Die Familie versammelt sich einträchtig um den festlich geschmückten Baum und singt Weihnachtslieder, bevor sich alle an der reich gedeckten Tafel zum gemeinsamen Mahl niederlassen – Filme und Lieder, die in diesen Tagen rauf und runter gespielt werden, sind voller Klischees zum „Fest der Liebe“. Das schürt Erwartungen und ist aus Sicht von Psychologinnen mit Schuld daran, dass die Realität oft anders aussieht.
„Weihnachten verbinden wir immer noch mit der stillen, heiligen Nacht, mit roten Bäckchen und Pfefferkuchen, und alle haben sich lieb“, sagt die Psychologin Christine Backhaus aus Frankfurt am Main. Dabei wisse man eigentlich genau, welche Probleme auftauchen könnten, wenn man gemeinsam mit der Familie feiere. Oft habe sich Vieles aufgestaut, Weihnachten wirke dann wie ein Brennglas.
Ungeklärte Beziehungssituationen schüren Konflikte
Viele kennen das: Man besucht als Erwachsener seine Eltern und schon nach einem Tag liegen die Nerven blank. Oder die Eltern kommen zu Besuch und der Streit lässt nicht lange auf sich warten. „Ungeklärte Beziehungssituationen schüren Konflikte: Wer hat das Sagen? Wer setzt sich durch? Wer weiß es besser? Oft zeigen sich diese Kämpfe im Unruheherd Küche: Wer bereitet die Gans besser zu, Mutter oder Tochter? Wer kennt das raffiniertere Rezept? Das sind Konflikte, die eskalieren können“, sagt Philipp Yorck Herzberg, Konflikforscher an der Bundeswehr-Universität Hamburg.
Grund ist, dass in der Kindheit erworbene Muster wieder anspringen, wie die Hamburger Psychologin Susanne Schmal erläutert. „Diese Muster sind tief in uns verankert, das ist wie ein Autopilot. Wenn wir dann Weihnachten feiern und die Eltern kommen, dann läuft das vielleicht am ersten Tag noch ganz harmonisch ab. Aber am zweiten oder dritten Tag, dann kracht es manchmal“, sagt Schmal.
Plötzlich sei man nicht mehr die erwachsene Frau, sondern wieder die junge Tochter. Auch die Eltern fielen wieder in ihre Schemata hinein. „Dann gibt es Streit, weil ich denke, mein Vater will ja doch nur immer, dass ich Leistung bringe oder die Mama will immer, dass das Haus sauber ist und jetzt geht sie schon wieder herum und kontrolliert alles.“
Keine Klimadiskussion an Weihnachten
Besonders viele Fallstricke bieten zu Weihnachten kontroverse politische Themen. Auch im Kleinen: Ist der Akku für die LED-Lichterkette nicht eine Umweltsauerei? Aber ist andererseits die Weihnachtsbaumbeleuchtung nicht pillepalle gegen den viel zu späten Ausstieg aus den fossilen Energien? Ruckzuck ist die Stimmung im Keller. Nicht umsonst ist eine alte Regel für ungezwungene Konversation: keine Politik! Denn aus einer einmal angefangenen, kontroversen Diskussion elegant auszusteigen, dem Strudel der Empörung zu entkommen, erfordert viel Disziplin.
Möglichen Konflikten vorübergehend und bewusst aus dem Weg gehen: So handhabt es selbst die sonst so beredte und meinungsstarke Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Die Erderwärmung, und was dagegen zu tun ist, ist in ihrer Familie an Weihnachten Tabu, erklärte sie in einem Podcast.
Was darf man an den Feiertagen essen?
