Einmal im Jahr, wenn der Sommer sich seinem Ende zuneigt und die Nächte kühler werden, schlagen Beduinen aus ganz Ägypten ihre Zelte im Nationalpark Wadi el Gemal auf. 850 Kilometer von Kairo entfernt, mitten in der trockenen Einöde einer Landschaft, die für das menschliche Überleben nicht gemacht ist, findet ein reger kultureller Austausch statt. Drei Tage lang unterbrechen Tanz und Gesang die Lautlosigkeit der Wüste, schallen durch die unwirtliche Ödnis. Hier, wo die weite Ebene östlich des Niltals auf das Rote Meer trifft, zelebrieren die Beduinen ihre Stammeskultur.
"Wir sind hier, um zu feiern, unsere Bräuche aufleben zu lassen, andere Beduinenstämme kennenzulernen." Fayez wendet seinen dunklen Lockenschopf zur schroffen Hügelkette und zeigt in Richtung Süden. "Mein Vater ist Jäger im Elba-Gebirge, an der Grenze zum Sudan." In der Stimme des 19-Jährigen liegt ein Anflug von Stolz. "Er hat sogar schon mal einen Löwen erlegt. Der Rest meiner Familie lebt von der Viehzucht: Kamele, Ziegen, Schafe." Fayez gehört zum Stamm der Ababda-Beduinen. Sie sind es gewohnt, die lebensfeindliche Umgebung der Wüste zu ihrem Zuhause zu machen.
Gefährdete Beduinenkultur
Wie die anderen Stämme des Landes sind auch die Ababda keine Vollnomaden mehr. Dürre und Ressourcenknappheit, die Anlage von Wasserversorgungssystemen in der Wüste und staatliche Programme zur Ansiedlung der Nomadenvölker haben die Beduinenkultur enormen Veränderungen ausgesetzt. Das Umherziehen von Weide zu Weide gehört größtenteils der Vergangenheit an. Mit Stolz aber hält Fayez daran fest, "Bedu" zu sein: "Im Winter und Frühjahr zieht mein Stamm mit den Herden noch immer durch die Wüste zu Weidegründen und kehrt nach Ende der Vegetationsperiode zurück. Außerdem reiten wir mit unseren Kamelen regelmäßig zum Kamelmarkt nach Shalatin. Wir sind noch richtige Beduinen." Halbnomaden wäre die wohl treffendere Bezeichnung.
Fayez studiert mittlerweile Deutsch und Ökotourismus. Heute ist er hier, um mir seine Stammeskultur zu zeigen. "Jana, German lady", ruft er immer wieder und winkt mich heran, um mir etwas zu zeigen: wie sein Stamm ein Kamel sattelt, wie sein Stamm Brot in Asche backt, wie sein Stamm musiziert.
Musik ist allgegenwärtig
"Er sagt, deine Augen sind so schön wie die Berge der Wüste." Fayez zeigt auf einen alten Beduinen, der mich verschmitzt betrachtet und mir arabische Texte zusingt - improvisierte Liebeslieder, wie ich später erfahre. "Das ist Ali, unser Stammesältester." Verstohlen sieht mich Fayez von der Seite an und lacht. "Er ist ein stolzer Mann. Er sagt, er hat dieses Lied für dich geschrieben."
Die Beduinen sind Meister der Improvisation. Innerhalb weniger Sekunden werden Plastikeimer und leere Dosen herangetragen - eine spontane Jam-Session. Das ferne Gemurmel der Nubier aus einem der Nachbarzelte vermischt sich mit den Trommelklängen der Ababda-Beduinen. Da stehen sie im Halbkreis, singen, springen, schwingen ihre Schwerter und preisen damit sich und die Wüste. Musik ist allgegenwärtig im Leben der Wüstenvölker. Omran, ein junger Beduine vom Stamm der Bescharin, weiß warum: "Unsere Seelen brauchen Musik. Ohne Musik könnten sie nicht überleben." Er greift zur Tambura, einer fünfsaitigen Leier, und besingt gemeinsam mit den anderen Bescharin die Hügel, die im Hintergrund der flachen Wüstenlandschaft emporragen.
