Die Wiederansiedlung des Luchses in Thüringen ist akribisch geplant: Jährlich werden bis zu fünf Luchse in die Wildnis entlassen, bis 2027 sollen 20 Tiere durch den Thüringer Wald streifen. Im Mai wurden "Frieda" und "Viorel" im mittleren Thüringer Wald ausgewildert, vor wenigen Tagen folgten "Vreni" und "Kilian", beide erst gut ein Jahr alt. Die Luchse tragen GPS-Tracker an Bändern um den Hals: Welches Gebiet sie durchstreifen, wie viel Raum sie nutzen, ob sie auf Artgenossen treffen – all das wird genau beobachtet.
Und doch gibt es aller Planung zum Trotz Überraschungen, die alle Beteiligten in helle Aufregung versetzen. In diesem Fall ist die Überraschung schwarz-weiß und leicht verschwommen, aufgenommen in einer lauen Augustnacht im südlichen Thüringer Wald. Doch die glühenden Augen und die dazugehörigen hellen Körper, die sich auf den Aufnahmen der Wildtierkamera eines Jägers abzeichnen, lassen keinen Zweifel. Hier streift ein Luchsweibchen mit zwei Jungen durch die Nacht. Die Fotos beweisen: die Luchse im Osten Deutschlands treffen sich, paaren sich und bekommen Nachwuchs. Und das ist durchaus eine Sensation.
"Der unerwartete Luchsnachwuchs ist die erste nachgewiesene Luchs-Reproduktion im Thüringer Wald seit über 150 Jahren und eine freudige Überraschung für das gesamte Projektteam", heißt es in einer Mitteilung von Thüringens Umweltministerium, BUND, WWF und ThüringenForst. "Gemeinsam mit ihren ausgewilderten Artgenossen legen die jungen Luchse einen ersten Grundstein für ein langfristig stabiles Luchsvorkommen im Thüringer Wald."
Die Fotos sind auch deshalb so besonders, weil kaum je ein Mensch einen Luchs in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen hat. Der scheue Jäger ist vor allem in der Dämmerung und nachts aktiv, bewegt sich nahezu geräuschlos durch den Wald, verschmilzt dank seines Fells geradezu mit der Umgebung. Und seinen Ohren entgeht nichts: Ein durchs Dickicht streifendes Reh hört er noch aus einem halben Kilometer Entfernung, einen lärmenden Menschen erst recht. Und weil die Raubtiere sehr scheu sind, sind sie über alle Berge, bevor wir ihre Anwesenheit überhaupt bemerken. Außerdem durchstreifen die Top-Prädatoren riesige Reviere. Darin leben die Einzelgänger allein – und verteidigen sie bis aufs Blut gegen Eindringlinge.
Sein Fell und sein Appetit machten den Luchs zur Zielscheibe
Einst war der Luchs in Deutschland und Europa weit verbreitet. Doch sein kostbares Fell und sein beachtlicher Appetit wurden ihm zum Verhängnis: Der leise Jäger vertilgt Nacht für Nacht ein bis zwei Kilogramm Fleisch und ist bei der Auswahl seiner Beute nicht besonders wählerisch. Er reißt Rehe, Wildschweine, Vögel und Mäuse oder frisst sich an Füchsen, Reptilien, Feldhasen und Aas satt. Weil ihm hin und wieder auch ein Nutztier vor die Tatzen kommt, wurde die Jagd auf das Raubtier eröffnet und der Luchs schnell ausgerottet: 1846 wurde in Deutschland der letzte Luchs erschossen. Die Zerstörung und Zerstückelung seines natürlichen Lebensraumes tat ein Übriges.
Inzwischen ist der Luchs geschützt, doch noch immer vermuten Wildtierexperten und -expertinnen illegale Tötungen. Dabei spielt der Prädator an der Spitze der Nahrungskette eine bedeutende Rolle im Ökosystem. Er reguliert den Bestand seiner Beutetiere und sorgt so dafür, dass Rehe und Hirsche nicht zu viele junge Triebe und Knospen von Bäumen abfressen und die Verjüngung des Waldes verhindern. Zudem vergräbt der Luchs die Reste seiner Beute im Waldboden, wo sie Vögeln, Insekten und Kleinsäugern als Nahrung dienen und so ein komplexes und vielfältiges Ökosystem erhalten.
