An einem verregneten Herbsttag in Lissabon sagte einmal eine Freundin zu mir: "Für jedes Problem gibt es drei Lösungen: eine gute, eine schlechte und eine portugiesische. Dass sie damit recht hatte, habe ich erst viel später verstanden. Die Menschen in Portugal ignorieren und umgehen weltmeisterlich Probleme, bis diese sich in Luft auflösen. Oder aber sie werden kreativ und improvisieren.
"Sieh nur", sagte die Freundin und deutete auf den Eingang eines Einkaufszentrums, in dem eine Regenpfütze zu einem kleinen See angewachsen war. Männer und Frauen mit Einkaufstüten rutschten reihenweise darauf aus oder umgingen das Hindernis großräumig. Keiner beschwerte sich, und niemand fühlte sich bemüßigt, die Sache zu bereinigen – nicht einmal der Wachmann, der einzig versuchte, das Wasser mit bösen Blicken zum Verdunsten zu bringen. Bis schließlich eine Verkäuferin einen Teppich aus ihrem Geschäft auf die Wasserlache warf, der diese sofort aufsog. Problem gelöst – auf Portugiesisch.
"Desenrascar" beschreibt die perfektionierte Improvisationskunst und ist unübersetzbar
Nein, Portugal strebt keinen Perfektionismus an, im Gegenteil. Dort haben sie das Improvisieren perfektioniert. Dafür besitzen sie sogar ein eigenes Verb: desenrascar. Auf Deutsch lässt es sich nicht mit einem Wort übersetzen, es bedeutet so viel wie "sich aus der Patsche helfen". Ein Phänomen, dem Reisende in Portugal nicht entkommen und das ihre Nerven manchmal auf die Probe stellt, etwa wenn der Mechaniker defekte Autoteile mit Klebeband fixiert oder die Kellnerin eine Rechnung auf das Papiertischtuch kritzelt.
Desenrascar geschieht überall, in der Metropolle Lissabon, in Porto im Norden, an den Klippen und Stränden der Algarve, im weinreichen Douro-Tal, auf den Azoren und Madeira und im kulinarischen Hotspot des Landes, dem Alentejo. Es ist ein Überlebensinstinkt, eine Eigenschaft, mit der die Menschen charmant und selbstsicher den Alltag meistern, egal ob eine Springschnur kurzerhand als Wäscheleine herhalten muss, Plastiktüten als Schuhersatz im Regen dienen oder der Verkäufer im Geschäft anstelle von fehlendem Wechselgeld Produkte aus seinem Laden aushändigt. Das vielleicht anschaulichste Beispiel dieser Eigenart lieferte der Vorzeige-Fußballer Cristiano Ronaldo, als er im EM-Finale 2016 verletzungsbedingt zum Trainer der portugiesischen Nationalmannschaft avancierte und seine Mannschaft von der Seitenlinie zum Titel dirigierte. Der eigentliche Coach, Fernando Santos, sah ihm sprachlos zu.
Portugiesische Genügsamkeit: Sport, Religion und nostalgische Musik
Sicher liegt dieses Improvisationstalent in der portugiesischen DNA, doch zu Ruhm und Ehre hat dem Seefahrervolk im 15. und 16. Jahrhundert wohl auch seine Leibspeise verholfen: Bacalhau. Während die europäische Konkurrenz neben Waffen und Alkohol gern Lebendgetier auf ihren Schiffen hortete, deckten sich Vasco da Gama, Ferdinand Magellan, Heinrich der Seefahrer und Co lieber mit lange haltbarem, salzgetrocknetem Kabeljau ein, besser bekannt als Stockfisch. Er ist kulinarisches Nationalheiligtum ohne Verfallsdatum, mit etwas strengem Geruch und geschmacklich höchstintensiv. Die Legende besagt, der Erfolg von Portugals Entdeckern und seinen Übersee-Kolonien hingen mit diesem fiel amigo zusammen, dem "treuen Freund".

