstandard schon bald zu; bescheiden, aber spürbar. Und so werden sich viele DDR-Bürger an die 1970er Jahre als eine Dekade des Aufbruchs erinnern. Doch zugleich erstarrt das Land immer mehr.

Sommer 1971, Schwedt

Am westlichen Ende der Erdölleitung "Freundschaft" aus Tatarstan steht an der Oder das Petrolchemische Kombinat. Dämpfe und Rauch aus den Schloten verschleiern den Himmel. Hier wird Benzin produziert, Gas, Diesel, Kunstfasern. Doch das genügt jetzt nicht mehr: Die DDR-Betriebe sollen ja künftig mehr Konsumgüter herstellen.

Daher entsteht mitten in der riesigen Anlage ein neues Werk: für Möbel aus Polyurethan, einem Kunststoff auf Erdölbasis. Die Fabrik wie auch die ersten Vorlagen stammen aus der Bundesrepublik.

Die westlichen Tische allerdings sind zu groß für die genormten Wohnungen in den Plattenbauten, und so entwerfen die Schwedter Designer ein eigenes "Vario-pur-Möbel": 90 Zentimeter Durchmesser, eine Mittelsäule und wesentlich teurer als andere Tische. Da sich viele DDR-Bürger die Möbel nicht leisten können, müssen staatliche Gaststätten und Schulen sie kaufen.

1971/72, Dresden

NVA-Major Horst Zimmermann ist 1959 Offizier geworden, mindestens zehn Jahre hatte er zu dienen. Inzwischen aber sollen Offiziere so lange in der Armee bleiben, wie es Partei und Regierung fordern. Doch der Dozent fühlt sich an der Militärakademie "Friedrich Engels" nicht mehr wohl, hat Probleme mit Vorgesetzten, er bittet um seine Entlassung.

Der Mittdreißiger, ein promovierter Diplom-Ingenieur, wird daraufhin als hoch qualifiziert, aber ideologisch schwach eingestuft. Die SED ermittelt gegen ihn. Kollegen geben an, dass Zimmermann sich angeblich abfällig über Vorgesetzte, die Partei und über das "Neue Deutschland" geäußert habe.

Auf einer Parteiversammlung wird er wegen partei- und staatsschädigenden Verhaltens streng gerügt und in die Truppe versetzt, zur Umerziehung. Zimmermann ist künftig stellvertretender Leiter der Eisenbahntransportkommandantur in Schwerin.

Junges Paar auf dem Alexanderplatz
Ein küssendes Paar während einer Politveranstaltung auf dem Alexanderplatz. Unter Honecker werden die Röcke kürzer, die Haare länger, die sozialistischen Moralvorstellungen ein wenig lockerer
© imago/NBL Bildarchiv

12. Februar 1972, Rövershagen bei Rostock

Der 18-jährige Eckhard Ullrich leistet seit dem 1. November 1971 seinen 18-monatigen Wehrdienst in Mecklenburg ab. An eine Freundin schreibt er: "Ich hasse und verfluche alles, was eine solche Armee als sozialistisch tituliert. Ach, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was für bodenlose Schweinereien hier mehr oder minder geduldet werden. Und wehe, man sagt etwas. Man wird dann ganz systematisch fertiggemacht. Ich verspüre es am eigenen Leibe, denn in einem habe ich mich nicht geändert, ich kann den Mund nicht halten.

Ich muss nach Dienstschluss für die Vorgesetzten Geschirr spülen, sonntags Wache stehen, wegen jeder Kleinigkeit mache ich 30 bis 50 Liegestütze oder gehe so lange im Entengang über den Flur, bis die Beine anfangen zu zittern und ich auf die Knie falle. Was glaubst Du, wie oft ich schon den Fahneneid abschreiben musste. Mal muss ich es zehnmal, mal 20 Mal, auch schon einmal 50 Mal abschreiben. Und die Gesellschaft, die solches duldet und bemäntelt, die es zulässt, dass hier die Persönlichkeit zerstört wird, soll mir gestohlen bleiben. Ich will nur noch weg!"

Der angehende Journalist vertraut sich aber nicht nur einer Freundin an, sondern auch Kollegen in der Heimatredaktion. Das kostet ihn seine Zukunft. Er verliert seinen bereits zugesagten Studienplatz für Journalistik.

Schwerin, Winter 1972

Mit seiner Versetzung in den Norden entkommt NVA-Major Horst Zimmermann dem "Tal der Ahnungslosen", jener Gegend im östlichen Sachsen, die kaum Westfernsehen empfangen kann.

Doch die Zentralantenne von Zimmermanns NVA-Wohnblock ist nur auf DDR-Fernsehen ausgerichtet: Armeeangehörigen ist es ebenso wie Polizisten und Feuerwehrleuten verboten, ARD und ZDF zu schauen. Deshalb kann der Major aber auch nicht einfach eine zweite Außenantenne anbringen. Daher bastelt er aus dem Gestell einer Stehlampe eine provisorische Antenne.

