Europa schläft, als die Weltgemeinschaft am 11. Dezember 1997 den globalen Emissionshandel erfindet. Es ist die letzte Nacht des Klimagipfels in Kyoto; manche Delegierte bringen ihre gepackten Koffer mit in den Saal, um ihre Flüge nicht zu verpassen. Die Verhandlungen stehen kurz vor dem Scheitern. Satz für Satz paukt der Verhandlungsführer das Protokoll durch und besiegelt jede Passage durch einen Schlag mit seinem Holzhammer.
Seit Tagen streiten die Abgesandten darüber, was getan werden muss, um die drohende Erderwärmung abzuwenden. Die Europäer sind nicht im Saal, als die Konferenz das Ablassgeschäft beschließt. Im Kern sagt es Folgendes: Die Industriestaaten können sich von ihrer Verpflichtung freikaufen, weniger CO2 auszustoßen, indem sie andere Länder dafür bezahlen, an ihrer Stelle Emissionen einzusparen. Heiße, dreckige Luft wird in dieser Nacht zu einem Gut, das auf einem weltweiten Markt gehandelt werden kann wie Öl oder Gold.


Zwölf Jahre später, im August 2009, erhält Hans-Joachim Gille aus Bergheim-Rheidt seine Stromabrechnung. Er hat im vergangenen Jahr 8224 Kilowattstunden verbraucht. Der Energiekonzern RWE berechnet ihm dafür 1793,43 Euro. Ein Teil dieser Summe, nach GEO-Berechnungen mindestens 100 Euro, fließt in das Geschäft mit der heißen, dreckigen Luft. Diese Rechnung verknüpft Hans-Joachim Gille, ohne dass er dies weiß, mit dem Schicksal eines Bauern in China, mit dem Glück einer Hausfrau in Sambia, mit einem Strom-Spekulanten in Essen und den Beamten im bürokratischen Getriebe einer Weltbehörde.
Sie alle sind Teilnehmer an einem Experiment. Es beruht auf dem Glauben, der Kapitalismus könne das Klima retten. Hans-Joachim Gille wohnt mit seiner Frau und einer Tochter in einem kleinen Einfamilienhaus mit Giebeldach am Ende einer Sackgasse. RWE führt ihn als Privatkunden, er ist einer von 16 Millionen. Ein Haushalt in Deutschland: die üblichen Elektrogeräte, eine Modelleisenbahn, ein beleuchtetes Aquarium. Gille, Jahrgang 1941, hat sein Leben lang als Ingenieur im Kohlenbergbau gearbeitet, dafür ist er aus Berlin ins rheinische Braunkohlenrevier gezogen. Gut einen Kilometer hinter seinem Haus steigen aus den Kühltürmen des Kraftwerks Niederaußem Wolkenschwaden in die Höhe. Im Sommer, wenn anderswo die Sonne scheint, sitzen die Gilles manchmal stundenlang im Schatten. Gille geht es wie Deutschland: Er verdankt der Kohle seinen Wohlstand, aber am liebsten würde er auf sie verzichten. Er will nicht, dass sie ihm das Wetter ruiniert.
Im Kraftwerk Niederaußem reihen sich Heizkessel wie auf einer Zeitleiste aneinander; sie zeugen von einem unstillbaren Energiehunger. Die ältesten, ganz links, galten Anfang der 1960er Jahre als kaum beherrschbare Riesenmaschinen. Der neueste Block, ganz rechts, mit 1000 Megawatt Kapazität fast siebenmal stärker, besitzt vorn zwei schlanke Türme wie der Kölner Dom, nur höher, doch das Filigrane steckt im Inneren: ein Geflecht aus Rohren und ein Heizkessel mit der Leistung eines Atommeilers. Nur noch 57 Prozent der Verbrennungswärme entweichen nutzlos durch Kamin und Kühltürme, sagen die Ingenieure stolz.
Der Block ist das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt, eine Milliarde Euro hat sein Bau gekostet. Damit sich diese Investition lohnt, muss es bis mindestens ins Jahr 2042 Kohle verbrennen, es wird in dieser Zeit 250 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Im Leitstand blicken die Kraftwerksmeister mit einer Kamera ins Innere des Heizkessels. 30 Sekunden Flackern auf den Monitoren, dann ist jene Menge Strom entstanden, die Hans-Joachim Gille in einem Jahr verbraucht. Und dazu heiße, dreckige Abluft: sechseinhalb Tonnen CO2 mehr in der Atmosphäre.
