Digitale Archäologie 800 Jahre alte Romanze: Neuer Teil der Artussage entdeckt

Altes Schriftstück mit Passagen aus der Artus-Sage
Knicke, Falten und Risse machten es den Forschenden schwer, den 800 Jahre alten Teil der Artus-Sage zu entschlüsseln. Er ist ein besonders schönes Zeugnis für ein mittelalterliches Schriftstück, handgeschrieben mit roten und blauen Initialen 
© Cambridge University Library
Das Video zeigt, wie jetzt ein Teil der Artussage virtuell rekonstruiert wurde – ohne das historische Buch auseinanderzunehmen, in dessen Einband sich das Schriftstück verbarg
Foto: Cambridge University Library | Video: Blazej Mikula, Amélie M. F. Deblauwe / University of Cambridge
Jahrhundertelang versteckten sich Passagen aus der Artussage in einem alten Einband – bis Forschende einen Weg fanden, das Schriftstück zu retten

Drei Jahre, um ein Blatt Papier auseinanderzufalten: So lange haben die Forschenden der Universitätsbibliothek Cambridge gebraucht, um einen wertvollen Teil der Artussage virtuell zu enthüllen. Das Manuskript aus dem 13. Jahrhundert war nämlich recycelt und umfunktioniert worden, wie im Mittelalter üblich – als Buchbindung für Grundstücksakten aus Huntingfield Manor in Suffolk, 300 Jahre später.

In dieser Form blieb das Schriftstück erhalten. Bis 2019 die Sammlungsexpertin Irène Fabry-Tehranchi und ihre Kollegen entdeckten, dass sich hinter dem historischen Vermögensbuch noch viel mehr verbarg – oder genauer, darunter: Unter dem Einband steckten Passagen der "Suite Vulgate du Merlin", einer französischen Fortsetzung der Artussage. Wie aber sollten sie dort herankommen, schließlich war das Papier gefaltet, zerrissen und von Nadel und Faden durchbohrt?

Hätten sie das Schriftstück manuell auseinandergefaltet, hätten sie es womöglich beschädigt. Sicher aber wäre das Grundstücksbuch dabei zerstört worden, das ebenfalls ein wichtiges historisches Dokument ist. Also forschten sie nach anderen Methoden – und setzten so einen Meilenstein dafür, was heute technisch möglich ist in der Rekonstruktion von Artefakten.

Sally Kilby und Błażej Mikuła von der Universität Cambridge
Sally Kilby vom Fachbereich Konservierung und Błażej Mikuła vom Kulturerbe-Fotolabor der Universität Cambridge fotografieren in die Falten des Manuskripts hinein. So konnten sie auch Textstellen wieder lesbar machen, die sich trotz 3-D-Modellierung noch in Knicken und hinter der Buchbindung versteckten
© Błażej Mikuła / Amélie Deblauwe / Cambridge University Library

Ein ganz neues Verfahren

Zuerst kam multispektrale Bildgebung zum Einsatz, bei der das Dokument in Wellenlängen von Ultraviolett bis Infrarot erfasst wurde. Die hochauflösenden Bilder machten so den abgewetzten Text wieder lesbar. Im Computertomografen, ausgeliehen vom Zoologischen Institut Cambridge, drangen die Forschenden daraufhin in die verschiedenen Schichten des Papiers ein und machten versteckte Strukturen wieder sichtbar. Zusammen mit Aufnahmen aus einem Industriescanner konnten sie so 3-D-Modelle erstellen – ganz ohne das Buch tatsächlich auseinanderzunehmen.

Aber Teile des Schriftstücks waren immer noch unlesbar, versteckt in Knicken oder in die Buchbindung hineingenäht. Deshalb fotografierte das Bibliotheksteam das Buch mithilfe von Spezialwerkzeugen wie Spiegeln, Prismen und Magneten. Die Hunderten Aufnahmen setzten sie dann zusammen "wie man ein Puzzle löst", sagt Sammlungsexpertin Fabry-Tehranchi. Die einzelnen Schritte kann man sich in der Cambridge Digital Library  anschauen.

All das erlaubte es den Forschenden, das Schriftstück virtuell zu entrollen. Das Video am Anfang dieses Artikels zeigt, wie das aussieht. 

Uralte Romanze

Zutage kamen zwei Passagen der "Suite Vulgate du Merlin" auf Altfranzösisch, von der es weltweit nur noch 40 Exemplare gibt – jede einzigartig, weil damals alle Überlieferungen per Hand geschrieben wurden. Im Fragment geht es zu Anfang um den Sieg der Christen über die Sachsen in der Schlacht von Cambénic: Dort besiegt Gauvain mit dem Schwert Excalibur, seinem Pferd Gringalet und seinen magischen Kräften die Sachsenkönige Dodalis, Moydas, Oriancés und Brandalus.

Handschrift der Artus-Sage in Multispektralanalyse
Multispektralanalyse in verschiedenen Wellenlängen macht auch versteckten Text wieder sichtbar, wie die Anmerkungen am Rand des Dokuments. Mit dem bloßen Auge wären sie nicht zu erkennen. Dieses Bildgebungsverfahren war nur einer von mehreren Schritten, mit denen die Forschenden das historische Schriftstück wieder lesbar machten

 
© Cambridge University Library

Danach folgt eine arturische Romanze, wie sie damals das adelige Publikum schätzte: Merlin kommt verkleidet als Harfenspieler vor Arturs Hof, "der schönste Mann, den die Welt je gesehen hat": "Er trug eine seidene Tunika, bedeckt von einem seidenen Wams, gewebt aus Gold und Edelsteinen, die so glitzerten, dass sie den gesamten Raum erleuchteten."

Schon diesen einen Text wiederherzustellen ist ein großartiger Erfolg für die Forschenden. Vor allem aber liefert das Projekt neue Methoden, die sich auch bei anderen Manuskripten anwenden lassen. "Auf der ganzen Welt haben Bibliotheken und Archive ähnliche Probleme mit fragilen Fragmenten, die in Buchbindungen stecken", sagt Fabry-Tehranchi. Wer weiß, welche Schätze sich noch in alten Einbänden darauf warten, entdeckt zu werden?