Neurowissenschaft Rätselhafte Phantomschmerzen: Was im Hirn passiert und was hilft

Bei Phantomschmerzen bleibt das Echo eines Körperteils, der längst fehlt
Wenn Erinnerung quält: Bei Phantomschmerzen bleibt das Echo eines Körperteils, der längst fehlt
© Curly_photo / Getty Images
Phantomschmerzen sind wie Schatten des Körpers: Sie lassen Glieder, die längst verloren sind, brennen, pochen, stechen. Woher rühren die seltsamen Empfindungen?

Es ist ein Paradox, das Betroffene wie Forschende seit Jahrhunderten irritiert: Da treten Schmerzen in einem Körperteil auf, den es gar nicht mehr gibt. Wer einen Arm oder ein Bein verloren hat, kann nicht selten dennoch spüren, wie die Hand brennt, der Fuß pocht, wie Stiche durch das Nichts zucken, wie es juckt und kneift. Diese Phantomschmerzen zählen zu den merkwürdigsten Phänomenen der Medizin – und geben überraschende Einblicke in unser Nervensystem. 

Sie zeigen, wie das Gehirn unseren Körper kartiert, wie es uns die verschiedenen Regionen bewusst empfinden lässt. Und wie diese innere Landkarte auch dann weiterwirkt, wenn der gewohnte Zustrom von Nervenreizen fehlt. Ausgerechnet die Abwesenheit kann so zur Quelle sehr realer Schmerzen werden. Und zu einem jener Schlüssel, die zu verstehen helfen, wie sich Schmerzen überhaupt im Nervensystem ausbilden.

Phantomschmerzen treten ausschließlich nach dem Verlust eines Körperteils auf – meist nach einer Amputation infolge von Unfällen, Durchblutungsstörungen oder Tumorerkrankungen. In diesen Fällen sind sie keine seltene Ausnahme: Bis zu 80 Prozent aller Amputierten leiden unter Phantomschmerzen, oft in Form brennender, stechender oder bohrender Attacken, die das Leben massiv beeinträchtigen können.

Früher tat man Phantomschmerzen als bloße Einbildung ab

Doch nicht jede Empfindung nach einer Amputation gehört in diese Kategorie. Viele Betroffene nehmen das fehlende Glied noch wahr – als wäre es weiterhin vorhanden, beweglich oder in einer bestimmten Haltung fixiert. Solche Phantomempfindungen sind verblüffend, aber harmlos. Anders der sogenannte Stumpfschmerz, der am verbliebenen Gewebe entsteht, wenn Narben ziehen, Nervenenden gereizt oder die Durchblutung gestört ist. Doch erst wenn das fehlende Glied selbst als schmerzhaft empfunden wird, spricht die Medizin vom eigentlichen Phantomschmerz.

Früher sprach man bei diesem rätselhaften Leiden gerne von einer Einbildung. Wenn ein Bein oder ein Arm nicht mehr existierte – wie sollte er dann schmerzen? 

Später verlagerten sich die Deutungen auf jene Stelle des Körpers, an der einst der nun fehlende Teil ansetzte: den Amputationsstumpf. Narbengewebe, Durchblutungsstörungen oder Nerven, die in die Leere feuerten, schienen eine Erklärung zu bieten. Aspekte, die zwar Einfluss haben können, aber zu kurz greifen. Denn heute gehen Forschende davon aus, dass das eigentliche Zentrum des Phänomens in unserem Kopf liegt, im Gehirn. Und zwar dort, wo in der Großhirnrinde der Körper repräsentiert ist und wo auch nach der Amputation Spuren des Verlorenen weiterbestehen.

Im Gehirn gibt es eine Landkarte unseres Körpers

Die zentrale Schaltstelle dabei ist die sogenannte sensomotorische Rinde, auch Tastrinde genannt. Sie liegt im Scheitellappen des Gehirns und ist dafür zuständig, Berührungen, Bewegungen und Schmerzreize aus den einzelnen Körperregionen aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie funktioniert wie eine innere Landkarte, auf der alle Glieder und Organe verzeichnet sind. In dieser Karte bleibt der verlorene Arm oder das amputierte Bein zunächst bestehen. Doch weil der gewohnte Zustrom an Reizen fehlt, verschiebt sich die Balance: Impulse aus Nachbarregionen dringen in das brachliegende Areal vor, es ist also keineswegs inaktiv. 

