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Sensationsgier Geiseldrama von Gladbeck: Der "Sündenfall des Journalismus" und seine Folgen

Nach ihrem Banküberfall kapern die beiden Geiselnehmer in Bremen einen Linienbus und nehmen die Fahrgäste als Geisel
Nach ihrem Banküberfall kapern die beiden Geiselnehmer in Bremen einen Linienbus und nehmen die Fahrgäste als Geisel
© picture-alliance / dpa | DB Ingo Wagner
Am 16. August 1988 flüchten zwei Bankräuber mit Geiseln und lassen sich dabei live von Journalisten interviewen: Das Drama von Gladbeck ging als beispielloses Medienspektakel in die Geschichte ein. Der Ethiker Christian Schicha erklärt, was die Presse aus dem Fall gelernt hat

GEOplus: Bei der Geiselnahme von Gladbeck 1988 haben zwei Männer eine Bank ausgeraubt, Geiseln genommen und sind zweieinhalb Tage lang durch das Land geflüchtet. Erst 2022 sorgte eine neue Netflix-Doku über das Drama für Aufsehen. Warum lässt uns dieser Fall nicht los?

Prof. Christian Schicha: Ich denke, weil man in Echtzeit ein schreckliches Drama, Fehler der Polizei und vor allem den Sündenfall des Journalismus mitverfolgen kann. Sogar jetzt, mehr als 30 Jahre später, kann man nur fassungslos vor dem Bildschirm sitzen.

Worin bestand dieser Sündenfall genau? Dass sich Journalisten während eines Tatvorgangs aktiv eingeschaltet haben?

Eingeschaltet haben ist noch untertrieben. Der stellvertretende Chefredakteur des "Kölner Express" hat sich in Köln in das Fluchtauto zu den Geiselnehmern gesetzt und sie aus der Stadt gelotst! An anderer Stelle können wir mitverfolgen, wie eine ganze Meute von Journalisten einen der bewaffneten Geiselnehmer für Interviews umringt, während gleichzeitig Geiseln in Lebensgefahr schweben. Dadurch war ein Zugriff durch die Polizei nicht möglich. Das war eine völlig neue Dimension von "Berichterstattung", denn im Prinzip haben die Journalisten die Geiselnehmer unterstützt.

Christian Schicha ist Professor für Medienethik und lehrt an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
Christian Schicha ist Professor für Medienethik und lehrt an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg
© FAU/Georg Pöhlein

Und mit den Interviews eine Bühne geboten.

Das kommt noch dazu. In Bremen gab es diese bekannte Szene, in der Journalisten einen der Geiselnehmer befragen, während dieser mit seiner Waffe herumfuchtelte, sie in seinen Mund steckte und kurz darauf vor laufenden Kameras seine Motive erklärte. Die Journalisten haben dem Geiselnehmer die Möglichkeit geboten, sich zu inszenieren.

Warum ist die Berichterstattung überhaupt so aus dem Ruder gelaufen?

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