Am 1. Juli 1976 hat die junge Frau den Kampf gegen Satan verloren. Früh am Morgen liegt Anneliese Michel im elterlichen Haus im unterfränkischen Klingenberg leblos in ihrem Bett. 67 Exorzismen hatten Geistliche über Monate hinweg an ihr vorgenommen. Vergeblich.
Am Ende konnten die Gottesmänner die 23-Jährige, die sie für "besessen" hielten, nicht retten. Oder haben sie mit ihren Teufelsaustreibungen den Zustand der Frau sogar weiter verschlechtert?
Ärzte diagnostizieren bei Anneliese Michel Epilepsie
Fest steht: Der Exorzismus der Anneliese Michel löste einen Aufschrei aus. "In Deutschland ist der Teufel los" titelte eine Zeitung, "Tod bei Teufelsaustreibung" vermeldete eine andere. Kommentatoren brandmarkten die römisch-katholische Kirche als "mittelalterlich", der anschließende "Exorzismus-Prozess" sorgte weltweit für Aufsehen, der "Fall Anneliese Michel" lieferte Stoff für Dokus und Spielfilme. Wie nur konnte es zum Tod der jungen Frau kommen? Warum haben die Geistlichen die Prozedur nicht abgebrochen? Und warum griffen die Eltern nicht ein?
Anneliese Michel wird 1952 in eine konservative, tief religiöse Familie hineingeboren. Regelmäßig pilgern die Eltern mit ihren drei Mädchen nach San Damiano, einem norditalienischen Wallfahrtsort, wo angeblich die Gottesmutter erscheinen soll.
Mit 16 erleidet Anneliese nachts erste Krampfanfälle – der Beginn eines langen Leidenswegs. Ärzte diagnostizieren Epilepsie, ein Befund, den jedoch weder die Jugendliche noch ihre Eltern anerkennen. Einem Arzt sagt Anneliese, sie "sehe öfter Fratzen. Der Teufel ist in mir, alles ist leer in mir". Und so sucht sie ihr Heil nicht in der Medizin, sondern im Glauben.
Während des Abiturs, als Anneliese sich von ihren Eltern unter Druck gesetzt fühlt und unter Versagensängsten leidet, nehmen die Anfälle zu. Sie hört Klopfgeräusche im Schrank und unter dem Fußboden. Auf der Wallfahrt in San Damiano will die Veranstalterin merkwürdiges Verhalten bemerkt haben: So habe Anneliese "große Abneigung gegen alle der Religionsverehrung dienenden Gegenstände" gezeigt, sich geweigert, aus einer heiligen Quelle zu trinken, und starken Brand- und Fäkaliengeruch ausgeströmt.
Der Würzburger Bischof ordnet den Großen Exorzismus an
Annelieses Familie schaltet den Pfarrer Ernst Alt ein. Er ist bald davon überzeugt, dass die junge Frau "besessen" sein müsse, und bittet den zuständigen Würzburger Bischof um die Erlaubnis für einen Exorzismus. Der lehnt jedoch zunächst ab.
Ende 1973 zieht Anneliese Michel von Klingenberg nach Würzburg, studiert Pädagogik, will Grundschullehrerin werden. Ärzten gegenüber klagt sie über Niedergeschlagenheit, Apathie und Schlaflosigkeit. Freundinnen berichten, Michel zerreiße Rosenkränze, zerschlage Flaschen mit Weihwasser und fühle sich außer Stande, Kirchen zu betreten. 1975 verschlechtert sich ihr Zustand: Sie wälzt sich nackt im Kohlenkeller, leckt ihren eigenen Urin auf, sammelt Insekten und isst sie.
Ihre Familie alarmiert den Jesuitenpater und Exorzisten Adolf Rodewyk, der einen "dämonischen Zwang" bei Anneliese Michel feststellt. An den Würzburger Bischof schreibt er: "A. ist besessen und zwar ist der Hauptteufel ein Judas. Hinter dieser Formulierung steht noch der Gedanke, dass noch andere Teufel, Nebenteufel, da sein könnten."
Tatsächlich genehmigt der Bischof jetzt den sogenannten Großen Exorzismus, dessen Regeln auf das Rituale Romanum von 1614 zurückgehen: Es handelt sich um ein "an Gott gerichtetes, imperatives Gebet, mittels dessen ein vom Bösen bedrängter Mensch durch Jesu Erlösungstat von dieser Bedrängnis befreit werden möge", beschreibt die Historikerin Petra Ney-Hellmuth in ihrem Buch "Der Fall Anneliese Michel".
