Der Gestank beißt zu
Baggerschaufeln reißen Löcher in Ziegelwände, ein Schornstein sackt in sich zusammen, Staubwolken wallen auf. Einem Kleinbus entsteigen Männer in blauen Uniformen, begutachten die Trümmerhaufen, machen sich Notizen. Blende. Und nun sehen wir neue Fabriken aus blitzendem Stahl in die Höhe schießen, auf grüner Wiese, und der Himmel ist blau auf diesem Videofilm, der den Abriss von Dreckschleudern und den Aufbau moderner Industrien dokumentiert. Das Licht im Konferenzsaal des Umweltamtes von Wuhai geht an, sieben Beamte lächeln uns zu: So wie uns vorgeführt sieht es im Norden Chinas jetzt aus, sollen wir glauben. Doch als wir, unangemeldet, im 40 Kilometer entfernten Industriepark von Wuhai ankommen, stehen wir in einem anderen Bild: einer Albtraum-Landschaft aus Fabriken, Kraftwerken und Minen. Kein Sonnenstrahl dringt durch diese Abgase.
Der Gestank beißt zu
Wir begegnen Kindern, bei denen sich der Kohlenstaub so tief in jeder Hautfalte festgesetzt hat, dass sie wie kleine Greise aussehen; Fabrikarbeiterinnen, die sich Kopf und Gesicht zum Schutz vor dem Smog mit Baumwolltüchern umwickelt haben, und deren rot entzündete Augen unter dem Stoff zu glühen scheinen. Ein ganz anderes China als jenes auf dem Video der Umweltbehörde, noch aber das wahre. Sein rasanter Aufstieg zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt in nur drei Jahrzehnten hat China in großen Teilen verwüstet. 23 Prozent der 1,3 Milliarden Chinesen besitzt keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser; nur ein Prozent der 560 Millionen Stadtbewohner atmet Luft, die etwa nach den Grenzwerten der Europäischen Union verträglich ist. 20 der 30 Städte mit der höchsten Luftverpestung weltweit liegen nach Auskunft der Weltbank in China.
Und all das, obwohl Premierminister Wen Jiabao und Parteichef Hu Jintao, im Amt seit 2002, den Schutz der Umwelt zur Chefsache erhoben haben. Und jeder Gouverneur, jeder Bürgermeister, so heißt es, soll fortan nicht nur über den ökonomischen, sondern auch über den ökologischen Fortschritt Rechenschaft ablegen. Sein Land, behauptete Wen Jiabao beim Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel im August 2007, werde "nicht den Fehler wiederholen, erst zu verschmutzen und dann zu sanieren". Es hat diesen Fehler längst begangen. Und anders als die Gesellschaften in Europa, den USA und Japan, die sich dem Umweltschutz zuwenden konnten, nachdem sie es zu Wohlstand gebracht hatten, droht China an den Nebenwirkungen der Industrialisierung zu ersticken, noch bevor es einen vergleichbaren Lebensstandard nur annähernd erreicht hat.
Der größte Industriepark Chinas
"Willkommen im größten Industriepark Chinas für Energie-intensive Produktion", ist auf einem Schild am Rande der Nationalstraße 109 zu lesen. Der Name Wuhai, "Schwarzes Meer", verweist auf die riesigen Kohlevorkommen, die in dieser Region schon wenige Meter unter der Erdkrume lagern. Die Stadt wurde 1958 auf Befehl Maos in die Steppe gebaut, mit Kokereien, die Kohle für ein Stahlwerk im sechs Stunden entfernten Baotou veredeln sollten. Das Ende der sozialistischen Planwirtschaft bedeutete in den 1990er Jahren zunächst den wirtschaftlichen Kollaps für die Region Wuhai. Einwohner berichten, dass sie nicht einmal genug zum Essen hatten, während die Menschen in den Metropolen entlang der Küste zur selben Zeit einen enormen Wohlstandsschub erlebten. Die Stadtoberen lockten Investoren aus Shanghai, Wenzhou oder Beijing an, indem sie andeuteten, dass man es mit Auflagen hier nicht so genau nehme. "Es ging nur um Wachstum, Wachstum, Wachstum", erinnert sich Zhu Jianhong, Vizedirektor der Umweltbehörde in der geschundenen Stadt. Weniger Zulassungen hätten das Wachstum gedrosselt, die Zahl der Fabriken nicht von vier auf 400 in nur acht Jahren anwachsen lassen.