Jedenfalls sind beinahe alle Portugiesinnen und Portugiesen verrückt nach ihm und scheren sich nicht darum, ob ihn nun die Seefahrer zuerst verkochten oder ob es im Lauf des 16. Jahrhunderts fromme Gläubige auf der Suche nach einem Fleischersatz waren, um die vierzigtägige Fastenzeit zu überstehen.
Fern von desenrascar und der Stockfischhistorie gibt es noch eine weitere Theorie, die versucht, Portugals Lebensphilosophie zu umschreiben, es handelt sich um "die drei F": Fußball, Fátima und Fado. Um zufrieden zu sein, heißt es, brauchten die Menschen nicht mehr als Sport, Religion und nostalgische Musik. Geht es nach Portugals Literaturnobelpreisträger José Saramago, sogar noch ein bisschen weniger: "Mit drei Kartoffeln auf dem Teller, Fußball am Sonntag und mit Feiertagen, die auf einen Wochentag fallen, wenn möglich verbunden mit einem langen Wochenende, ist der Portugiese glücklich. Wir sind genügsam, einfachen Gemüts, umgänglich und Freunde unseres Freundes – ohne ihn zu kennen."
Die Geschichte des Landes kratzt noch am Selbstbewusstsein Portugals
Diese Bodenständigkeit aber mussten die Menschen auf die harte Tour lernen. Nach der goldenen Ära ihrer Entdeckungs- und Kolonialepoche fiel das Land zunächst unter spanische Herrschaft. Später diente es als Kriegsschauplatz zwischen England und Frankreich, und schließlich endete die Monarchie Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Umsturz, ehe der faschistische Diktator António de Oliveira Salazar endgültig das Licht abdrehte und das Land 48 Jahre lang auf Sparflamme hielt. Bis heute einer der Gründe, warum Portugal im europäischen Vergleich wirtschaftlich hinterherhinkt.
Salazars Schergen entführten, folterten und töteten Andersdenkende. Mit Zensur und strengem Regime erstickte Salazar das eigenständige Denken im Land, den Intellekt. Das halbe Land saß im Gefängnis – die einen im tatsächlichen, die anderen im geistigen. Vor allem Frauen hatten ohne die Zustimmung des Vaters oder Ehemanns nichts zu melden. Wählen, verreisen, studieren? Undenkbar.

Am 25. April 1974 endete die Tyrannei. In den frühen Morgenstunden rollten Panzer durch die Hauptstadt, fielen Schüsse, gellten Schreie. Stunden später jubelte die Menge, Männer und Frauen lachten, umarmten einander, manche tanzten. Blumenverkäuferinnen verschenkten rote Nelken. Eine Frau steckte eine Blume in den Gewehrlauf eines Soldaten: Das Bild ging um die Welt und gab dem Ereignis seinen Namen "Nelkenrevolution". Als einer der unblutigsten Regierungsumstürze der Menschheit ging diese in die Geschichtsbücher ein. Während für das Regime und den Großteil der Bevölkerung der Kurswechsel völlig unerwartet kam, war er von einer kleinen Gruppe Soldaten minutiös geplant und monatelang geheim gehalten worden.
Boomtown Lissabon – als wäre sie gerade erst entdeckt worden
Mehr als vierzig Jahre später sind die Wunden verheilt, doch das Selbstvertrauen ist noch immer angekratzt. "Wir sind ein kleines Land", hört man die Menschen oft sagen. "Was sollen wir denn schon ausrichten?" Die Frage ist rhetorisch, sie erwarten keine Antwort. Kaum verwunderlich, dass sie hier oft einen Weltschmerz verspüren, ein Lebensgefühl, für das es ein Wort gibt: saudade. "Sehnsucht" wäre eine zu ungenaue Übersetzung, handelt es sich doch vielmehr um ein Sich-Zurücksehnen in Zeit und Raum, eine Lebenseinstellung, ein Weltbild, einen sechsten Sinn, der versucht, die Bandbreite an Trauer, Schmerz und Melancholie in ein einziges Wort zu fassen. Saudade, so liest man, ist das Gefühl, um die Vergangenheit betrogen worden zu sein, der man nun nachtrauern darf. Soll. Muss! Denn in der Wehmut liegt die Kraft. Ein Zustand, der es einem nicht erlaubt, vollends glücklich in der Gegenwart zu leben, da das Glück in der Nostalgie liegt.