Schon seit den 1970er-Jahren wird der Luchs deshalb in Deutschland und anderen europäischen Ländern wieder angesiedelt. Die ersten Tiere auf deutschem Boden durchstreiften ab 1975 den Bayerischen Wald. Inzwischen leben nach Schätzungen des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) hierzulande rund 200 Luchse. Forschende gehen davon aus, dass sich die Tiere außer im Thüringer Wald vor allem auf drei Populationen im Bayerischen Wald, im Harz und im Pfälzerwald verteilen.
Luchse aus dem Harz, Bayern und Thüringen sollen sich "vernetzen" und fortpflanzen
Das Problem dabei: Die Tiere leben weit voneinander entfernt. "Junge Luchsweibchen richten ihre Reviere in der Regel nur in direktem Kontakt zu Revieren von Artgenossen ein, sodass eine Ausbreitung nur sehr langsam vonstatten geht und große waldfreie Flächen ernst zu nehmende Hindernisse darstellen", so das Thüringer Luchs-Wiederansiedelungsprojekt. Denn nur dort, wo sich Männchen und Weibchen begegnen, besteht die Chance auf Nachwuchs.
Und: Die bislang isolierten Populationen müssen sich vernetzen, damit sich ihr Genpool vermischt und der Luchs in Deutschland langfristig überleben kann. Da dies ohne menschliches Zutun derzeit kaum möglich ist, werden die Tiere im Thüringer Wald – und auch im benachbarten Sachsen – angesiedelt. "Neben dem geeigneten naturräumlichen Potenzial ist die geografische Lage des Thüringer Waldes eine gute Voraussetzung, die Luchsvorkommen in Deutschland und darüber hinaus zu verbinden", so die Projektleitung.
Viele der dort nun ausgewilderten Tiere stammen aus Erhaltungszuchtprogrammen und wachsen in großen, naturnahen Gehegen auf. Vreni zum Beispiel wurde im Schweizer Tierpark Langenberg geboren, Kilian im Tiergarten Nürnberg und Viorel in den rumänischen Karpaten. Mit etwa einem Jahr kommen sie zunächst in das BUND-Wildkatzendorf Hütscheroda, wo sie auf das Leben in freier Wildbahn vorbereitet werden und ihr Verhalten von Expertinnen genau beobachtet und beurteilt wird. So wird zum Beispiel darauf geachtet, ob die Luchse ein natürliches Verhalten und eine ausgeprägte Scheu vor Menschen zeigen. Nach zwei bis vier Wochen in einem Auswilderungsgehege, in dem die Tiere behutsam an ihre neue Umgebung gewöhnt werden, werden sie in die Freiheit des Thüringer Waldes entlassen.
Fellmuster ist individuell wie ein Fingerabdruck
Dass dort nun bereits ein Weibchen samt Jungen durch den bisher von einzelnen Männchen dominierten Wald streift, zeigt, dass die Wiederansiedlungs- und Vernetzungspläne erfolgreich sind und die Fortpflanzung funktioniert. Es wird vermutet, dass die in die Fotofalle getappte Luchsin über den Frankenwald in den Thüringer Wald eingewandert ist.
In der Regel kümmert sich ein Luchsweibchen allein um ihre Jungen. Erst nach etwa einem Jahr verlassen die Jungtiere ihre Mutter und machen sich auf die Suche nach einem eigenen Revier. Dabei legen sie weite Strecken zurück und geraten manchmal in Reviere, die bereits von Artgenossen besetzt sind. Im Thüringer Wald gäbe es aber noch reichlich Platz: Schätzungen zufolge könnten hier bis zu 60 Luchsterritorien entstehen.
Ob die gesichteten beiden Luchsjungen überleben und wo sie sich niederlassen, werden die kommenden Jahre zeigen. Anhand ihrer Fellmusterung, die so einzigartig ist wie ein menschlicher Fingerabdruck, können die Tiere identifiziert werden. Zumindest, wenn die Phantome des Waldes aus ihrem Versteck kommen – und erneut in eine Fotofalle tapsen.