Gilles Aquarium ist somit ein globales Problem. Und ein Problem für RWE. Denn Deutschland hat versprochen, bis zum Jahr 2020 mindestens 22 Prozent weniger CO2 auszustoßen als heute. Deswegen steht auf dem Schreibtisch im Leitstand von Niederaußem ein schwarzes Telefon. Wenn es klingelt, bekommt der Schichtführer den Auftrag, seine Heizkessel hoch- oder runterzufahren. Eine direkte Leitung nach Essen, zur Konzernzentrale von RWE. Dort sitzt Peter Krembel in einem Glashaus vor sechs bunt flackernden Computermonitoren. Krembel ist der Mann, der das Problem CO2 für RWE aus der Welt schaffen muss. Er ist Börsenspekulant. Luftverschmutzung ist für Peter Krembel eine Frage des Preises, er kann ihn auf einem seiner Bildschirme links unten ablesen.
15,64 Euro sind es an einem Tag im Juni 2010. Das ist die Summe, die RWE für das Recht bezahlt, im Kraftwerk Niederaußem eine Tonne Kohlendioxid durch den Schornstein zu jagen.
Die Idee, CO2 mit einem Preisschild zu versehen, stammt ursprünglich aus den USA. In Kyoto machte der damalige US-Präsident Bill Clinton den Emissionshandel zur Bedingung für seine Unterschrift unter das Klimaschutzabkommen; die USA wollten sich von ihrer CO2-Schuld freikaufen. Widerstrebend willigte der Rest der Welt ein. Genützt hat dieses Einlenken nichts. Die Amerikaner weigern sich bis heute, die Beschlüsse von Kyoto umzusetzen. Dafür betreiben die Europäer, die eigentlich gegen das Geschäft mit den Verschmutzungsrechten waren, seit 2005 den weltgrößten CO2-Markt.
Emissionshandel beruht auf der Annahme, dass es dem Klima gleichgültig ist, an welchem Ort der Welt Verschmutzung reduziert wird, und auf dem Glauben, dass keine Regierung die verabredete Reduktion so effizient umsetzen kann wie die Privatwirtschaft. Damit der Dreck aus den Schornsteinen in ein handelbares Gut verwandelt wird, richten die Regierungen für jeden Großverschmutzer in Europa ein Konto ein, gefüllt mit CO2-Zertifikaten. Ein jedes steht für das Recht, eine Tonne CO2 in die Luft zu blasen. Für das Kraftwerk Niederaußem hat RWE im Jahr 2010 knapp 15 Millionen Zertifikate bekommen, das deckt gut die Hälfte der Emissionen ab. Ist das Konto leer, muss der Spekulant Peter Krembel entweder Niederaußem herunterfahren lassen oder Zertifikate zukaufen.
Müsste Krembel ausschließlich mit anderen europäischen Verschmutzern handeln, wäre der Markt womöglich irgendwann leer gefegt, die Preise würden immer weiter steigen. Braunkohle in Strom zu verwandeln wäre ein Verlustgeschäft. Dies wäre der Mechanismus, der Krembel dazu zwingen würde, zum Telefon zu greifen und Niederaußems Leistung zu drosseln. RWE müsste in klimaschonende Technologie investieren. Doch bei einem Marktpreis von 15,64 Euro für eine Tonne CO2 kann Peter Krembel sich entspannt zurücklehnen. Jene Strommenge, die Niederaußem mit dieser Emission produziert, kann er an der Energiebörse zum dreifachen Preis verkaufen. Die Zertifikate sind so billig, weil der Emissionshandel ein Schlupfloch offen lässt: eben das Ablassgeschäft zwischen Industriestaaten und dem armen Rest der Welt.
Es wird vor allem finanziert von Stromkunden wie Hans-Joachim Gille, denn an ihn reicht RWE die Kosten für die zugekauften Zertifikate weiter. Gille hat keine Vorstellung davon, was mit seinem Geld geschieht. Er ahnt nicht, dass sein Beitrag die Hausfrau Patricia Cheelo, 52 Jahre alt, in Sambias Hauptstadt Lusaka, 7683 Kilometer südlich von Bergheim-Rheidt gelegen, glücklich macht.