Jeden Abend warten die Eheleute, bis ihre vierjährige Tochter Anke schläft. Dann erst bauen sie die Antenne auf. Manchmal allerdings steht das Kind plötzlich wieder im Wohnzimmer, kann nicht einschlafen oder hat Durst. Die beiden Erwachsenen entwickeln großes Geschick darin, Anke in solchen Momenten abzulenken: Auf keinen Fall darf sie Antenne oder Westprogramm sehen, sie könnte das Geheimnis ausplaudern. Dabei basteln auch andere Armeeangehörige ähnliche Konstruktionen wie Zimmermann: Einzelteile sind in der DDR erhältlich - und auch die Anleitungen für den Eigenbau.

Erich Honecker, der früher manchmal zum Kampf gegen Beatmusik und andere "dekadente" Moden aus dem Westen aufgerufen hat, zeigt als Parteichef Nachsicht. Zum Westfernsehen, das unter Ulbricht manchmal noch ins Gefängnis führte, sagt er lapidar: "Das kann jeder bei uns ein- und ausschalten." 1971 verkaufen "Centrum"-Warenhäuser erstmals Levi's-Jeans - die Hosen waren lange Zeit bei den Gralshütern des Regimes als Beinkleider des Klassenfeinds verpönt. Innerhalb von vier Tagen kaufen allein Ostberliner 12 000 Stück.

Doch die DDR hat nicht genug Devisen, um US-Markenjeans zu importieren. Honecker lässt im Westen daher Maschinen kaufen, mit denen sich modische "Nietenhosen" aus Cottino, einem Baumwoll-Mischgewebe, herstellen lassen. Seine Wirtschaftsberater hätten die knappen Devisen lieber für anderes eingesetzt - etwa zur Schuldentilgung. Der SED-Chef aber bleibt stur: Der alternde Funktionär hat sein Herz für die Jugend entdeckt.

Auf einer "Tanzmusikkonferenz" werden im April 1972 sogar lange Zeit unterdrückte westliche Rhythmen rehabilitiert: "Wir verzichten nicht auf Jazz und Beat, nur weil die imperialistische Massenkultur sie zur Manipulierung der ästhetischen Urteilsfähigkeit im Interesse der Profitmaximierung missbraucht", verkündet der stellvertretende Kulturminister. Allerdings: Rock 'n' Roll bleibt den Funktionären suspekt.

Ostberlin, Sommer 1973

Der Zoll hat die Sendung wahrscheinlich auf versteckte D-Mark, westliche Zeitschriften oder Schallplatten kontrolliert. Jetzt steht es auf dem Wohnzimmertisch von Familie Hackbarth: ein großes Paket von der Oma aus Westberlin. Darin für den 14-jährigen Volker ein rotes Hemd mit gelben Stickereien und ein Leinenanzug, die Hose mit Schlag.

Er zieht die neuen Sachen sofort an und läuft los, zum U-Bahnhof Frankfurter Allee. Die Staatsführung hat gerade zu den "Weltfestspielen der Jugend und Studenten" eingeladen, die Stimmung in Ostberlin ist ungewöhnlich offen und international. Überall sind FDJler unterwegs, aus der ganzen DDR sind sie angereist - missliebige und oppositionelle Jugendliche dagegen hat die SED in den Wochen zuvor in Erziehungsheime gesperrt oder unter Hausarrest gestellt.

Stasi-Mitarbeiter mischen sich unter die Besucher: Die Weltfestspiele sind Erich Honeckers Versuch einer "kontrollierten Öffnung" der DDR.

Auf dem Bahnsteig fällt Volkers rotes Hemd zwischen all den blauen der FDJ auf. Seine Haut ist braun von der Arbeit im Tiefbaukombinat. Plötzlich schart sich eine ganze Gruppe um ihn und winkt aufgeregt mit ihren Halstüchern. Nur langsam begreift der Bedrängte: Sie wollen sein Autogramm.

Denn neben Hunderttausenden FDJlern sind auch 25 000 Besucher aus Frankreich, Angola, Kuba in die Stadt eingefallen. Ungestört darf die DDR- Jugend mit ihnen reden, musizieren, nachts in den Parks sogar knutschen.

So nah werden sie Ausländern aus dem Westen und aus Übersee so schnell nicht wieder kommen. Deshalb begeistert Volkers Anblick die Blauhemden so.Sie halten den braun gebrannten Ostberliner für einen Spanier.