Kraftwerke mit veralteter Technik
Mit der Zahl der Fabriken stieg allerdings auch der Energieverbrauch rasant. Regelmäßig fiel der Strom in der Region um Wuhai aus. Private Investoren wurden ermutigt, die Energielücke zu schließen. Sie errichteten kleine und mittelgroße Kohlekraftwerke mit veralteter, aber billiger Technik, denn Anreize zu schadstoffmindernden Verfahren, etwa Steuerersparnisse oder günstige Kredite, wurden ihnen nicht geboten. Die Folge: eine ärmliche Quote in der Umsetzung der aufgewendeten Energie. Teure Turbinen amortisieren sich erst nach Jahren, im überhitzten Wirtschaftsklima Chinas aber wollen Investoren wie Lokalpolitiker an Orten wie Wuhai möglichst schon nach Monaten Gewinne sehen. Denn in einer Gesellschaft, in der die Menschen immer wieder durch politische Umwälzungen um alles gebracht wurden, was sie besaßen, zählt nicht Nachhaltigkeit, sondern der schnelle Profit. Wegen des ungebremsten Ausbaus seiner Schwerindustrie mit veralteten Anlagen wie jenen in Wuhai verbraucht China mittlerweile dreimal so viel Energie in Relation zur Wirtschaftsleistung wie der Rest der Welt - und fast achtmal so viel wie Deutschland.
Die Ascheschicht auf den Tomaten lässt sich nicht mehr abwaschen
Was zunächst die Bauern von Beishan zu spüren bekamen. Der ehemalige Dorfchef Yuan Guangsun kämpft mit den Tränen, als er uns jene Protestnote vorträgt, die er einst an die lokalen Behörden schickte: "Der Weizenertrag unserer Felder geht um ein Drittel zurück; die Ascheschicht auf Tomaten und Kohlköpfen lässt sich nicht mehr abwaschen. Niemand kauft unsere Produkte. Fast jeder von uns hat chronischen Husten." Weil von den lokalen Behörden keine Antwort kam, besetzten die Bauern im Sommer 2005 die Nationalstraße 109. Sie hatten sich Schilder um den Hals gehängt mit der Aufschrift "Wir wollen leben! Stoppt die Verschmutzung!" Polizei nahm sie fest, sperrte sie ein. Erst als es Lu Guang, dem Fotografen dieser Reportage, gelang, die Protestnote mitsamt seinen Fotos bei der nationalen Umweltbehörde SEPA in Beijing einzureichen und die Bilder in zwei einflussreichen Zeitungen zu veröffentlichen, bot die Stadtregierung den Bauern eine Kompensation für Häuser und Felder an.
Todesstatistik könnte soziale Unruhen auslösen
In der Stadt Wuhai, eine knappe Autostunde vom Industriepark entfernt, ist die Luft spürbar besser. Hohe Schornsteine und günstige Winde garantieren hier, dass vor allem andere den Preis für das Wirtschaftswunder der Submetropole zahlen. Als Krebs erregender Feinstaub erreichen die kontaminierten Partikel selbst Beijing - und nach rund einer Woche sogar die USA. Gemäß den Normen der Europäischen Union sind mehr als 40 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft schädlich für die Gesundheit. In Beijing liegt die Belastung bei durchschnittlich 140 Mikrogramm. Krankheiten wie Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Beschwerden haben in China deshalb massiv zugenommen. Nach gemeinsamen Berechnungen von Weltbank und dem chinesischen Umwelt- sowie dem chinesischen Gesundheitsministerium sterben jährlich rund 650.000 Chinesen "vorzeitig" an den Folgen der Luftverschmutzung und weitere 60.000 an verunreinigtem Wasser. Diese Zahlen haben die chinesischen Auftraggeber der Erhebungen aufgeschreckt. Nur in die falsche Richtung. Im Juni 2007 setzten sie bei der Weltbank die Streichung der Todesstatistik durch. Als Grund für die Zensur nennen Wissenschaftler, die an den Studien teilgenommen haben, aber anonym bleiben wollen, "dass die Zahlen soziale Unruhen auslösen könnten".