Sandige, ausgefahrene Straßen führen aus dem Zentrum der Millionenmetropole Lusaka in den Stadtteil Garden Mtengo, eine Ansammlung flacher Häuser in ausgewaschenen Farben und winziger Läden mit Namen wie "God Give Grocery". Hier wohnt Patricia Cheelo, Mutter von sieben Kindern. Sie hat eine schwierige Zeit hinter sich.

"Mein Mann hat mich vor fünf Jahren verlassen, wegen einer anderen Frau. Er hat uns kein Geld gegeben, nichts. Allein konnte ich die Schulgebühren meiner Tochter Florance nicht mehr bezahlen", erzählt Cheelo. Seit einigen Monaten aber geht Florance wieder zum Unterricht. Mit dem Geld, das Hans-Joachim Gille unfreiwillig in den Emissionshandel investiert, kauft RWE Tausende Holzkocher und verteilt sie in Sambia. Einer dieser Kocher steht im staubigen Hof hinter Patricia Cheelos Haus: eine glänzend polierte Tonne aus Edelstahl, sechseckig, kniehoch, mit Luftlöchern an den Seiten.
Zum Kochen braucht Cheelo nur ein paar Holzstöckchen, schmal wie ihre Finger und kurz wie Bleistifte, die sie in die Brennkammer im Innern der Tonne legt. Und sie benutzt einen besonders dicht schließenden Topf. Bis vor Kurzem verbrauchte Cheelo zwei mannshohe Säcke Holzkohle im Monat, um für sich, ihre Kinder und Enkel die Mahlzeiten zuzubereiten. Sie gab dafür mehr als ein Drittel ihres Monatseinkommens aus, umgerechnet 28 Euro. Dank des RWE-Kochers, der 80 Prozent Energie einspart, hat Patricia Cheelo mehr als 20 Euro übrig - genügend, um Florance zur Schule zu schicken. Und weil der Herd auch unbeaufsichtigt brennen kann, hat sie wieder Zeit, ihren kleinen Laden zu betreiben, wo sie Erdnussbutter, Sonnenblumenöl und Maismehl verkauft.
Als RWE davon erfuhr, dass GEO einen Beitrag zum Thema Emissionshandel plant, schlug das Unternehmen vor, dafür das Holzkocher- Projekt in Sambia zu besichtigen. Es ist eine jener Ausgleichsmaßnahmen, wie sie Befürworter des Emissionshandels anführen, weil hier jeder gewinnt. Hans- Joachim Gille darf seine Fische im Aquarium rund um die Uhr beleuchten, Patricia Cheelo ihre Tochter zur Schule schicken. Sambias bedrohlich schrumpfende Wälder werden ebenso geschont wie das Klima.
Ginge es nach RWE, wäre diese Geschichte hier zu Ende. Doch das Holzkocher-Projekt ist auch ein Beispiel für den eskalierenden Wahnsinn, der mit der Idee einhergeht, andere dafür zu bezahlen, dass sie, nicht wir selber, den CO2-Ausstoß reduzieren. Für RWE hat Patricia Cheelos Wunderkocher nur dann einen Nutzen, wenn sich damit Zertifikate erzeugen lassen, die das Unternehmen für sein Kraftwerk Niederaußem einsetzen kann. Dafür muss RWE nachweisen, dass mit Cheelos neuem Herd tatsächlich CO2 eingespart wird.
RWE darf die Edelstahltonne nicht einfach verschenken, da die Gefahr zu groß wäre, dass sie zum Müllschlucker umfunktioniert würde. Deswegen muss Cheelo sie mit monatlich rund zwei Euro abzahlen. Um den Eingang des Geldes nachzuweisen, musste in Lusaka, wo Verkehrsampeln nur sporadisch funktionieren, eigens ein elektronisches Bezahlsystem aufgebaut werden.