Diese Umordnung kann dazu führen, dass Reize aus eigentlich intakten Körperpartien als Schmerz im verschwundenen Glied gedeutet werden. Man geht davon aus, dass Betroffene umso mehr von Phantomschmerzen malträtiert werden, je ausgeprägter die komplexen Verschiebungen innerhalb der Tastrinde ausfallen. Beteiligt sind zudem Areale, die Schmerz emotional einordnen. Die also bewerten, wie unerträglich sich das Stechen, wie bedrohlich sich das Brennen anfühlt. 

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Besonders stark fällt die Umgestaltung im Gehirn wohl dann aus, wenn der betroffene Körperteil bereits vor der Amputation über lange Zeit wehtat. Das Nervensystem scheint sich an diesen Schmerz zu erinnern und lässt gewissermaßen alte Muster im Phantomglied wieder aufflammen. Verstärkt werden solche Prozesse schließlich durch psychische Belastungen: Stress oder depressive Verstimmungen können die Wahrnehmung weiter verschärfen.

Nicht verwunderlich, dass bei einem so komplexen Phänomen die Behandlungsmöglichkeiten vielfältig sind. Medikamente bilden einen ersten Ansatz: So können Antidepressiva oder auch bestimmte Opioide helfen. Bei Problemen am Stumpf können lokale Injektionen oder Reizverfahren helfen, auch Biofeedback, das die Durchblutung und Temperatur im Gewebe beeinflusst, hat sich in manchen Fällen als nützlich erwiesen. Von radikalen Maßnahmen wie einer erneuten Amputation (was in der Vergangenheit hin und wieder versucht wurde) raten Experten hingegen entschieden ab – sie verschlimmern das Leiden eher, als dass sie es lindern.

Spezielle Prothesen helfen, Phantomschmerzen zu lindern

Weitaus erfolgversprechender sind Methoden, die direkt an den Veränderungen im Gehirn ansetzen. So können moderne myoelektrische Prothesen – also Hightech-Hilfsmittel, die über die elektrische Aktivität der verbliebenen Muskeln gesteuert werden – verlorene Funktionen teilweise ersetzen. Jede gezielte Bewegung dieser Prothese gibt dem Gehirn neue Rückmeldungen und regt die stillgelegte Region der Rinde erneut an. Ein Training, das schädliche Umbauprozesse zurückdrängen kann. Ähnliche Effekte zeigen gezielte Wahrnehmungsübungen: Wird der Stumpf stimuliert und werden die Reize so bewusst wahrgenommen, können sowohl Schmerzen als auch die neuronalen Veränderungen abnehmen. 

Besonders bekannt ist die Spiegeltherapie: Die Bewegung der intakten Hand oder des gesunden Beins wird über einen Spiegel so inszeniert, als bewege sich das fehlende Glied. Das Gehirn interpretiert die Täuschung als reale Rückmeldung, die innere Karte stabilisiert sich – und der Schmerz lässt nach. Selbst Vorstellungsübungen, bei denen Bewegungen des Phantoms nur gedacht werden, können eine Linderung bewirken.

All dies zeigt: Phantomschmerzen lassen sich auf unterschiedlichen Wegen beeinflussen. Welche Therapie im Einzelfall geeignet ist, sollte in spezialisierten Schmerzambulanzen oder Kliniken entschieden werden. Hilfreich ist meist auch eine gute Prothesenversorgung – nicht nur funktional, sondern weil sie das Gehirn fortlaufend stimuliert und dem Körpergefühl Stabilität verleiht. Ebenso wichtig ist die psychische Haltung: Wer die eigene Situation akzeptiert und die körperlichen Veränderungen annehmen kann, hat bessere Chancen, langfristig Erleichterung zu finden.

Phantomschmerzen sind mehr als ein medizinisches Kuriosum. Sie machen sichtbar, wie sehr das Nervensystem eigene Wirklichkeiten erzeugen kann. Was einst als Einbildung abgetan wurde, erweist sich heute als Ausdruck der enormen Plastizität unseres Denkorgans. Dass Schmerzen auch dort bestehen, wo längst nichts mehr ist, zeigt die Macht innerer Landkarten. Und zugleich eröffnet es Wege, sie zu beeinflussen: Wer die Mechanismen versteht, kann lernen, das Gehirn umzuschulen und die Qualen zu lindern. Für Betroffene bedeutet das: Auch wenn die Schmerzen zäh und widerspenstig erscheinen – es gibt Hoffnung auf Linderung, und die Medizin findet immer neue Ansätze, das Unsichtbare greifbar zu machen.