1. August 1973

Zwei Jahre nach seiner Entmachtung stirbt Walter Ulbricht. Vereinsamt, überwacht von Ärzten, die dem Polit büro Bericht erstatten mussten über seinen Gesundheitszustand. Als Ehrenvorsitzender der SED, ein extra für ihn geschaffenes Amt. In dem Wissen, dass er selbst diese Position verlieren würde, falls er sich weiterhin politisch äußerte. Trotzdem droht er seinem Ziehsohn ein letztes Mal die Show zu stehlen: Mitten in die Weltfestspiele der Jugend platzt die Nachricht von seinem Tod.

Erich Honecker aber will sich nicht die Stimmung verderben lassen. Für die Eröffnung der Spiele hatte er bereits das Ostberliner Walter-Ulbricht-Stadion in "Stadion der Weltjugend" umbenennen lassen, und konsequent untersagt er jetzt, Fahnen auf Halbmast zu setzen oder mit Trauerflor zu schmücken.

Erst einige Tage nach dem Ende der Spiele wird Ulbricht mit gebührenden Ehren beigesetzt. Passanten beobachten, dass der Leichenwagen schneller als angemessen nach Berlin-Friedrichsfelde fährt - wohl um den am Straßenrand Stehenden keine Zeit für allzu ausgiebige Trauerbezeugungen zu geben.

Junge Schweißerin
Fast alle Frauen sind berufstätig, wie diese junge Schweißerin in Warnemünde, doch in Führungspositionen steigt kaum eine auf
© imago/Harald Lange

7. November 1973, Dresden

Horst Müller, 23, Hobby-Fußballer, hat Glück gehabt. Für acht Mark hat er eine Karte bekommen für das Fußball-Europapokal-Achtelfinale: Dynamo Dresden gegen Bayern München. Das Hinspiel haben die Münchner gewonnen, Dresden braucht einen Sieg, um weiterzukommen. Doch viel mehr als an dem sportlichen Erfolg ist die DDR-Führung daran interessiert, sich den angereisten Athleten, Fans und Journalisten als stabiles, zufriedenes Land zu präsentieren. Keine leichte Aufgabe: Die Sportgemeinschaft Dynamo gilt als Stasi-Klub, sie gehört zur Sportorganisation der Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR.

Damit keine "feindlich-negativen" oder "prowestlichen" Personen mit den falschen Sprechchören in der Stehkurve auffallen, startet der Stasi-Minister Mielke die "Aktion Vorstoß". Dresden wird in acht Sicherungsbereiche eingeteilt, in denen 3110 Mitarbeiter des MfS ihren Dienst antreten. Spitzel setzen sich am Spieltag in 36 ausgesuchte Gaststätten, Wasserwerfer fahren auf, Stadion und Innenstadt werden abgeriegelt.

Nur 8000 der 36 000 Karten gelangen in der DDR in den freien Verkauf, die meisten werden über Betriebe, die SED und die Massenorganisationen verteilt, an politisch zuverlässige Genossen.

Horst Müller hat sich früh auf den Weg gemacht und sichert sich so einen guten Platz im Stadion. Er ist wie die anderen Dynamo-Fans bester Laune: Wann sonst erleben sie schon die Männer um Franz Beckenbauer live? Das Spiel beginnt, früh bringt Uli Hoeneß die Bayern in Führung. Doch nicht alle Zuschauer blicken gebannt aufs Feld: Zahllose Stasi-Spitzel observieren die Zuschauer auf den Rängen.

Das Spiel endet unentschieden, Dynamo scheidet aus dem Pokal aus. Viel mehr aber trifft Horst Müller, was kurz nach dem Abpfiff geschieht: Zum ersten Mal in seinem Leben erlebt er, wie die Staatsmacht auf DDR-Bürger losgeht. Vor dem Stadion, erinnert sich Müller später, wirft der ebenfalls angereiste DFB-Bundestrainer Helmut Schön, ein gebürtiger Dresdener, den Fans etwas zu. Sofort treibt die Polizei eine Gruppe Fans mit Knüppeln auseinander. Horst Müller sieht das Päckchen aufplatzen. Der Inhalt: Anstecker des FC Bayern München.

24. August 1974, Nienhagen

Carmen Rohrbach und ihr Freund Jürgen schieben ein Schlauchboot in die Ostsee. Die beiden sind sportlich und tragen Neoprenanzüge. Sie wollen in dieser Nacht aus der DDR fliehen, nach Dänemark. Der Weg übers Meer scheint ihnen am sichersten. Dort, so hoffen sie, gibt es weder Minen, noch würden Grenzer sie erschießen.

Unter Honecker wird die Grenze technisch immer perfekter, er lässt sie unter anderem verstärkt mit Selbstschussanlagen ausrüsten. Doch weniger als die Hälfte der Flüchtlinge erreichen überhaupt das Sperrgebiet, alle anderen werden bereits vorher aufgegriffen.