Eine realistische Befürchtung: Denn immer häufiger kommt es im Land zu Protesten. Es sind viele kleine Brandherde, welche die politische Stabilität im Land gefährden. Und die sich zu einem Flächenbrand ausweiten könnten - mit einer ähnlichen Kraft wie der Protest der Studenten gegen Korruption und Vetternwirtschaft auf dem Tiananmen-Platz im Jahre 1989. Heikel für das Regime ist das Aufbegehren gegen die Umweltverschmutzung besonders deshalb, weil Chinas kommunistische Partei ihre Diktatur nicht mehr ideologisch legitimiert, sondern über ein Wirtschaftswachstum, das beruhigen soll. Das chinesische Volk, so analysieren Politikwissenschaftler die Situation, wird so lange auf Mitsprache verzichten, wie seine Regierung das Versprechen einhalten kann, der Wohlstand werde weiter wachsen. Bricht der Aufschwung ab, und sei es durch Umweltschutzauflagen, muss die Partei die Aufstände all jener befürchten, die bislang zu kurz gekommen sind, allen voran der vermutlich 200 Millionen Wanderarbeiter, die zwischen ihren Dörfern und Industriezentren wie Shenzhen, Shanghai oder Wuhai pendeln. Gegen deren pozentielle Verzweiflung setzt die Partei den Wirtschaftsboom und heizt ihn an: mit billiger Energie.
Wachstum gegen Umweltschutz
Das Dilemma wäre kleiner, gäbe es die Kohle nicht. China ist von ihr so abhängig wie keine andere Volkswirtschaft. Denn auch wenn dort inzwischen mehr Sonnenkollektoren installiert sind als in allen europäischen Ländern zusammen und zu den bestehenden zehn Kernkraftwerken bis 2030 weitere 100 kommen sollen: Zwei Drittel ihres elektrischen Stroms gewinnt die Volksrepublik aus Steinkohle. Um sie nutzen zu können, muss die Volksrepublik nicht - wie für Öl im Sudan, Iran oder Venezuela - um Lieferverträge buhlen. Zwei Milliarden Tonnen Kohle verbraucht das Land derzeit pro Jahr - mehr als die USA, Japan und die Staaten der EU zusammen. Und statt den Kohleverbrauch zu drosseln, wie von Klimaexperten gefordert, baut China seine Kapazitäten massiv aus. 562 neue Kohlekraftwerke sind bis 2015 geplant. China verstößt damit nicht gegen das auslaufende Klima-Protokoll von Kyoto. Denn die Regierung hat den Vertrag zwar ratifiziert, als "Entwicklungsland" musste China sich aber nicht zur Reduzierung der Treibhausgase verpflichten. Die Führung lehnt das weiterhin ab und verteidigt sich gegen Vorwürfe, das Land mache damit alle Fortschritte der anderen Unterzeichnerstaaten zunichte.
Nur zwei von 100 Chinesen haben ein Auto
Tatsächlich haben bisher nur zwei von 100 Chinesen ein Auto - aber 50 von 100 Deutschen. Privater Stromverbrauch fällt in China noch kaum ins Gewicht. Es ist die Schwerindustrie, welche die Energie geradezu frisst: China produziert inzwischen 50 Prozent des Zements und der Glasscheiben, die weltweit verbaut werden, ein Drittel allen Aluminiums. Und es hat Japan 2006 als zweitgrößten Hersteller von Autos und Lastwagen überholt. "China hat sich für die Kohle entschieden", konstatierte das Wissenschaftsmagazin "Nature" nüchtern, "die Frage ist nun: Wie bekommt man sie sauberer?" Das Zauberwort heißt "Energie-Effizienz", also ein besseres Verhältnis zwischen produzierten Waren und Dienstleistungen und der dafür aufgewendeten Energie. Und das plant China zumindest auf dem Papier: Der elfte Fünfjahresplan der chinesischen Regierung sieht bis 2020 eine Vervierfachung des Bruttosozialprodukts vor, aber nur eine Verdoppelung des Energieverbrauchs. Und die nationale Umweltbehörde SEPA präsentierte 2006 erstmals ein "Grünes BSP": Es zieht die Kosten der Umweltschäden vom Bruttosozialprodukt ab - nach Berechnungen der SEPA waren es im Jahr 2004 landesweit mindestens drei Prozent. Statt um zehn Prozent wäre die chinesische Wirtschaft mithin nur um sieben Prozent gewachsen - und damit nicht schneller als Schwellenländer wie Brasilien oder Indien.