Gottesmänner nehmen die Teufelsaustreibung vor
Im September 1975 übernimmt Pater Arnold Renz im Haus der Michels die Teufelsaustreibung. Die Sitzungen nehmen er und Pfarrer Alt auf Tonband auf. Insgesamt, so sagen sie später aus, hätten sechs Dämonen mit Namen wie Luzifer, Judas, Nero oder Hitler sich dazu bekannt, von Anneliese Michel Besitz ergriffen zu haben. Mit Formeln versuchen die Geistlichen, die Dämonen zu vertreiben: "Ich beschwöre dich, alte Schlange, bei dem Richter über die Lebendigen und Toten, bei deinem Schöpfer, welcher die Macht hat, dich in die Hölle zu schicken: Weiche von diesem Diener Gottes."
Trotz der Anfälle setzt Michel ihr Studium fort. Wie es ihr wirklich geht, scheint außerhalb ihres engsten Freundes- und Familienkreises niemand zu bemerken, auch in ihrem Wohnheim nicht. Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten weiß, dass sie sich Exorzismen unterzieht.
Im Mai 1976 verschlechtert sich Michels Zustand so sehr, dass sie dauerhaft zurück ins elterliche Haus nach Klingenberg zieht. Sie hört Stimmen, die ihr befehlen, um sich zu schlagen, zu beißen, zu kratzen, sich selbst zu verletzen, auf allen vieren durchs Zimmer zu kriechen, die Nahrungsaufnahme zu verweigern und täglich 500 bis 600 Kniebeugen zu machen. Obwohl sie bis auf die Knochen abmagert, holt niemand einen Arzt.
Im Elternhaus isoliert, führt Pater Renz am 30. Juni einen letzten Exorzismus an der jungen Frau durch, einen Tag später findet ihre Mutter sie tot auf. Sie wog nur noch 31 Kilogramm. Anneliese Michel starb an Unterernährung, nicht an "Besessenheit".
Dennoch glauben ihre Eltern, richtig gehandelt zu haben, sagen später aus, sie würden es in einer vergleichbaren Situation wieder genauso tun. "Unser Herrgott und die Mutter Gottes hielten die Fäden in der Hand", erklärt Michels Vater bei der Vernehmung. "Ich bin mit meiner ganzen Familie überzeugt, dass Anneliese und wir selbst ausersehen sind, zu sühnen für eine Vielzahl anderer."
Dagegen sagt ein Gutachter vor Gericht, Anneliese Michel habe "durch ihr soziales Umfeld und die Durchführung des Exorzismus eine Bestätigung ihrer Wahnvorstellungen" erhalten, "was wiederum ihren Geisteszustand verschlechterte." Eine ärztliche Behandlung hätte ihren Tod verhindern können. 1978 werden Michels Eltern, Pfarrer Alt und Pater Renz wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung zu einer dreijährigen Haft auf Bewährung verurteilt.
Die Reform der Teufelsaustreibung
Durch den Tod Anneliese Michels geraten Teufelsaustreibungen in Verruf. "Dieses Ereignis hat so etwas wie eine Kopernikanische Wende in der langen Geschichte des Exorzismus in der Katholischen Kirche herbeigeführt und gleichzeitig eine Wissenschaftsdebatte um den Sinn und Unsinn dieses Rituals ausgelöst", schreibt die Theologin Monika Scala in ihrem Buch "Der Exorzismus in der Katholischen Kirche".
Eine 1979 von der deutschen Bischofskonferenz eingesetzte Kommission schlägt vor, den Großen Exorzismus zu ersetzen – durch eine "Liturgie zur Befreiung des Bösen". Aus dem Ritual verschwinden sollten, so die Forderung, vor allem die Befehle an den Teufel in direkter Rede.
Erst 1999 gibt der Vatikan tatsächlich überarbeitete Regularien bekannt: Danach soll an dem Begriff "Exorzismus" festgehalten werden, ansonsten aber wird die Teufelsaustreibung entschärft: Die direkte Anrede des Dämons ist nunmehr rein optional, stattdessen sollen Bittgebete das Ritual bestimmen. Zudem ist eine medizinische und psychologische Betreuung vorgesehen. Seit 2005 bietet die päpstliche Hochschule Athenaeum Regina Apostolorum Exorzismus-Kurse an, die Priester und Theologen besser auf Austreibungen vorbereiten sollen. Dabei geht es nicht nur um theologische und liturgische Aspekte, sondern auch um psychologische, neurologische und rechtliche Blickwinkel auf Exorzismen.
In Deutschland hat die römisch-katholische Kirche seit dem Tod von Anneliese Michel offiziell zwar keine Teufelsaustreibungen mehr genehmigt, international aber finden sie weiter statt: Der vom Vatikan anerkannten Internationalen Vereinigung der Exorzisten (AEI) gehören rund 900 Exorzisten und Hilfsexorzisten an, die meisten in Italien, den USA und Mexiko.