Immer wieder versuchen es deshalb Verzweifelte, Mutige oder Erfindungsreiche mit Flugzeugen, Tauchbooten, selbst gebauten Heißluftballons. Carmen Rohrbach will paddeln.

Vergebens hat die 26-jährige Biologin zuvor versucht, legal das Ausland zu sehen. Sie hatte sich unter anderem um eine Forschungsreise nach Kuba beworben, doch wurde ihr die Erlaubnis verweigert, weil sie "Westverwandtschaft" habe.

Und dauerhaft gehen kann sie auch nicht. Denn wer bei den Behörden seine Ausreise beantragt, stellt in den Augen des Regimes ein RWÜ, ein "Rechtswidriges Übersiedlungsersuchen".

Zwei Tage und Nächte lang dauert die Flucht von Carmen Rohrbach und ihrem Freund. Zunächst kämpfen sie sich mit ihrem Schlauchboot voran. Dann taucht plötzlich ein Schiff der Grenzpolizei auf, sucht das Wasser mit Scheinwerfern ab. Die beiden Flüchtlinge zerstören das Gefährt und schwimmen weiter - mehr als 20 Stunden.

Das westdeutsche Handelsschiff "Lübeck" fährt vorbei, ohne sie zu bemerken. Als Carmen und Jürgen sich, bereits in internationalen Gewässern, auf eine Boje gerettet haben, erspäht sie die Besatzung eines polnischen Schiffs - und verrät sie an die DDR-Sicherheitsbehörden. Die Flüchtlinge kommen in Haft und werden nach zwei Jahren vorzeitig in den Westen entlassen.

Wie Handelsware verkauft die DDR über die Jahre Tausende inhaftierte Regimegegner an die Bundesrepublik, gegen Devisen oder Naturalien im Wert von mehreren Milliarden D-Mark - Menschen, die sich nach den Gesetzen der BRD gar nicht schuldig gemacht haben.

Auch Carmen Rohrbach und ihr Freund gehören dazu. Trotz ihrer gescheiterten Flucht hatten sie im Sommer 1974 wohl Glück: Auf einem Friedhof der dänischen Insel Møn liegen die Gräber der aus dem Meer gefischten Körper von DDR-Flüchtlingen.

1974 wird Honeckers Enkel Roberto geboren. Er wohnt mit seinen Eltern in der Leipziger Straße und hat gelegentlich Einfluss auf die Sitzungen des Politbüros. Wenn sich etwa Honeckers Tochter beim Sonntagskaffee darüber beschwert, dass sie nirgendwo Kinderschuhe für Roberto findet, dann verlangt der Parteichef am Dienstag im Politbüro eine Steigerung der Kinderschuh-Produktion.

Doch nicht nur die eigene Familie findet sein Gehör. Auch Eingaben von Werktätigen an den "Werten Genossen Honecker" führen manchmal zum Erfolg. Wie Friedrich der Große einst Bittschriften seiner Untertanen empfing, so erhält auch Honecker während seiner Amtszeit zwei Millionen Briefe. Manchmal kümmert er sich persönlich um ein neues Fabrikdach oder um Bettlaken für eine kinderreiche Familie.

Wie ein sozialistischer Sonnenkönig regiert er die DDR. Erich Honecker fühlt sich für alles zuständig, erlaubt den Druck verbotener Bücher, mischt sich in den Umbau des Radebeuler Karl-May-Museums ein, lässt prominente Westdeutsche einreisen.

Er verteilt Gnade und Strafen nach Gutdünken, bewilligt Ausreisen persönlich, fällt auch Stasi-Chef Erich Mielke in den Arm - schreibt aber etwa auf die schriftliche Bitte eines Schauspielers, in der Bundesrepublik drehen zu dürfen, nur knapp: "Kommt nicht infrage." Sommer 1975, Ostberlin Frank Müller* ist 15 Jahre alt und sieht abgerissen aus. Geflickte Jeans, Parka, lange Haare. Wenn er durch Grünau läuft, starren die Leute. Und das soll so sein. Seine Eltern sind in der SED, er darf kein Westfernsehen sehen. Frank rebelliert, er hört Blues, trifft sich mit Leuten, die ihm von Woodstock erzählen und vom Prager Frühling. Die sich auf einer "Bürgerschreckmission" sehen. Sie wollen nicht den Staat herausfordern - sondern die Langeweile, das Spießertum, das Staatsverständnis von Jugendkultur, die FDJ, die verordnete "Singebewegung" mit den Sozialisten vom "Oktoberklub".

An diesem Sommertag will Frank ein Konzert der Leipziger "Klaus Renft Combo" hören, die lange verboten war. Die Gruppe betritt die Bühne. Sie hat vom jüngsten Tauwetter profitiert, durfte zwei Alben herausbringen, Songs für einen Defa-Film schreiben. Und trägt jetzt "Glitzersachen". Frank ist entsetzt.