Das Grüne BSP war eine Lieblingsidee von Präsident Hu Jintao, die Veröffentlichung eines entsprechenden Berichtes wurde allerdings schon nach einem Jahr wieder eingestellt. Das Projekt, so berichtete die "New York Times", scheiterte am Widerstand mächtiger Parteikader in der Provinz. Wang Jinnan, der Leiter des Forschungsteams, erklärte: "Funktionäre mögen es nicht, wenn sie öffentlich vorgeführt werden, weil sie die Ziele der Parteiführung nicht erreichen. Sie haben es nicht akzeptiert." Die SEPA verleiht nun den Preis "Grüne China-Champions" für vorbildliche Umweltschützer. Der Vizedirektor der Behörde, Pan Yue, hat das Schlusslied geschrieben. Und er findet deutliche Worte, wer Schuld am ökologischen Notstand im Land trägt: "Diese verrückte Expansion stark verschmutzender und Energie verschwendender Industrien fördert nur den Eigennutz. Einige Unternehmen behandeln die natürlichen Ressourcen, die uns allen gehören, wie ihr Privateigentum. Und die lokalen Regierungen schützen sie dabei." Was Pan Yue in seiner Kritik nicht erwähnt, was aber in China jeder Eingeweihte weiß: Viele Beamte und Parteimitglieder profitieren genau von dieser Struktur, entweder weil sie an den betreffenden Firmen beteiligt sind oder weil sie von den Unternehmen großzügig mit Zuwendungen bedacht werden.
Gegen die Rücksichtslosen will die Umweltbehörde SEPA, so erklärt ihr Vize Pan Yue, demnächst hart vorgehen. Und zwar so, dass die Korruption in der Provinz die nationale Emissionskontrolle nicht konterkarieren kann. Drastisches Mittel dagegen: ein gigantisches Abrissprogramm, wie es bislang allerdings mehr in Vorführvideos als in der Realität zu sehen ist. "Zerstört verschmutzende Industrien", steht als Losung über dem Eingang der Umweltbehörde von Wuhai. "Die Zentralregierung hat die Probleme erkannt. Endlich darf ich nun handeln", sagt Zhu Jianhong, der stellvertretende Direktor der lokalen Aufsichtsbehörde, der so viel um das "Dilemma" weiß, und kann als erstes Ergebnis seiner Arbeit immerhin aufzählen: "Wir haben 88 Kalköfen, 51 Kohleminen, 49 Kokereien und 29 Chemiefabriken abgerissen." Die Auswahl wurde nach Größe getroffen. "Kleine Kokereien brauchen nämlich rund doppelt so viel Kohle wie die großen, um die gleiche Menge Koks zu backen", erklärt Zhu. Und ergänzt: "Wir müssen den Preis für Kohle weiter niedrig halten und die Emissionen von Schwefel- und Stickstoffdioxide senken."
Selbstmord wegen Abriss der Kokerei
Im Industriepark bei Wuhai trifft diese Politik des harten Entscheids allerdings nicht nur auf Freunde. Inmitten einer Geröllhalde aus Backsteinen, Glassplittern und haltlosen Stahlträgern steht Xiao Like und beobachtet Arbeiter dabei, wie sie Kohlereste auf einen Lastwagen schaufeln. Seit dem Abriss seiner Kokerei im Sommer 2007 bearbeitet Xiao Vollstreckungsbescheide und vertröstet Gläubiger. Xiaos Familie war durch Kohleminen zu Geld gekommen. Er wollte daraus ein Vermögen machen, denn durch die globale Stahlhausse hatten sich die Kokspreise in den vergangenen Jahren vervierfacht. Zwei Drittel der umgerechnet anderthalb Millionen Euro Investitionssumme lieh sich Xiao bei Geschäftspartnern. Das Geld reichte für eine kleine Kokerei mit einer Jahreskapazität von 120.000 Tonnen - 80.000 unter der neuen Mindestgröße für Kokereien. "Vor vier Jahren interessierte sich niemand vom Bauamt für Jahreskapazität und Wirkungsgrade, Hauptsache es kam Koks aus den Öfen", sagt der Enttäuschte. Mit der Stadtregierung hat Xiao eine Kompensation von umgerechnet 400.000 Euro ausgehandelt. Vielleicht wird er damit die Verpfändung seines Hauses verhindern können. "Wenn die Stadt nicht zahlt", droht er, "springe ich vom Dach, wie meine Nachbarin." Die hatte Selbstmord begangen, weil sie nach dem Abriss ihrer Kokerei auf einem Kredit von über einer halben Million Euro sitzen geblieben war.
