Lange Zeit nahmen Wissenschaftler an, dass unser Wesen durch zwei große Faktoren geformt wird – und zwar unabhängig voneinander. Einen Teil unserer Persönlichkeit prägen die Gene: Sie legen unter anderem unsere Haarfarbe fest, unser intellektuelles Potenzial oder unsere Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten. Den zweiten Teil bestimmen die vielfältigen Einflüsse der Umwelt: unsere Kindheitserfahrungen etwa, die eigene Lebensführung oder schicksalhafte Erlebnisse. Sie entscheiden mit darüber, wie gut wir Stress verarbeiten, ob wir ein großes Bedürfnis nach Nähe haben, welche Belastungen unser Körper erträgt.
Doch diese Vorstellung hat sich inzwischen fundamental gewandelt: Mittlerweile gehen Forscher davon aus, dass uns Gene und Umwelt keineswegs isoliert voneinander prägen – sondern auf ungemein komplexe Weise miteinander verbunden sind. Denn äußere Einflüsse, etwa unser Lebenswandel, verändern die Art und Weise, wann und wie Teile unseres Erbguts wirksam sind. Es handelt sich bei diesen Informationen gewissermaßen um einen zweiten genetischen Code; daher sprechen Experten auch von „Epigenetik“ (von griech. epí, nebenbei).
Gesunde Ernährung beeinflusst die Funktionsweise unseres Erbguts
Das Faszinierende an dieser Erkenntnis: Da wir selbst diese Informationen verändern können, etwa durch besonders gesunde Ernährung, sind wir fähig, Einfluss auf die Funktionsweise unseres Erbguts zu nehmen. Das hat weitreichende Folgen für unsere Gesundheit – und womöglich sogar für die unserer Kinder und Enkel. Denn offenbar werden manche dieser Informationen an spätere Generationen weitergegeben.
Wie das abläuft, lässt sich durch die unterschiedlichen Aufgaben der Zellen erklären. Zwar enthält jede in ihrem Kern alle Erbinformationen des Körpers – aber je nachdem, welche Aufgabe sie zu erfüllen haben, ist nur ein Bruchteil davon für sie relevant: Eine Muskelzelle soll nicht Hautzellen hervorbringen, eine Leberzelle keine roten Blutkörperchen. Daher müssen die jeweils überflüssigen Anteile des Erbguts deaktiviert werden. Dies gelingt unter anderem dadurch, dass die Zelle das Ablesen des DNS-Strangs an den entsprechenden Stellen erschwert. Der genetische Code bleibt zwar unverändert, doch die Informationen sind nicht mehr entzifferbar. Das heißt: Unser Erbgut ist für sich genommen gar nicht entscheidend – wichtiger ist, ob es sich auch entfalten kann. Und genau darauf hat unser Verhalten erheblichen Einfluss.
Bewegung kann Gene positiv verändern
Das Zusammenspiel zwischen Erbgut und epigenetischen Informationen lässt sich mit den Komponenten eines Computers vergleichen. Das Genom entspricht in diesem Bild der Hardware des Computers. Es legt fest, über welche Möglichkeiten ein Organismus verfügt. Aber darüber, wie diese Möglichkeiten genutzt werden, entscheiden erst die epigenetischen Informationen – indem sie bestimmen, wann welches Gen ablesbar ist und aktiv werden kann. Sie gleichen damit der Software des Computers. Je nachdem, welche Teile des Genoms durch die epigenetische Information verdeckt werden, laufen auf der Hardware unterschiedlicher Zellen daher gleichsam unterschiedliche Programme. Und anders als das Genom sind diese Programme flexibel: Sie lassen sich durch unser Verhalten verändern, bei Muskelzellen etwa durch Bewegung.
So stellten Forscher in Schweden fest, dass ein dreimonatiges Bewegungstraining bei Probanden zu Veränderungen an 4076 Genen ihrer Muskelzellen führte. Die Funktion der Zellen änderte sich dadurch: Sie konnten ein bestimmtes Eiweiß nun häufiger produzieren, ein anderes seltener – mit positiven Folgen für Muskelfaseraufbau und Fettgewebe. Noch ist die Erforschung derartiger Veränderungen im Erbgut recht jung. Aber schon jetzt lässt sich die große Bedeutung der gewonnenen Einsichten erkennen. So konnten Forscher etwa belegen, dass frühkindliche Traumata im Körper zu epigenetischen Prägungen führen können, die noch viele Jahre später nachweisbar sind.
Epigenetische Informationen sind vererbbar
Erheblichen Einfluss scheinen epigenetische Prozesse zudem auf das Tempo unserer biologischen Alterung auszuüben. So ergab eine internationale Studie mit fast 15000 Probanden, dass manch erhöhtes alterstypisches Risiko etwa für Bluthochdruck oder Typ-2-Diabetes direkt im Zusammenhang mit der Lebensführung steht. Auch für Fettleibigkeit und Alters- demenz legen Studien einen Einfluss epigenetischer Faktoren nahe.
Schon bald könnten die Forschungsergebnisse zu neuartigen Tests und Blutanalysen führen, die Aufschluss geben etwa über das Risiko für die Ausbildung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Demenz. Präzises Gegensteuern wäre dann das Ziel: mit ausreichend Schlaf, Bewegung, speziellen Diäten. Denn jede ungünstige epigenetische Prägung lässt sich, wie Untersuchungen zeigen, mehr oder minder leicht wieder rückgängig machen. Dies könnte auch im Interesse späterer Generationen wichtig sein. Denn es mehren sich die Anzeichen dafür, dass Eltern manche epigenetischen Informationen an ihre Nachkommen weitergeben.
Forscher in Dänemark fanden jüngst Hinweise darauf, dass Übergewicht regelrecht vererbt wird: Sie identifizierten in Spermien fettleibiger Männer bestimmte Strukturen, die dazu führen könnten, dass die nächste Generation eher unter Fettleibigkeit leidet. Zwar warnen Experten vor schnellen Schlüssen: Viele Studien beruhen auf kleinen Datenmengen. Und noch sind viele Ergebnisse nicht von Vergleichsstudien bestätigt worden. Doch bereits jetzt zeichnet sich ein neues Bild davon ab, wie wir altern, weshalb und woran wir zuweilen erkranken – und was wir dagegen tun können.