Da geht einer der Musiker ans Mikro: "Freunde, die Konzert- und Gastspieldirektion will uns immer Vorschriften machen, wie wir uns zu kleiden haben. Aber wir lassen uns nicht mehr vorschreiben, wie wir die Sachen zu tragen haben." Die Musiker reißen sich die Glitzerkleidung herunter und beginnen unter Jubel zu spielen. Kurz darauf wird "Renft" verboten.

Nationales Jugendfestival im Stadion der Weltjugend in Berlin-Ost
Nationales Jugendfestival im Stadion der Weltjugend in Berlin-Ost
© imago/Sven Simon

Berlin, 10. Dezember 1976

Anne Gollin, 19, ist "Schwarzwohnerin" - eine Hausbesetzerin: Ohne eine Zuweisung der Behörden wohnt sie in einer alten Mietskaserne am Prenzlauer Berg, keine 500 Meter von der Mauer entfernt.

Mehrere Tausend Wohnungen sind in den baufälligen, oft gesperrten Ostberliner Häusern besetzt, auch in anderen Städten der DDR brechen Menschen in leer stehende Räume ein - vielfach vom Staat stillschweigend geduldet. Mitunter müssen sie zwar eine Strafe zahlen, oft bekommen sie aber anschließend einen legalen Mietvertrag. Nur wenige besetzte Wohnungen werden geräumt.

Auf einen Zuweisungsschein des Wohnungsamts müssen junge Paare dagegen mehrere Jahre lang warten. Und Alleinstehende haben erst recht keine Chancen auf das Papier. Aus Wohnungsnot begehen Menschen Suizid, zerbrechen Ehen - oder werden umgekehrt nur geschlossen, um endlich bei den Eltern ausziehen zu können.

Anne ist gelernte Buchhändlerin, will selber schreiben. An diesem Abend hat sie vor, in ihren 20. Geburtstag hineinzufeiern, hat Freunde und Bekannte eingeladen - 100 Gäste erwartet sie. Statt Geschenken sollen sie Kohlen mitbringen, der Berliner Winter ist eisig. Und zusätzliche Kohlenkarten bekommen nur vorbildliche Arbeiter.

Die Riesenparty scheitert an der Stasi, die anreisenden Gäste werden festgenommen. Wahrscheinlich wird Anne schon seit einiger Zeit beobachtet, weil sie Spitzeldienste abgelehnt hat. Und nun vermuten die Geheimpolizisten angesichts der vielen Geburtstagsgäste eine staatsfeindliche Zusammenrottung.

Anne Gollin soll wieder bei ihren Eltern wohnen. Weil sie sich weigert, erhält sie Berlin-Verbot: Sie darf die Stadt nicht mehr betreten - so wie zahllose DDR-Bürger, die in den Augen des SED-Regimes ihr Recht verwirkt haben, in der Kapitale zu leben. Stattdessen muss sie in einer Fabrik bei Dessau Spulen wickeln.

April 1976, ein Waldlager

Am schlimmsten ist die Hindernisstrecke. Sabine Hädicke klettert auf einen Baum, zieht sich in mehr als zwei Meter Höhe über ein Seil, balanciert über ein Rohr, kriecht und springt. Sieben Tage die Woche, fünf Wochen lang: Die Chemiestudentin im zweiten Studienjahr muss mit anderen Kommilitoninnen ins obligatorische Lager der Zivilverteidigung. Die angehende Lehrerin trägt nun Uniform, Stiefel, Koppel und Käppi. Neun Stunden jeden Tag übt sie Exerzieren, muss 50 Sekunden in einem Zelt voller Tränengas aushalten, lernt Marschieren in Schutzanzug und Gasmaske.

Nie zuvor war das Leben in der DDR so militarisiert wie jetzt unter Erich Honecker. Die Wehr-Propaganda beginnt bereits in der Schule, Pioniere halten Manöver ab, im Sportunterricht üben Oberstufenschüler Weitwurf mit Handgranatenattrappen. Abiturienten, die den Dienst an der Waffe verweigern, riskieren ihren Studienplatz.

Sabine Hädicke wird regelmäßig bewertet, wer am Ende nicht 80 von 100 Punkten erreicht, muss das Lager wiederholen oder kann sein Studium nicht abschließen. Eine schwangere Kommilitonin verliert kurz darauf ihr Kind, vermutlich wegen des täglichen Trainings auf der Hindernisstrecke.

18. Mai 1976, Ostberlin

Zum 9. Parteitag der SED sind die U- und S-Bahnen mit kleinen Metallfähnchen geschmückt, Straßen werden für die schwarzen Limousinen der Staatsführung gesperrt. Wie immer gibt es zu diesem besonderen Anlass in den Läden etwas mehr zu kaufen, wer Glück hat, ersteht eine Kilo Apfelsinen.

