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Licht und Erinnerungen Hyperaktivität des Gehirns könnte Nahtoderfahrungen erklären

Animation eines menschlichen Gehirns
Kurz vor dem Tod kann die Hirnaktivität noch einmal ansteigen
© monsitj / Adobe Stock
Wie fühlt sich der nahende Tod an? Sehen wir ein Licht am Ende eines Tunnels, den eigenen sterbenden Körper oder zieht das Leben noch einmal vor dem inneren Auge vorbei? Davon berichten einige Menschen. Forscher erkunden, was dem zugrunde liegen könnte

Menschen, die dem Tod in buchstäblich letzter Sekunde von der Schippe gesprungen sind, berichten oft von erstaunlichen Nahtoderfahrungen. Eine Ursache dafür könnte ein im Augenblick des Sterbens hyperaktives Gehirn sein. Das legt zumindest die Studie eines US-Forschungsteams nahe, deren Ergebnisse im Fachblatt "Proceedings" der US-nationalen Akademie der Wissenschaften (PNAS) veröffentlicht wurden.

Ein weißes Licht am Ende des Tunnels, der eigene sterbende Körper von oben oder das Leben im Schnelldurchlauf: Derartige Erlebnisse werden immer wieder von Menschen berichtet, die etwa einen Herzstillstand überlebt haben. Über die wissenschaftliche Erklärung für solche Nahtoderfahrungen wird indes noch diskutiert. Nun liefert eine Studie unter Leitung von Hirnforscherin Jimo Borjigin von der University of Michigan Hinweise auf einen Aktivitätsschub, der mit dem Bewusstsein im sterbenden Gehirn korreliert.

Messung bestimmter Hirnwellen

Bereits vor zehn Jahren hatte Borjigins Forschungsteam mit Versuchen an Ratten gezeigt, dass in den ersten 30 Sekunden nach einem Herzstillstand bei den Tieren auffällig synchrone Muster ganz bestimmter Hirnwellen messbar waren. Anhand der damaligen Studie schlossen die Wissenschaftler, dass das Gehirn im frühen Stadium des klinischen Todes zu gut organisierter elektrischer Aktivität fähig ist.

In der neuen Arbeit berichtet das Team von ähnlichen Signaturen in den Gehirnen sterbender Menschen, die einen Herzstillstand erlitten. Konkret zeichneten die Forschenden bei vier komatösen, im Sterben liegenden Patienten die Hirnaktivitäten per Elektroenzephalografie (EEG) auf.

Ein EEG macht die Hirnstromwellen sichtbar, die entstehen, wenn Neuronen über elektrische Impulse miteinander kommunizieren. Verschiedene Hirnstromwellen schwingen je nach Bewusstseinszustand in unterschiedlichen Frequenzbereichen: Die im Tiefschlaf besonders starken Delta-Wellen oszillieren beispielsweise mit einer Frequenz von ein bis drei Hertz pro Minute, während diese Frequenz bei den sehr schnellen Gamma-Wellen zwischen 25 und 140 Hertz liegt.

Höhere Wellenaktivität kurz vor dem Tod

Eben jene Gamma-Wellen zeigten zumindest bei zwei der Patienten auffällige Muster: Bei ihnen löste das Absetzen der Beatmungsgeräte einen vorübergehenden und umfassenden Anstieg der Gamma-Wellenaktivitäten aus sowie einen Anstieg der Herzfrequenz. Gamma-Oszillationen sind beim gesunden Hirn mit erhöhter Aufmerksamkeit und Konzentration, Informationsverarbeitung und dem Abrufen von Erinnerungen verbunden. Darüber hinaus sind sie beim Träumen und während tiefer Meditation messbar.

Eine im vergangenen Jahr im Fachblatt "Frontiers in Aging Neuroscience" veröffentlichte Arbeit hatte anhand eines einzelnen Patienten, dessen Gehirnaktivitäten 15 Minuten rund um seinen Tod aufgenommen wurden, bereits von ähnlichen Hirnwellen-Mustern berichtet. Dieser Patient hatte nach einer Operation am Kopf plötzlich epileptische Anfälle gezeigt.

Auch bei den zwei in der aktuellen Studie beschriebenen Patienten mit der angestiegenen Gamma-Wellenaktivität waren zuvor Anfälle aufgetreten, allerdings nicht in der Stunde vor ihrem Tod. Darüber hinaus wurden bei ihnen Aktivitäten in einem Bereich des Gehirns festgestellt, der bereits mit Träumen, visuellen Halluzinationen bei Epilepsie und veränderten Bewusstseinszuständen in Verbindung gebracht wurde.

Keine pauschalen Aussagen möglich

Insgesamt deute ihre Studie darauf hin, dass das menschliche Gehirn während eines Herzstillstands aktiv sein kann, und lege den Grundstein für die weitere Erforschung des menschlichen Bewusstseins, fassen die Autorinnen zusammen. Angesichts der geringen Stichprobenzahl warnen sie indes davor, pauschale Aussagen über die Bedeutung der Ergebnisse zu machen. Zudem sei es unmöglich zu wissen, was die Patienten erlebten, da sie verstarben.

Im Forschungspapier heißt es dazu: "Wir können nicht ausschließen, dass der Anstieg der Gammawerte ein Zeichen für einen pathologischen Prozess ist, der nur in der Sterbephase auftritt und nichts mit der bewussten Verarbeitung zu tun hat."

Tatsächlich führt der durch den Tod einsetzende Sauerstoffmangel zu einer ganzen Reihe von Veränderungen im Gehirn, die es schwer erscheinen lassen, Zeichen von Bewusstsein klar zu erkennen: Steht der Blutkreislauf still, stellt das Gehirn die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ein, bestimmte Rhythmen in der Hirnelektrik verschieben sich, die Zellen haben noch einmal einen elektrischen Output.

Neues Wissen über neurophysiologische Mechanismen

Dass dieser in Form einer sich ausbreitenden Entladungswelle passiert, beschrieben etwa deutsche und US-amerikanische Neurologen schon 2018 im Journal "Annals of Neurology". Nichtsdestotrotz seien die jetzt veröffentlichten Ergebnisse spannend und böten einen neuen Rahmen für unser Verständnis des verborgenen Bewusstseins beim sterbenden Menschen, so Mitautorin und Neurologin Nusha Mihaylova.

"Wie aus einem dysfunktionalen Gehirn während des Sterbeprozesses lebendige Erfahrungen entstehen können, ist ein neurowissenschaftliches Paradoxon", ergänzt Koautor George Mashour, Gründungsdirektor des Michigan Center for Consciousness Science. Die Studie trage dazu bei, die zugrundeliegenden neurophysiologischen Mechanismen zu erhellen.

Hilfreich wären allerdings größere, multizentrische Studien mit EEG-überwachten Intensiv-Patienten, die einen Herzstillstand überlebt haben: Diese könnten dringend benötigte Daten liefern, um festzustellen, ob die Ausbrüche der Gamma-Aktivität ein Beweis für ein verborgenes Bewusstsein in unmittelbarer Nähe des Todes sind.

Alice Lanzke, dpa

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