Besondere Begegnungen in der Natur sind nicht an bestimmte, schwer zu erreichende oder exotische Orte gebunden. Sie entstehen häufig ungeplant, können nur Sekundenbruchteile andauern und daher meistens nicht fotografiert werden. Doch manchmal ist man zufällig einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort (und hat sogar noch eine Kamera dabei). Die Insel Helgoland ist in der öffentlichen Wahrnehmung immer mit gewissen Vorurteilen belegt, die ich als das »nationale Trauma« bezeichne: Irgendjemand kennt irgendjemanden (oder war persönlich in der Situation), der sich während der schaukelnden Fährüberfahrt zur einzigen deutschen Hochseeinsel in Sturm und Welle über Stunden gefühlt hat wie eine Flasche Ketchup – erst kam nix, und dann alles auf einmal! Für Forschungstaucher, Meeresbiologen und Naturfotografen ist dieses Fleckchen Erde und das umgebende Meeresgebiet allerdings ein besonderer Schatz, der zudem noch eine sehr bewegte Vergangenheit aufweist und für die Menschen an der See seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle spielt.
Spielplatz für eine der größten Robbenpopulationen in der Nordsee
Die Unterwasserwelt rund um Helgoland weist Besonderheiten auf, die an keiner anderen Stelle in Deutschland zu finden sind. Hier wachsen große Braunalgen auf den Steinen und bilden den Kelpwald, einen besonders artenreichen Lebensraum für eine Vielzahl von Tieren und Pflanzen. Die vorgelagerte Sandinsel, die eigentlich nur als »Düne« bezeichnet wird, ist zudem Spielplatz und Ruhezone für eine der größten Robbenpopulationen in der Nordsee. Dicht an dicht liegen hier die beiden Arten Seehund und Kegelrobbe teilweise zu hunderten auf dem Sandstrand. Die Tiere bewegen sich außerhalb des Wassers sehr schwerfällig, aber sobald sie zurück ins Meer gehen, sind sie in ihrem eigentlichen Element. Und dort möchte ich sie fotografieren.
An einem windstillen Abend fahre ich mit einem weiteren Taucher in einem winzigen Schlauchboot auf das spiegelglatte Meer vor der Insel hinaus. Im Norden der Düne versammeln sich bei solchen Bedingungen im Flachwasser häufig mehrere Kegelrobben und „singen“. Nur anhand des melodiösen Geheuls finden wir in der hereinbrechenden Nacht die Untiefe und können mit den neugierigen Robben schwimmen.
Einen kurzen Augenblick reißt die Robbe ihr Maul auf
Besonders die Weibchen und Jungtiere sind zum Spielen aufgelegt, kommen dicht heran und interessieren sich für unsere Flossen. Ein Tier zeigt sich dabei auch sehr der Glaskuppel meiner Kamera verbunden und berührt ihn mehrere Male mit der weichen Schnauze. Als ich über die Kamera schaue, um zu sehen, was das Tier denn wohl plant, halte ich weiterhin den Auslöser gedrückt und nehme dabei ein Bild auf, das ich erst später an Land auf der Speicherkarte entdecke: Für einen kurzen Augenblick reißt die Robbe ihr Maul auf und zeigt in allen Einzelheiten den beeindruckenden Rachen von Deutschlands größtem Raubtier. Dabei stößt sie noch einen Schwall aus Luftbläschen aus, als ob sie mich anbrüllen würde. Dann verschwindet sie wieder im grünen Wasser.
Einige Tage später kommt es zu einer weiteren Begegnung mit einer Kegelrobbe, die dieses Mal allerdings nicht beim Spielen ist, sondern auf der Jagd. Die Bedingungen zum Fotografieren sind an diesem Tag nicht optimal: Viele aufgewirbelte Schwebeteilchen behindern die Sicht und ich muss gegen die einsetzende Gezeitenströmung anschwimmen, um zurück zu unserem Boot zu kommen.
Dann sehe ich den dunklen Schatten
Plötzlich sehe ich im Wasser einen unförmigen hellen Fleck, der schnell näherkommt. Als er noch ungefähr zwei Meter entfernt ist, erkenne ich die Umrisse eines Seehundes, dem das Fell und die darunterliegende Fettschicht in großen Stücken vom Körper gerissen wurden. Ich wundere mich kurz, was für ein Wasserfahrzeug dem Tier hier im Helgoländer Naturschutzgebiet vor der Düne solche Verletzungen beigebracht haben könnte. Dann sehe ich den dunklen Schatten direkt dahinter.
Ein Kegelrobbenbulle schwimmt nervös um den toten Seehund, beißt immer wieder hinein und versucht, seine frisch geschlagene Mahlzeit von mir wegzuziehen. Ich bin direkt zwischen ein Raubtier und seine Beute gekommen! Durch meinen Schnorchel hole ich tief Luft, tauche ab und schwimme direkt auf die Robbe zu. Sichtlich nervös und verärgert, schlägt sie noch einmal ihre großen Zähne in den Kadaver, kann ihn aber nicht schnell genug mit sich ziehen und schwimmt davon, sodass ich weitere Bilder von dem toten Seehund und dessen auffälligen Verletzungen machen kann.
Deutschlands größtem Raubtier mit mehr Respekt begegnen
Nachforschungen bei Wissenschaftlern, die an Robben forschen und schon häufig solche Verletzungen an angespülten Kadavern beschrieben haben, werden zeigen, dass dieses Verhalten von Kegelrobben zum ersten Mal überhaupt unter Wasser fotografiert wurde. Viele Jahre glaubten die Forscher, dass es sich bei den im Nordatlantik beschriebenen Funden entweder um Angriffe von Haien oder um Unfälle und dem Zusammenwirken von Schiffsschrauben mit angebrachtem Propellerschutz handeln müsse.
Doch bei dem Aufeinandertreffen im Naturschutzgebiet vor Helgoland war kein Boot beteiligt. Der sicher 180 Kilogramm schwere Kegelrobbenbulle hat offensichtlich die wesentlich kleineren Seehunde als Beute angesehen. Seehunde teilen sich seit Jahrzehnten den gleichen Strand mit den Kegelrobben und betrachten ihre Nachbarn sicher noch nicht als Fraßfeinde, was einen Angriff umso leichter macht. In Zukunft sollten wir Deutschlands größtem Raubtier in der Wildnis vor unserer Haustüre mit etwas mehr Respekt begegnen.