Die Delegierten versammeln sich erstmals im neu eröffneten Palast der Republik. Auf dem Gelände des preußischen Stadtschlosses ist innerhalb von zwei Jahren das teuerste Bauwerk der DDR-Geschichte entstanden. Auf Zehntausenden Quadratmetern präsentiert sich hier der SED-Staat so, wie sich Erich Honecker das ganze Land erträumt. Es gibt ein Theater, eine Bowlingbahn, eine Diskothek, eine große Bühne, auf der auch westdeutsche Schlagersänger auftreten.

Die Toiletten sind sauber, die Kellner freundlich, das Bier ist günstig. Und noch etwas zeigt im Kleinen den Traum von der DDR im Großen: "Erichs Lampenladen" ist hell ausgeleuchtet - damit die Überwachungskameras alles erfassen können.

Erich Honecker nimmt den Alltag seiner Bürger kaum wahr. Seine Umgebung schottet ihn von der Realität in der DDR ab. Wenn er eine Stadt besucht, verbessert sich das Warenangebot dort für 48 Stunden schlagartig. Wohl nur einmal betritt er in seiner Zeit als Parteichef eine Kaufhalle, die Regale wurden vorher aufgefüllt. Und Honecker glaubt, dies sei der Normalzustand.

Der Diktator ist fast erschütternd naiv. Als er von einem Mann erfährt, der einen Ausreiseantrag gestellt hat, weil er seit 15 Jahren auf ein Auto wartet, fragt er einen seiner Vertrauten, ob denn so etwas wirklich vorkomme. Der beteuert, niemand warte länger als vier Jahre. Und schließlich gebe es auch im Westen Lieferzeiten.

An den Wochenenden fährt Honecker oft in die Schorfheide zur Jagd, ansonsten verbringt er seine Freizeit in der Kader-Siedlung in Wandlitz am Rande Berlins. Hier lebt die SED-Führung in einer als "Wildforschungsgebiet" getarnten Sperrzone. Honecker wohnt in Haus Nr. 11: 250 Quadratmeter Wohnfläche, Herd und Kühlschrank aus dem Westen. Umsorgt von Bademeistern, Chauffeuren, Köchen und Butlern.

Drei Jagdhäuser lässt er unterhalten, mit Schwimmbädern und Schießständen. Späteres Glanzstück seines Fuhrparks ist ein zum Jagdwagen umgebauter grüner Range Rover, mit Stereoanlage, Teppich und Lammfellsitzen, eine mit Leder gepolsterte Auflage für das Gewehr lässt sich elektrisch heben und senken, Honecker muss zum Jagen nicht einmal das Auto verlassen.

Der mächtigste Mann im Staat, der so durchschnittlich ist in vielem und so mittelmäßig, der es bei Propaganda-Terminen liebt, den einfachen Arbeiter darzustellen - er lebt in einem Paralleluniversum.

19. Juli 1976, Montreal

Ganz oben steht Kornelia Ender auf dem olympischen Treppchen. Die 17-jährige Schwimmerin hat geschafft, was bei diesen Spielen keiner Athletin gelingt: Sie wird mit vier Goldmedaillen und einmal Silber heim in die DDR reisen. Wird zum vierten Mal Sportlerin des Jahres - und kurze Zeit später von den Funktionären fallen gelassen, weil sie sich weigert, Anabolika zu schlucken.

Der unglaubliche Erfolg der DDR-Schwimmerinnen hat System (sie gewinnen in Montreal elf von 13 Goldmedaillen). Und einen Preis. 1974 hat das Zentralkomitee das Staatsplanthema 14.25 beschlossen: Die DDR-Athleten sollen fortan mit allen Mitteln an die Weltspitze gebracht werden, auch mit pharmazeutischen wie dem Steroid Oral-Turinabol des VEB Jenapharm. Schon Kinder werden gedopt.

Wohl 10 000 Sportler erhalten im SED-Staat Anabolika und Wachstumshormone - meist ohne ihr Wissen. Die Mädchen im DDR-Sport, oft noch vor oder in der Pubertät, trifft das Doping am härtesten: Ihnen wachsen Bärte, die Menstruation bleibt aus, manche entwickeln später Tumore oder Leberschäden, andere werden unfruchtbar, erleiden Fehlgeburten oder bringen behinderte Kinder zur Welt.

Als ein Journalist in Montreal nach den tiefen Stimmen der DDR-Athletinnen fragt, antwortet ihr Trainer: "Die sind ja nicht zum Singen hier." Berlin, 26. Juli 1977 Der Kaffeepreis auf dem Weltmarkt ist dramatisch gestiegen, das Politbüro beschließt eine neue Mischung für die Tassen des Arbeiter-und-Bauern-Staats: Vom 1. August 1977 an sollen Behörden, Betriebskantinen, Armee und die meisten Gaststätten keinen reinen Bohnenkaffee mehr ausschenken, sondern ein Gebräu, das neben Röstkaffee unter anderem aus Getreide, Zichorien und getrockneten Zuckerrübenschnitzeln besteht.

