"Er hat einen Lauf!" – kaum ein Sportkommentator, der diesen Satz nicht schon einmal ins Mikrofon gerufen hätte. Wenn ein Basketballspieler drei Dreier in Folge trifft, eine Tennisspielerin ein Ass nach dem anderen serviert oder ein Skifahrer plötzlich alle Zwischenzeiten dominiert, scheint sich ein magischer Moment einzustellen: als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Die Vorstellung ist ebenso populär wie trügerisch – sagen viele Statistikexperten. Denn Erfolg, so ihr Argument, entsteht nicht in Serie, sondern folgt oft dem Zufallsprinzip. Der sogenannte Hot-Hand-Effekt, also die Annahme, dass jemand nach einer Reihe erfolgreicher Aktionen wahrscheinlicher auch den nächsten Treffer landet, galt daher lange als Denkfehler.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Neue Analysen zeigen: Unter bestimmten Bedingungen kann es die sprichwörtliche "heiße Hand" tatsächlich geben. Wenn auch nicht so oft – und nicht so stark –, wie viele glauben.
Der Mythos wankt – und kehrt zurück
Die erste große wissenschaftliche Untersuchung des Hot-Hand-Phänomens stammt aus dem Jahr 1985. Damals werteten drei renommierte Psychologen – Thomas Gilovich, Amos Tversky und Robert Vallone – Spielzüge aus der NBA und Würfe von College-Basketballspielern aus. Ihr Ergebnis: Treffer und Fehlwürfe verteilten sich weitgehend unabhängig voneinander. Auch nach mehreren erfolgreichen Würfen stieg die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Treffers nicht nennenswert an. Im Gegenteil: Wer einen "Lauf" zu haben schien, landete oft bald wieder auf dem harten Boden der Statistik.
Das Urteil war eindeutig – und für viele ernüchternd: Die "heiße Hand" sei ein kognitiver Trugschluss, vergleichbar mit dem Spielerfehlschluss ("gambler’s fallacy"), bei dem Menschen glauben, dass nach einer Pechsträhne ein Glücksfall "überfällig" sei. In Wahrheit, so die Forscher, handele es sich meist um Zufall, der in unserer Wahrnehmung jedoch fälschlich als Muster erscheint.
Die Studie erlangte große Bekanntheit, nicht zuletzt durch die Beteiligung von Amos Tversky, einem Pionier der Kognitionspsychologie. Der Glaube an die Hot Hand wurde fortan als Beispiel für die Unzuverlässigkeit menschlicher Intuition gehandelt und in vielen Lehrbüchern zitiert.
Neue Daten, neue Methoden – neues Urteil?
Doch mit der Zeit geriet die klassische Deutung ins Wanken. Nicht, weil die Ursprungsanalyse fehlerhaft gewesen wäre, sondern weil neue Technologien genauere Einblicke ermöglichten. Hochauflösende Trackingdaten, differenzierte Analysemethoden und umfangreiche Datensätze der Profiligen erlaubten es, frühere Annahmen zu überprüfen und zu nuancieren.
So fanden Forscher etwa heraus, dass vermeintlich "heiße" Spieler in realen Spielen oft schwerer bewacht werden, riskantere Würfe nehmen oder gezielt angespielt werden, weil das Team an ihren Lauf glaubt. Berücksichtigt man diese Störfaktoren – etwa durch die Analyse gleichartiger Wurfsituationen mit vergleichbarer Verteidigung – zeigen sich tatsächlich kleine, aber signifikante Unterschiede: Spieler mit jüngsten Treffern trafen mit einer um rund 1,2 bis 2,4 Prozentpunkte erhöhten Wahrscheinlichkeit.
Ein besonders anschauliches Beispiel liefert der NBA-Dreipunktwettbewerb: Hier stehen die Spieler allein auf dem Feld, holen Ball um Ball aus bereitgestellten Körben und feuern Serien von Würfen aus identischen Positionen ab. Eine große Analyse zeigte: Innerhalb eines Positionsblocks steigt die Trefferwahrscheinlichkeit nach erfolgreichen Würfen merklich an, um etwa acht Prozentpunkte. Sobald jedoch die Position gewechselt wird, verschwindet der Effekt nahezu. Die "heiße Hand" scheint also eher lokal begrenzt – und kontextabhängig.
Auch in kontrollierten Experimenten mit Amateursportlern – etwa beim Bowling oder Hufeisenwurf – wurden wiederholt kleine, aber robuste Hot-Hand-Effekte dokumentiert. Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2024 spricht sogar von "überzeugenden Belegen für genuine Leistungssteigerungen über kürzere Zeiträume hinweg".
Zwischen Mythos und Mechanik – was erklärt den Effekt?
Dass der Hot-Hand-Effekt unter bestimmten Bedingungen existiert, scheint heute unbestritten – wenngleich in deutlich geringerer Ausprägung, als die Intuition vieler Sportfans nahelegt. Doch was erklärt diesen realen, aber oft überschätzten Effekt?
Wissenschaftler vermuten eine Kombination aus psychologischen, physiologischen und spielstrategischen Faktoren:
- Selbstvertrauen und Konzentration steigen oft nach Erfolgen. Wer einen Treffer gelandet hat, tritt mit mehr Überzeugung auf, das kann sich auf Technik und Timing auswirken.
- Motorische Automatismen spielen eine Rolle: Wiederholte Erfolgsausführungen können die Präzision steigern, Bewegungsabläufe wirken flüssiger, koordinierter.
- Spielkontext und Positionierung beeinflussen die Statistik: In Situationen mit weniger Störfaktoren oder bei gleichbleibender Wurfposition zeigen sich Hot-Hand-Effekte am deutlichsten.
- Rückkopplung durch das Team: Ein Spieler, der "heiß läuft", wird öfter angespielt oder erhält mehr Entscheidungsfreiheit, was weitere Treffer begünstigen kann.
- Und schließlich: Auch temporäre physiologische Zustände wie Wachheit, Stresslevel oder kognitive Frische schwanken während eines Spiels und könnten gute Phasen begünstigen.
All das zusammengenommen erklärt, warum es möglich – wenngleich selten – ist, dass jemand tatsächlich "einen Lauf" hat.