Und Patricia Cheelo muss, das ist wichtig für die CO2-Bilanz von RWE, ihren Kocher sachgerecht nutzen. Dies überwacht ein RWEKontrolleur bei seinen regelmäßigen Besuchen. Er ist einer von 140, die das Unternehmen in Sambia beschäftigt. Manche der energiesparenden Tonnen stehen in abgelegenen Hütten mit unklarer Adresse, weshalb die Standorte aller 30 000 Kocher, die RWE bis Mitte kommenden Jahres verteilen will, per GPS erfasst werden.
Das Holz, das Cheelo verbrennt, darf nicht einfach im Wald geschlagen werden, denn das wäre keine optimale Ersparnis. Also hat RWE 1000 Holzplantagen in Sambia anlegen lassen. Dafür durfte kein Wald gerodet, aber auch kein Ackerland bepflanzt werden. Denn gehen Felder verloren, wird dafür mit hoher Wahrscheinlichkeit anderswo Wald abgeholzt. Um zu beweisen, dass Bäume ausschließlich auf Brachland gepflanzt wurden, ließ RWE die Plantagen mit GPS vermessen und diese Daten dann mit Satellitenbildern der vergangenen zehn Jahre abgleichen. All diesen Aufwand treibt der Stromkonzern, um sich Zertifikate für sein CO2-Konto zu sichern.
Innerhalb eines Jahres werden die Holzkocher in Sambia 130 000 Tonnen CO2 einsparen. Im Kraftwerk Niederaußem geht diese Menge in anderthalb Tagen durch den Schlot. Wer denkt sich so etwas aus? Der "Exekutivrat", die Weltregierung des Emissionshandels, tagt in Bonn, in einem Bürohochhaus am Rhein. Besucher werden in den 21. Stock geleitet. Teppiche, kahle Wände, sechs Stuhlreihen. Vorn die blaue UN-Flagge und eine Leinwand - darauf groß immer neue Dokumente mit Zahlen, Formeln, Schaubildern und klein, unten rechts auf der Leinwand, das Gesicht des gerade Vortragenden. Näher lässt die Weltregierung niemanden an sich heran, wo genau sie im Hochhaus sitzt, bleibt ihr Geheimnis.
Als die Staatengemeinschaft 1997 den Ablasshandel zwischen reichen und armen Ländern erfand, benötigte sie dafür zwei Seiten im Kyoto-Protokoll. Der Markt sollte sich selbst schaffen, der Exekutivrat nur Schiedsrichter im freien Spiel des Handels sein. Etwa alle zwei Monate konferieren die 20 Beamten und Experten des Rats. An einem Donnerstag im Mai 2010 sind auf der Leinwand Krawatten und Anzüge, aber auch Saris und afrikanische Gewänder zu sehen.
Das Problem, das die Beamten in der zweiten Hälfte 2010 am meisten beschäftigt, sind Kühlmittelfabriken vor allem in Indien und China, in denen als Abfallprodukt ein extrem klimaschädliches Gas anfällt. Als die Firmen beginnen, das Gas zu verbrennen, werden sie vom Exekutivrat dafür mit Zertifikaten belohnt - sehr vielen Zertifikaten: Für jede Tonne Gas, die sie vernichten, bekommen die Firmen Abluftgutscheine im Wert von 175 000 Euro. Die verkaufen sie nach Europa.
Ein perverser Anreiz: Der Emissionshandel verführt die Firmen dazu, ihre Produktion zu steigern und Kühlmittel herzustellen, das niemand braucht. Bis ihnen Lambert Schneider, früher Berater des Exekutivrats, auf die Schliche kommt. Er deckt diesen ersten großen Skandal des Emissionshandels auf. Aber im UN- Gremium verhindern Indien und China, dass die Zertifikate für ungültig erklärt werden.
Nachmittag im Hochhaus, Diagramme auf der Leinwand. Einer der Beamten ist eingeschlafen. Das Treffen dauert schon vier Tage, die Debatte fasert immer weiter aus, dreht sich um Marktpenetration, Emissionsfaktoren, Stromnetze in Afrika. Der Rat von Bonn bildet das Gefüge der Klimaverhandlungen ab: eine Art immerwährendes Kyoto, eine ewige Konferenz. 600 Tage dauert es im Schnitt, bis diese Abluft-Bürokratie ein Projekt genehmigt und die ersten Zertifikate ausstellt. Die Unterlagen zum Kocher von Patricia Cheelo umfassen mehr als 250 Seiten.