"Erichs Krönung" tauft das Volk die Mischung. Sie ruiniert die Kaffeemaschinen in den Großküchen und führt zu dem offensten Unmut seit Jahren: Derart viele Eingaben gehen bei Abgeordneten und staatlichen Stellen ein, dass sich das Regime gezwungen sieht, mit allen Mitteln Kaffee herbeizuschaffen. Die Regierung wird unter anderem in Äthiopien fündig - und tauscht dort Waffen gegen Bohnen.

DDR: Maenner in Badehose beugen sich in den Kofferraum eines Trabant
Die Karosserie ist aus Kunststoff, die Technik veraltet - dafür lässt sich der Trabant leicht reparieren
© imago/Frank Sorge

22. Februar 1978, Gotha

Der Diplom-Ökonom Mircea Jereschinski hält im VEB Traktorenwerk den Kontakt zum nahebei stationierten Regiment der Sowjetstreitkräfte. Gemeinsam mit dem Betriebsdirektor ist er zu Gast beim Bankett zur Feier des 60. Jahrestags der Gründung der Roten Armee.

Sie haben dem Regiment Garderoben, Raumteiler und Spiegel aus der Konsumgüterproduktion des VEB zum Geschenk gemacht. Jereschinski hat sich zudem um Einladungen für vier weißhaarige, hochdekorierte Männer, "Helden der Sowjetunion", gekümmert - und damit die Ausreise der Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs aus der UdSSR überhaupt erst möglich gemacht.

Am nächsten Tag, dem offiziellen Gründungstag der Armee, steht Jereschinski auf der Tribüne zur Ehrenparade. Er ist gerührt, als die Veteranen vor der Regimentsfahne niederknien und sie küssen. Dankbar für die Befreiung 1945. Aber er empfindet die Sowjetsoldaten trotzdem als Besatzungsarmee - was er nie öffentlich zugeben dürfte.

Zum Abschied überreicht er den alten Herren ein Erinnerungsalbum und ein Sortiment mit thüringischen Wurstspezialitäten aus dem örtlichen Fleischkombinat. Einer der Helden mit erbärmlich niedriger Sowjetrente schaut sich vorsichtig um; für ihn ist die DDR offenbar ein Konsumparadies.

Dann sagt er leise: "Was haben wir aus unserem Sieg gemacht?" 1978, Ostberlin Auf einem Schulausflug debattieren Maxim Leo, acht, und seine Freunde am Brandenburger Tor, wie man die Mauer am besten überwinden könnte. Mit einem Segelflugzeug? Einem Kranwagen?

Am nächsten Tag soll Maxim in Heimatkunde beantworten, weshalb die Staatsgrenze geschützt werden muss. "Weil sonst alle abhauen und weil drüben Faschisten sind", schreibt er. Dafür bekommt er nur eine Drei.

Die richtige Antwort lautet: "Damit der Frieden gesichert bleibt." Nachmittags trifft Maxim sich manchmal mit ein paar Freunden zu seinem Lieblingsspiel, und das geht so: Drei Kinder stellen sich vor das Klettergerüst, sie sind die Grenzer. Der Vierte muss versuchen, an ihnen vorbeizukommen, sich durch das Gerüst zwängen und schreien: "Westen!" Erst dann hat er gewonnen.

Winter 1978, Grünheide

Die siebenjährige Claudia Rutsch ist in der ersten Klasse. Kein Baby mehr. Und das will sie beweisen: Sie werde, verkündet sie ihrer Mutter, die Großmutter am Abend allein vom Bus abholen. Claudia zieht sich die Ohrenmütze über und geht los in das Dunkel, vorbei an dem Lada, der wie immer vor dem Haus in der Waldsiedlung parkt.

Ihre Mutter ist mit dem Dissidenten Robert Havemann und dessen Frau befreundet; sie hat ihren Mann verlassen und ist mit der Tochter in die Nähe der Havemanns nicht weit von Ostberlin gezogen. Jetzt sind immer diese grauen Männer da, wie Claudia bemerkt, laufen hinterher, wenn sie mit ihrer Mutter spazieren geht, verstecken sich manchmal hinter Bäumen.

Claudia findet das beruhigend: Die Männer geben ja acht auf sie. Doch jetzt ist deren Auto in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen, sie ist ganz allein. Sie weiß nicht, dass ihre Mutter 30 Meter hinter ihr geht, um heimlich auf sie aufzupassen. Und auch nicht, dass sich der Lada in Bewegung gesetzt hat: Die Stasi-Männer vermuten wohl regimefeindliche Aktivitäten.

