"Winnie Pooh, Winnie Pooh!" ruft ein sechsjähriges Mädchen am New Yorker Times Square ihrem bärigen Helden zu, dessen knallgelbes Fell in der Sonne leuchtet. Kurz darauf kleben sie und ihre Geschwister an Winnie wie Fliegen an einem Fliegenfänger. "Lasst ihn am Leben", ruft ihnen ihre Mutter hinterher und zückt die Kamera für ein Foto und noch eins und noch eins für Facebook mit Micky Maus und dem Krümelmonster. Die Frau steckt den Kinderhelden ein Trinkgeld zu und die Gruppe zieht weiter.
Die blinkende Prachtmeile ist für viele der Inbegriff New Yorks, Mekka des Konsumkapitalismus. 50 Millionen Touristen lockt die Gegend jährlich an. Leuchtreklamen blinken ihnen ihre Werbebotschaften entgegen. Schlepper preisen ihre Bustouren an, Straßenhändler Hotdogs und geröstete Nüsse. Schnäppchen für Theater- und Musicalkarten verspricht eine riesige Ticket-Box.
Mittendrin winken Mickey Maus und die Freiheitsstatue Passanten zu sich, stellen sich Hello Kitty und Elmo aus der Sesamstraße zum Familienfoto um den Kinderwagen auf, Spiderman und Catwoman legen ein Tänzchen hin. Es ist das "Who is Who" der Popkultur: Spiderman, Captain America, Hulk, Sie stehen für das Große, Unglaubliche, Heldenhafte, in einem Wort: Amerika. Was die meisten Besucher nicht wissen: Hinter den Masken kämpfen Menschen jeden Tag für ihre eigene Version des amerikanischen Traums.
Die Helden des Times Square arbeiten nicht für Disney oder Marvel, auch nicht für die Stadt, sie arbeiten für sich selbst, sind quasi Unternehmer. Ihr Verdienst: "Tips", also Trinkgelder. "Du bist dein eigener Chef und bestimmst, wann du arbeitest", sagt Joshua Estrada-Barillas. Hier auf dem Platz spielt der 21-Jährige Texaner den trottelig-optimistischen Raumfahrer Buzz Lightyear aus dem Film ToyStory. Jetzt hat er den Kostümkopf abgenommen. Zusammengesackt sitzt er auf einem Klappstuhl, redet wenig und sieht zu, wie Spiderman und Co sich während seiner Pause um die wenigen Touristen bemühen. Als der Besucherstrom zunimmt, stöpselt Buzz Lightyear sich Musik ins Ohr, setzt den Kopf auf und springt zurück in seine Rolle. Er geht auf Touristen zu, streckt die Arme aus, scherzt, animiert sie zum Mitmachen. Stellt sich ein Passant zum Foto auf, springt Spiderman herbei, um vielleicht auch etwas abzubekommen.
Ikonen ohne Arbeitserlaubnis
Eine Straße weiter steht William in seinem Ironman-Kostüm, dessen Maske schon etwas rissig ist. Zwölf bis vierzehn Stunden arbeitet er täglich. "Ich habe keinen freien Tag", sagt er, "manchmal bin ich nur sechs Stunden hier, das ist mein Urlaub". Ein Mann reicht ihm sein Kind und der Dreijährige schreit in den Armen des Fremden, doch William beruhigt ihn, bringt ihn zum Lächeln für das Foto.
Der 42-Jährige aus Peru ist mit einem Touristenvisum nach New York gekommen und geblieben. Das Trinkgeld der Touristen schickt der Familienvater zurück in die alte Heimat. So will er seinen Kindern den Weg in eine bessere Zukunft ebnen – sein amerikanischer Traum. Sein Sohn macht ein Ingenieursstudium, bald ist seine Tochter mit der Schule fertig und will Medizin studieren. Viele der Maskenträger sind Einwanderer aus Lateinamerika, die in New York ihr Glück versuchen. Wie William sprechen die Meisten davon kaum oder gar kein Englisch, und oft fehlen ihnen gültige Papiere, die Voraussetzung für einen offiziellen Job in den USA.
Eine Wohnung in der Metropole – wo selbst ein Zimmer schon mal 1000 Dollar kostet – kann sich William nicht leisten. An besonders guten Tagen verdient er knapp hundert Dollar, meist eher 30 oder 40 Dollar. Wie viele andere pendelt er täglich mit dem Bus von der anderen Seite des Hudson aus New Jersey nach Manhattan. Dort zahlt er 500 Dollar Miete im Monat.