Trotzdem sagt Clifford Mahlung, Meteorologe aus Jamaika und Vorsitzender des Exekutivrats, das System sei "ein voller Erfolg! 2400 registrierte Projekte!". Kyoto hat ein Monster geschaffen, das sich schön findet, wenn es in den Spiegel schaut. In Wirklichkeit ist der Rat überfordert; der Markt dehnt sich viel zu schnell aus. RWE hat eine eigene Abteilung, 32 Mitarbeiter, deren einzige Aufgabe darin besteht, überall auf der Welt möglichst billige Zertifikate heranzuschaffen. Wie die Beamten in Bonn über ihren Papieren brüten, interessiert sie nur am Rande. Denn zur gleichen Zeit werden nur 26 Kilometer nördlich, auf der anderen Rheinseite, neue Geschäfte eingefädelt.
Beim Emissionshandel begegnen sich Käufer und Verkäufer nur selten von Angesicht zu Angesicht. Peter Krembel, der RWE-Spekulant, handelt das unsichtbare Gas in Form papierloser Zertifikate an elektronischen Börsen. Doch einmal im Jahr versammeln sich Abluft- und Ablassexperten im Kölner Messezentrum zur "Carbon Expo", zuletzt im Mai 2010. RWE ist da, E.ON, Vattenfall, das Team der Ingenieure vom TÜV.
Und viele Investmentbanker; sie stehen um Bistrotische, zerbröseln Brezeln und trinken Sekt-Orange. In Europa hat der Markt inzwischen ein Volumen von mehr als 100 Milliarden Euro. Sollten die USA doch noch einsteigen, wird der Markt auf mehr als eine Billion Euro taxiert. Goldman Sachs, Amerikas wichtigste Investmentbank, befürwortet den Emissionshandel. Einige afrikanische Länder sind ebenfalls auf der Carbon Expo vertreten.
Godfrey Ssemakula, ein Regierungsbeamter aus Uganda, hat Müllkippen im Angebot, die mächtig Methan ausstoßen und dringend saniert werden müssten. Doch er klagt, es sei schwer geworden, Interessenten zu finden. "Vor zwei Jahren haben wir den Anbietern ihre Projekte noch aus den Händen gerissen", erzählt eine Bankerin. "Aber zur Zeit dümpelt der Markt vor sich hin."
Denn es gibt einfach zu viele Zertifikate. Dieses Problem plagt den Markt schon seit Beginn des Emissionshandels 2005. In den ersten drei Jahren wurden alle Verschmutzungsrechte an die Unternehmen verschenkt, in so großer Menge, dass das Überangebot den Preis zeitweise unter einen Euro drückte. RWE hatte vorsorglich die Strompreise erhöht und verdiente damit nach Angaben einer Nachrichtenagentur schon im ersten Jahr 1,8 Milliarden Euro. "Windfall-Profit" nennen Betriebswirte einen solchen unverdienten Geldregen.

RWE wollte die "internen wettbewerbsrelevanten Berechnungen" nicht offenlegen, verweist lediglich darauf, dass es "politisch gewollt" war, dass sich der Zertifikatehandel im Strompreis niederschlägt. Außerdem leiste das Unternehmen mit "milliardenschweren Investitionen" zur CO2-Reduktion in den Kraftwerken einen Beitrag zum Klimaschutz. In welchem Maße der Emissionshandel den Strompreis für Privatkunden erhöht, lasse sich nicht konkret berechnen, sagt das Unternehmen.
Die erste Phase galt als Probelauf; in der zweiten Phase seit 2008 hat die EU weniger Zertifikate zugeteilt. Nur die Stahlbranche bekam weiterhin reichlich Abluftgutscheine geschenkt, weil sie damit drohte, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern. Stromkonzerne dagegen können nicht abwandern, aber sie können die Kosten bequem an ihre Kunden weiterreichen. RWE, Europas größter CO2-Emittent, musste 44 Millionen Zertifikate allein im Jahr 2009 zukaufen. Derzeit wird der Emissionshandel überwiegend von Stromkunden finanziert, von Menschen wie Hans-Joachim Gille.