So ziehen sie also durch die Mark Brandenburg, vorneweg Claudia, die nun singt, um sich Mut zu machen - und zwar das längste Lied, das sie aus der Schule kennt. Eines, das ihr die Mutter zu Hause verboten hat: "Soldaten sind vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt, wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit." Dahinter ihre friedensbewegte Mutter, die dem Kind so oft Wolf Biermanns pazifistische Zeilen "Soldat, Soldat in grauer Norm" vorgespielt hat.

Und dahinter, auf dem Sandboden rumpelnd und hüpfend, der Stasi-Lada: Auf keinen Fall will man die observierte Person aus den Augen verlieren.

Kurz darauf trifft Claudia ihre Großmutter an der Bushaltestelle, stolz auf den eigenen Mut. Sie ahnt nicht, das sie die Bewacher ihrer Mutter gerade außer Gefecht gesetzt hat: Die Stasi steckt in einem Schlagloch fest.

Winter 1979, Ostberlin

Maxim Leos Mutter Annette, 27, promoviert an der Humboldt-Universität über die Geschichte der spanischen Gewerkschaftsbewegung. Eines Tages bestellt sie in der Bibliothek des Instituts für Marxismus-Leninismus ein Buch, erhält es aber nicht - denn dafür brauche sie eine Sondergenehmigung, sagt die Bibliothekarin: Es stehe in der Abteilung für verbotene Werke.

Annettes Professorin besorgt die Genehmigung. An einem Nachmittag steht die Doktorandin zum ersten Mal in dem "Giftraum". Doch statt der Bücher reaktionärer westlicher Schriftsteller, die sie erwartet hat, findet sie Werke der verfemten kommunistischen Theoretiker: Leo Trotzki etwa und Nikolai Bucharin.

Mit der Genehmigung darf sie hier nun jedes Buch bestellen - und beginnt bald, statt der spanischen Gewerkschaftsbewegung die Geschichte eines Mannes zu recherchieren, der in den DDR-Geschichtsbüchern als "rechter Verräter" gilt: ihr eigener Großvater.

Dagobert Lubinski, von den Nationalsozialisten inhaftiert und 1943 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet, ist Ende der 1920er Jahre wegen "parteifeindlicher Fraktionsarbeit" aus der KPD ausgeschlossen worden, arbeitete dann als Mitglied einer kommunistischen Splittergruppe bei einer Zeitung mit dem Titel "Gegen den Strom". Die ist nach Ansicht der SED-Ideologiehüter so toxisch, dass Annette Leo sie nicht einmal im Giftraum zu sehen bekommt.

Sie braucht weitere Monate und Sondergenehmigungen, um an die Jahresbände von "Gegen den Strom" und Zeitschriften der KPD zu gelangen. Und dann lernt Anne Leo von ihrem Großvater, dass es das in der Partei der Arbeiterklasse auch einmal gegeben hat: Opposition und Diskussion.

4. Juli 1980, Ostberlin

Ausländischer Besuch im Haus des Zentralkomitees am Werderschen Markt: Der Verleger Robert Maxwell ist aus London angereist. Mehrere Stunden lang befragt er den Staatsratsvorsitzenden zu Innen- und Außenpolitik.

"Erich Honecker", titelt am nächsten Tag das "Neue Deutschland", "antwortet auf aktuelle politische Fragen". Da fallen so erstaunliche Sätze wie "Die DDR befindet sich unter den zehn stärksten Industrienationen der Erde" und "Immerhin reisen jetzt schon jährlich 1,5 Millionen Bürger ins westliche Ausland".

Das Interview ist Teil von Honeckers Autobiografie "Aus meinem Leben". Das Buch erscheint in mehreren Sprachen in der Reihe "Leaders of the World". Nach fast zehn Jahren an der Spitze der Partei und des Staates arbeitet Erich Honecker bereits an seinem Nachruhm. Mit Erfolg: Im Westen hat er eine erstaunlich gute Presse.

Bald wird der Sozialist auf Staatsbesuch zu gekrönten Häuptern reisen, wird den Bundeskanzler im Jagdschloss Hubertusstock empfangen, wird sich sonnen in der neuen Anerkennung. Und dabei ein Bild der DDR pflegen, das wenig gemein hat mit der Wirklichkeit: "Nie zuvor in der deutschen Geschichte hat es einen Staat gegeben, in dem das Volk so frei atmen kann", schreibt er in seiner Autobiografie. "Besonders augenscheinlich erwies sich das in den 70er Jahren, dem bisher erfolgreichsten Abschnitt in der Geschichte der DDR."

GEO EPOCHE Nr. 64 - 12/13 - Die DDR

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