Auch Estrada-Barillas alias Buzz Lightyear und seine Freundin Virgilia Reyes mussten ihre Wohnung in Queens aufgeben und nach New Jersey ziehen, nachdem die 19-Jährige schwanger wurde und nicht mehr als Kellnerin arbeiten konnte. Schließlich begann sie, wie ihr Freund, für Touristen auf dem Times Square zu posieren, im roten Kostüm des Elmo aus der Sesamstraße. Ihr gemeinsamer Sohn ist gerade ein Jahr alt geworden. Ist der Nachwuchs krank, trifft das die junge Familie doppelt, denn zu den Arztkosten kommt der Verdienstausfall für Virgilia Reyes. "Jede Stunde, die wir nicht hier sind, verlieren wir Geld", sagt sie. An guten Tagen schafft das Paar 200 Dollar, an schlechten auch mal nur 20 Dollar. In den vergangenen Monaten wurde es immer weniger.
Superhelden-Gewerkschaft
Die Schuld dafür sehen sie bei den Hinweis-Schildern der Polizei. Touristen seien nicht verpflichtet, Trinkgelder zu geben, steht darauf. "Das stimmt", sagt Ruben, der tagsüber in einer Bäckerei und abends als Ironman arbeitet, "aber wir sind auch nicht verpflichtet, uns fotografieren zu lassen. Es ist ein Geben und Nehmen."
Dass Amerikas Ikonen heute weniger verdienen liegt wohl auch an der Konkurrenz. Seit die Stadt 2011 Teile des Times Square für den Verkehr gesperrt hat, stieg die Zahl der Besucher und aus etwa 30 Comic-Helden wurden mehr als 215. Passanten begannen sich über ihr Verhalten zu beschweren. Im Frühsommer prügelte sich ein Spiderman mit Polizisten. Seitdem ist die Situation zwischen den amerikanischen Ikonen und der New Yorker Polizei angespannt. Viele der Kinderhelden fühlen sich von den Cops unfair behandelt. José Vasquez spielt den ängstlichen Aufzieh-Cowboy Woody aus ToyStory, trägt die Maske aber meist wie einen Hut, so dass man sein Gesicht sieht. Im Januar wurde er verhaftet, weil er Frauen auf dem Times Square begrabscht haben soll. Im November wurde er erneut festgenommen, weil er den Verkehr blockiert habe. "Statt mir einen Strafzettel zu geben, haben sie mich über Nacht eingesperrt", sagt er. Im laufenden Prozess um sexuelle Belästigung vertritt ihn ein Pflichtverteidiger, für einen eigenen Anwalt fehlt das Geld. Die Frauen sebst haben keine Anzeige gegen ihn eingereicht.
Die Reibereien haben Medien, Lokalpolitiker und die Times Square Allianz auf den Plan gerufen, ein Zusammenschluss der Händler und Geschäfte am Times Square. Sie wollen eine Registrierungspflicht für maskierte Darsteller und ein Lizenzsystem einführen. "Ungewöhnliches ist ok, Unheimliches nicht", erklärt ein Vertreter des Verbunds. Der Times Square sei ein Spiegel Amerikas und Konsumenten sollen eine positive Erfahrung haben.
Lucia Gomez von der Organisation La Fuente unterstützt eingewanderte Arbeiter im Kampf um ihre Rechte. "Das ist New York, wenn du es hier schaffst, schaffst du es überall. Nur jetzt wollen wir limitieren, wer es schaffen kann und wo sie das können." Für Gomez sind die Tricks der Künstler nichts weiter als Verkaufsstrategie. Natürlich wolle jeder auf das Bild, um anschließend ein Trinkgeld zu bekommen. Wie das kapitalistische Amerika im Herzen seiner Geldmaschine ein Problem mit Verkaufsstrategen haben kann, versteht sie nicht.
Vor ein paar Wochen standen die Erzfeinde Batman und Joker vor Gomez‘ Tür und baten sie um Hilfe. Nun haben die Superhelden im Kampf um den amerikanischen Traum ausgerechnet eine Gewerkschaft gegründet. Bis zu 100 von ihnen treffen sich wöchentlich. Der "Verbund von Künstlern, vereint für ein Lächeln" soll den Ruf der Menschen hinter den Masken wieder herstellen. Mit der Verpflichtung zu einem eigenen Regelwerk hoffen sie dem Lizenzsystem der Stadt zuvor zu kommen.