Heikel sind auch Diskussionen zur Ernährung. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Die Familie ist zum Weihnachtsessen zusammengekommen, die Tafel glitzert im Kerzenschein, es duftet, die Stimmung steigt. Als der Festtagsbraten unter Ohs und Ahs hereingetragen wird, seufzt der Veganer in der Runde auf: „Schade um das Tier!“ Und ergänzt, weil niemand etwas sagt: „Wisst ihr eigentlich, wie Gänse gemästet und getötet werden? Und wie viele Emissionen mit dem Fleischkonsum verbunden sind?“
Was passiert dann wohl? Alle sehen sich mit glänzenden Augen an, versprechen, ans Tierheim zu spenden und leben fortan vegan. Wohl kaum. Augenrollen und genervte Abwehr, wenn nicht Streit, sind programmiert. Dabei gibt es eine verlässliche Korrelation zwischen der Höhe des erhobenen Zeigefingers und der Heftigkeit der Gegenwehr. Wer wird schon gerne bei der Moral gepackt?

Bei Tisch eine Diskussion über die Frage loszutreten, ob Menschen Tiere essen dürfen, ist keine gute Idee. Schon gar nicht an Weihnachten, wenn die Erwartungen an das harmonische Miteinander ohnehin hoch gespannt sind und die Selbstbeherrschung auf die eine oder andere Belastungsprobe gestellt wird.
Sich am Tisch angesichts des Elends in der Tierindustrie zurückzunehmen, ist nicht leicht. Ab es ist realistisch. Es bedeutet nicht, dass man seine Ideale verrät, sondern dass einem das Beisammensein mit nahestehenden Menschen in diesem besonderen Moment wichtiger ist als Grundsatzdebatten, die man ohnehin nicht für sich entscheiden kann. Gelassen und authentisch bleiben ist die Zauberformel. Das stille Vorbild wirkt oftmals nachhaltiger als jedes Argument.
Wie wäre es mit einem „Time-out-Symbol“?
Um die größten Fallstricke zu vermeiden und ein entspannteres Fest zu haben, rät die Psychologin Susanne Schmal, schon vorher innerhalb der Familie über die jeweiligen Vorstellungen zu sprechen. Braucht es wirklich ein aufwendiges Menü, das die Nerven der Köchin oder des Kochs strapaziert, wann soll der Baum geschmückt sein, wie soll die Bescherung ablaufen? Es gehe darum, ein eigenes Ideal zu schaffen jenseits der gängigen Klischees.
Die Frankfurter Psychologin Backhaus sagt, es lohne sich, auch mit Eltern in fortgeschrittenem Alter offen zu sprechen: „Das kommt in der Regel gut an, wenn man es nicht als Vorwurf formuliert, sondern sagt, was man schön fände.“ Eine Möglichkeit, bei aufflammendem Streit einzuschreiten, sei, sich in der Familie auf eine Art „Joker“ oder „Time-Out-Symbol“ zu einigen, dass dann auf den Tisch gestellt werde, bevor das Drama seinen Lauf nehme. Wenn sich die Situation abgekühlt habe, könne man das Gespräch wieder aufnehmen. Hierzu gebe es sehr gute Erfahrungen aus der Paar-Therapie, sagt Backhaus.
Die Psychologinnen raten, zu reflektieren, welche eigenen Bedürfnisse an einem solchen Abend bisher auf der Strecke bleiben. „Brauche ich mehr Ruhe, muss ich mir die Beine vertreten, brauche ich mehr Freiraum?“, nennt Backhaus Beispiele. Dann müsse man den Mut fassen, dies anzusprechen – und auch nach den Bedürfnissen der anderen fragen. So könne ein Austausch darüber entstehen, welche Rituale alle gut finden und wo Änderungen sinnvoll seien.
Es lohne sich, vorher Reiz-Themen zu identifizieren und sich zu fragen, was in dem Moment zur Entspannung beitragen könnte – fünf Mal tief zu atmen beispielsweise, sagt die Hamburger Psychologin Schmal. Oder man lege von vornherein Regeln fest und sagt beispielsweise: „Mama, über dieses Thema möchte ich an Weihnachten nicht sprechen.“