Gleich zwei Monte Rosas? Ich schaue von einer Aussichtsterrasse oberhalb des Dorfes Orta San Giulio zum Ortasee hinab. Auf seiner Spiegelfläche verdoppeln sich der Berg und seine Ausläufer, auch der weiße Glockenturm der Isola di San Giulio taucht gleich zweimal in der Seemitte auf. Würde nicht das Fährboot ab und an das stille Wasser teilen, man könnte es durchaus für ein Standbild halten.
Der See wirkt auf mich wie der Lago Maggiore en miniature: Auf einer Länge von rund 13 Kilometern bringt der hübsche Winzling alle Naturkulissen unter, für die sein großer Bruder nebenan das über Zehnfache an Raum braucht. Im Westen steht sein Felskragen bis zu 4634 Meter hoch: Der schneebedeckte Monte Rosa, immerhin der zweithöchste Gipfel der Alpen, strahlt wie ein Leuchtfeuer. Das westliche Ufer ist dicht bewaldet und rau, Felsklippen durchbrechen sattes Grün.
Orta San Giulio, Miasino und die traditionelle Küche
Am Ostufer dagegen vergoldet die Sonne sanft abfallende Höhenzüge. Über weite Flächen ziehen sich saftige Wiesen und Wälder: uralte Edelkastanien und Buchen. Im Osten streckt sich auch Orta San Giulio auf einer Halbinsel ins Wasser. Beim Dorfspaziergang durch kieselgepflasterte Gassen staune ich über Rokokofassaden, geschmiedete Balkongitter – und die Stille. Nur die Piazza Motta lässt ahnen, wie trubelig das Dorf am Wochenende sein wird, wenn Gäste aus Mailand und Turin anrücken.
Auf drei Seiten säumen in Würde gealterte Palazzi den Platz, die vierte Seite öffnet sich zum Wasser. Dort spielt sich wie auf einer Bühne italienischer Alltag ab: Alte Männer debattieren gestenreich auf Bänken im Schatten der Kastanien, Kinder spielen Fangen.

Abends fahre ich nach Miasino, einem verschlafenen Ort oben in den Bergen, die den Ortasee vom Lago Maggiore rund 15 Kilometer östlich trennen. In einer Barockvilla mit Park entdecke ich die "Taverna Antico Agnello" mit ihrer traditionellen Küche.
Marialuisa, die Frau des Chefs, nimmt sich Zeit zum Plaudern und erzählt, wie sehr sie die gezackten Berge mag und die stillen Dörfer am Wasser. "Ich liebe den Ortasee viel mehr als den Lago Maggiore", sagt sie. "Er hat auf seine bescheidene Art Persönlichkeit. Vielleicht sogar eine Seele."
Erlebnisse am Ortasee
- In nur fünf Minuten setzte uns der Bootsmann auf die Isola di San Giulio über. Dort bestaunte ich die prächtig ausgemalte Basilika und schöne Villen.
- Auch Ungläubige zeigen sich beeindruckt vom Sacro Monte di Orta, einer zwischen 1590 und 1785 errichteten Wallfahrtsstätte. Der 400 Meter hohe „heilige Berg“ gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. In 20 Kapellen inmitten eines Naturparks erzählen lebensgroße Terrakottafiguren und Fresken das Leben des Heiligen Franz von Assisi.
Orta San Giulio, Via Sacro Monte - Sehr spannend fand ich den Rundweg um die Halbinsel Orta San Giulio. Die Uferpromenade führt vorbei an verwunschenen Villen mit Palmen und Magnolien – und ist nahezu autofrei. Am besten gefiel es mir früh morgens und am späten Nachmittag, kurz bevor die Sonne hinter den Bergen am gegenüberliegenden Ufer verschwindet.