Die acht Stämme, die aus ganz Ägypten zum Kulturfestival angereist sind, haben ihre eigenen Gewänder mitgebracht, ihre eigenen Kochkünste, ihre eigenen Tänze. Über die Weiten des Landes verteilt, haben sich einige Stämme bisher nie zu Gesicht bekommen. Das soll sich mit dem Kulturfestival ändern. Berber aus Siwa treffen auf Nubier aus dem Niltal. Beduinen aus der kleinen Oase Farafra in der westlichen Wüste lassen sich von der Poesie der Stämme aus dem Sinai inspirieren. "She'r Nabatny" heißt die Dichtkunst der Sprachvirtuosen aus dem Süd-Sinai, die, ebenso wie die Musik, von der Umgebung inspiriert wird. Die Wüste klingt.
Netzwerken auf beduinisch
"Wir wollen, dass die Beduinen ein Bewusstsein für ihre eigenen Traditionen entwickeln, damit ihre Kultur nicht in Vergessenheit gerät", sagt Walid Ramadan, der das Festival "Characters of Egypt" vor zwei Jahren als Direktor der gemeinnützigen Organisation "Egyptian Desert Pioneer Society" (EDPS) in Kooperation mit dem "Wadi Environmental Science Center" (WESC) gegründet hat. "Jahrhundertelang lebten die Stämme in den verschiedensten Ecken Ägyptens, ohne dass sich ihre Wege kreuzten. Ohne das Festival würde es nicht zu Begegnungen unter den einzelnen Stämmen kommen."
Gemeinsam sitzen die Stammesältesten im grobkörnigen Sand und teilen nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihre Probleme. Als die Beduinen aus dem Süd-Sinai im letzten Jahr vom Wassermangel der Bescharin hörten, boten sie sogleich ihre Hilfe an und versprachen, die finanziellen Mittel aufzubringen, um den Stamm bei Wasserbohrungen zu unterstützen. In diesem Jahr treffen die Bescharin und die Beduinen aus dem Sinai wieder aufeinander. Als Zeichen der Freundschaft schenkt man sich eine Brotmaschine. "Networking" würde man es hierzulande nennen - Netzwerken auf beduinisch.
Gastfreundschaft wird großgeschrieben
"Jana, German lady!" Fayez ruft nach mir. Er will mich in die Kunst des Kaffeeröstens auf Beduinenart einweisen. Die grünen Kaffeebohnen klappern im kleinen Blechtopf über dem Feuer, bis sie sich dunkelbraun färben. In einem dickwandigen Mörser zerreibt Fayez die Bohnen zu grobem Pulver, das er zusammen mit Ingwer und viel Zucker aufkocht. Gabana nennen die Beduinen den Röstkaffee mit dem rauchigen Geschmack. Serviert wird die würzig-süße Brühe aus einer bauchigen Tonkanne. Gabana nimmt einen hohen Stellenwert in der Beduinenkultur ein. Seit Jahrhunderten gilt das Annehmen von Kaffee als der Beginn von Friedensverhandlungen und Handel. "Sei großzügig, wo du nur kannst" - so lautet ein ungeschriebenes Gesetz der Gastfreundschaft. Dazu gehört es auch, für den Gast ein Tier zu schlachten.
"Lachm", sagt Fayez, "Fleisch". Mit dem Dolch durchschneidet er die Kehle einer Ziege, während er das Tier auf den Boden drückt - nicht, bevor er den Kopf des Tieres gen Osten ausgerichtet hat, in Richtung Mekka. Sein Freund Ali hilft ihm dabei. Rituelles Gemurmel begleitet die darauffolgenden Handgriffe. "Allah akbar! - Allah ist groß." Mit geübter Gewandtheit lassen sie die Ziege ausbluten, ziehen ihr die Haut ab und zerlegen das Tier. "Die Ziegenhaut dient uns als Beutel, um Wasser beim Transport kühl zu halten. Sie ersetzt uns den Kühlschrank." Später sitzen wir im Halbkreis im Wüstensand. Zum Fladenbrot wird an diesem Abend Ziegenfleisch serviert.
Am nächsten Morgen verabschiede ich mich von den Beduinen. Noch heute werden sie ihre Zelte abbauen und in Richtung Heimat reisen: in Städte, in denen die meisten von ihnen inzwischen sesshaft geworden sind. Omran telefoniert mit dem Handy. Gestern bekam er eine Buchungsanfrage für die nächste Trekkingtour durch die Wüste. Früher war er Viehzüchter. Heute lebt er größtenteils von der touristischen Sehnsuchtsproduktion. "Goodbye, German lady!" Fayez gibt mir die Hand und geht zum Pick-up, um sich umzuziehen: raus aus dem Beduinengewand, rein in die Jeans.