Beim Wort Energieeffizienz schüttelt Xiao Like nur den Kopf. "Feihua, feihua" - Unsinn, Unsinn, entrüstet er sich. "Warum haben sie meine Kokerei abgerissen, aber ebenso kleine stehen gelassen?" Er gibt die Antwort selbst: "Weil deren Besitzer bessere Beziehungen zur Regierung haben." Kumpanei verhindere auch wirksame Emissions-Kontrollen. Xiao zeigt wütend auf die Fabrik des staatlichen Kraftwerksgiganten Shenhua. "Sind die Schwefeldämpfe aus diesen Schloten etwa nicht schädlich?", fragt er. Die Kokerei Shenhua, mit einer Million Tonnen Jahreskapazität, gilt der Umweltbehörde in Beijing als Modell. Nur: Auch sie schliert den Himmel mit Schwefelfahnen zu. "Die machen das wie immer: Rückt eine Kontrolle des Umweltamtes an, gibt ein Kumpel aus der Stadtregierung einen Tipp, und schon fahren sie die Befeuerung runter, damit die Emissionen unter die Grenzwerte fallen", vermutet Xiao Like. Wenige Straßenecken von der abgerissenen Kokerei entfernt beobachten wir, wie der Betreiber einer Silizium-Schmelze die Umweltauflagen umgeht. Silizium ist ein Halbmetall und wird in der Bauindustrie verwendet; in hochreiner Form auch in Computerchips und Solarzellen. China ist der größte Produzent von Silizium, das bei 2000 Grad Celsius aus Siliziumdioxid und Kohlenstoff entsteht. Bei diesen Temperaturen fallen viele Rückstände an. Das Gesetz schreibt vor, sie aus der Abluft zu filtern.
Aus Filteranlagen, groß wie Mähdrescher, müssen die Rückstände zur Entsorgung in Plastiksäcke geschaufelt werden. Auf dem Hof einer Silizium-Schmelze in der Nachbarschaft sammeln sich diese Säcke im Tagesverlauf an - auf dem Hof der von uns beobachteten Fabrik nicht, obwohl auch sie volle Auslastung fährt. Der Grund: Sobald die Anlage vom Umweltamt abgenommen ist, sparen viele Fabrikanten die Betriebskosten für den Filter. Sie schalten ihn einfach ab und entlassen die Emission in die Luft. Und es gibt niemanden in Wuhai, der dies verhindern könnte, dem Optimismus des Zhu Jianhong zum Trotz. Die Umweltbehörde in Beijing hat viel zu wenige Mitarbeiter, um die Provinz wirksam zu kontrollieren. Ein Grund dafür, dass 95 Prozent der neu errichteten Gebäude nicht den nationalen Bauvorschriften für Energie-Effizienz entsprechen, wie wiederum Experten der Weltbank berichten.
Für "Regierungs-Kritik" drohen Gefängnisstrafen oder Zwangsarbeit
Auch eine starke, landesweite Ökologiebewegung gibt es in China bislang nicht. Zwar decken Bürgerinitiativen immer wieder Umweltskandale auf, aber die Beteiligten riskieren dabei mindestens von der Polizei verhaftet zu werden. Wenn nicht gar Ärgeres. Für das Delikt "Regierungs-Kritik" drohen noch immer Gefängnisstrafen oder Zwangsarbeit. Und so wird die Verschmutzung weitergehen, im Industriepark von Wuhai wie anderswo im Lande. Zwar mit weniger Kokereien, Siliziumschmelzen und Chemiefabriken - aber mit größeren. Die Energie-Effizienz sollte nach dem aktuellen Fünfjahresplan um jährlich vier Prozent steigen. Tatsächlich aber sinkt sie. Im ersten Viertel dieses Jahres wuchs Chinas Wirtschaft um 11,9 Prozent, gleichzeitig verbrannte es 18 Prozent mehr Kohle. Und die Kluft weitet sich. Eine Studie des US-amerikanischen Peterson-Instituts über Umweltschutz in China kommt zu dem Schluss: "Letztlich ist egal, wer die Standards setzt - wie sie angewendet werden, ist fast ausschließlich eine lokale Frage." Und dort entscheiden Beamte und Parteikader, die von der Bevölkerung nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Das wirksamste Mittel zum Schutz von Mensch und Natur, argumentieren Umweltexperten, seien nicht schärfere Gesetze, größere Fabriken oder bessere Technologien. Es sei die Demokratie.