In Lissabon, dem Zentrum der saudade, gibt es immer noch viele, die ihren Weltschmerz in Portwein ertränken, während sie mit eisernem Schweigen den Klängen des traditionellen Fado lauschen. Dabei scheint die Sonne an rund 300 Tagen im Jahr auf die alten Kacheln der Häuserfassaden und lässt sie glänzen. Die Stadt drum herum strebt der Moderne entgegen, besteht vor allem aus Baugruben, Kränen und Absperrungen. Lissabon wird aufgepäppelt, poliert, konserviert.
Portugal ist eben erwacht, und nirgendwo spüren das Reisende stärker als in der Hauptstadt. Sie boomt, als wäre sie gerade erst entdeckt worden. Neben Erasmus-Studierenden zieht es Junge, Hipster, Kreative und Entrepreneurs aus dem Ausland in die Metropole, wo das Leben – abgesehen von den Mieten – noch preiswert ist, mit all seinem Nachtleben, dem Surfen, der exzellenten Küche.
Zwischen IT-Zentrum und Kulturszene: Lissabon glänzt mit Vielfältigkeit
Seit 2016 treffen sich in Lissabon jedes Jahr gut 70 000 Expertinnen und Experten bei der "Web Summit", der weltgrößten Technologie-Konferenz – was Lissabon zum Liebling der internationalen IT-Szene macht. Konzerne wie Google oder Microsoft haben hier Dependancen eröffnet, BMW und Mercedes ebenso. Und kürzlich erst kürte das Reisemagazin "Time Out" Arroios zum trendigsten Viertel der Welt – es hängte die Konkurrenz aus Tokio, Berlin und New York ab. Ein Viertel mit hoher Lebensqualität, Kultur, Open-Air-Galerien, Restaurants. Hier vertragen sich Klassik und Moderne, und die Menschen schätzen die Vielfalt. Dazu ist dieses Bairro sicher und vor allem tolerant, bringt es doch Kunst und Kultur des afrikanischen und des südamerikanischen Kontinents zusammen.
Die Stadt hat auch ihre einst düstere Hafenpromenade zu einer Flaniermeile herausgeputzt, auf der Straßenkünstlerinnen ihre Werke anbieten, Musiker spielen und Gäste sich wie Lisboetas in Liegestühlen sonnen; sie lesen, rasten und halten zumeist überteuerte Getränke in der Hand. Unterhalb der Brücke des 25. April beheimatet Alcântara, bis zuletzt verwahrloste Industriehafenzone, die LX Factory, eine Location für Kultur, Gastronomie und Wirtschaft, die mit Kaffeehäusern, Genusstempeln, Designershops und Buchläden ziemlich cool ist.

Beinahe an jeder Ecke treffen Neues und Altes aufeinander. Kaum eine andere europäische Hauptstadt verändert derzeit ihr Antlitz so schnell wie diese, und kaum eine hat kurz vor Corona einen größeren Andrang Reisender erlebt. Doch egal, wie schnell die Stadt wächst, im Kern bleibt sie ein Dorf, in dem die Menschen einander kennen.
Weil nur einer es versteht, die Spanne zwischen Weltmacht und Weltschmerz in seinen Gedichten zu vereinen, muss sich heute jedes Kind im Land durch das Meisterwerk von Nationaldichter Luís de Camões quälen. Die Lusiaden sind ein Lobgesang auf die Epoche der Portugiesen im 15. Jahrhundert, verpackt in Poesie. Eine Erfolgsgeschichte über tapfere Helden und sprechende Gottheiten, die – was sonst – viel saudade erzeugt. Denn die Lusiaden, also die Nachkommen des Gottessohnes Lusus, sind die Portugiesen selbst. Und in Camões’ Werk sind sie die Gefeierten, die Unverwüstbaren. Die, die neben der guten und der schlechten immer eine portugiesische Lösung finden.