Dennoch, so die Idee, sollte das sinkende Angebot an Zertifikaten seit 2008 die Verschmutzer dazu drängen, in Klimaschutz zu investieren: Windparks aufzubauen, alte Kohlekraftwerke abzuschalten. Dann kam die Rezession. Überall in Europa schrumpften Industrieproduktion und damit auch CO2- Emissionen. Plötzlich hatten viele Firmen Zertifikate übrig. Der Stahlriese ArcelorMittal saß Ende 2008 auf überschüssigen Verschmutzungsrechten im Wert von mindestens 500 Millionen Euro, für die er keinen Cent bezahlt hat. Verkauft das Unternehmen diese überschüssigen Zertifikate an RWE, subventioniert Hans-Joachim Gille mit seinem Klimapfennig Stahlöfen in Eisenhüttenstadt und Bremen. Sie gehören zu den großen CO2-Dreckschleudern Europas.
Wegen der Rezession werden am Ende der zweiten Handelsperiode 2012 bis zu 700 Millionen Zertifikate übrig sein. Das bedeutet, dass die dritte Handelsperiode, die zu spürbar weniger Emissionen führen sollte, für Europas Industrie mit einem Guthaben von 700 Millionen Tonnen CO2 beginnt, weil die Zertifikate aus Phase zwei nicht verfallen. Eigentlich wäre die Rezession ein Segen fürs Klima gewesen, doch der Emissionshandel annulliert diesen Vorteil. Verdeckte Subventionen wie jene für den Stahlhersteller ArcelorMittal berühren einmal mehr ein Dilemma des Emissionshandels, es entsteht aus der Philosophie des freien Marktes.
Würde ein starker Staat die CO2-Last per Gesetz regulieren, entstünde den Unternehmen daraus die Pflicht, den Ausstoß des Klimagases zu reduzieren. Der Emissionshandel dagegen schafft erst einmal das "Verschmutzungsrecht". Und Abluft, bisher unerwünschtes Nebenprodukt, wird so zu einem wertvollen Rechtsgut, um das sich RWE und Umweltbundesamt in milliardenschweren Prozessen streiten. Gerecht wäre Emissionshandel, wenn die UN jedem Menschen auf der Erde ein Verschmutzungsrecht für 1,7 Tonnen CO2 pro Jahr zuwiesen. Mehr kann die Atmosphäre nicht vertragen. Stattdessen gestattet die EU zum Beispiel jedem Deutschen ein Budget von 5,5 Tonnen pro Jahr, und das allein schon für Industrie- und Stromproduktion. Das Umweltbundesamt verteilt dieses Budget an Zement-, Stahl- und Kraftwerke, nach dem Schlüssel: Wer schon bisher viel CO2 ausgestoßen hat, bekommt die meisten Zertifikate. Solarfirmen und Windparks gehen leer aus.
Damit der Emissionshandel nicht den Verursachern des Drecks, sondern dem Klima nützt, müssten die Zertifikate deutlich verknappt werden. Denn bei diesem Geschäft besteht die Ware - anders als bei Gold oder Erdöl - nur in der Fantasie der Marktteilnehmer. Knapp und damit wertvoll werden Anteilsscheine nur, wenn der freie Markt von starken politischen Akteuren kurzgehalten wird. Fehlt der politische Wille, Emissionen zu begrenzen, schafft dies auch der Emissionshandel nicht. Das zeigen Erfahrungen aus den USA, wo Schwefeldioxid, Ursache für sauren Regen, in Form von Zertifikaten gehandelt wird. Der Ausstoß wurde damit in 20 Jahren um 35 Prozent reduziert. Deutschland hingegen erließ 1983 einfach ein Gesetz, das Entschwefelungsanlagen vorschrieb, und erreichte eine Reduktion von Schwefeldioxid um 90 Prozent.
Bei der Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen versuchte die EU-Delegation wieder vergeblich, weltweit verbindliche CO2-Sparziele durchzusetzen. Auch bei der Klimakonferenz Anfang Dezember in Cancún rechnet niemand mit einem Durchbruch. In den USA fehlt es Präsident Obama an Macht, um Amerikas Industrie auf CO2-Diät zu setzen. Und China sieht keinen Anreiz, am System etwas zu ändern. Denn kein Land verdient am Emissionshandel besser als jenes, das mehr CO2 in die Atmosphäre ausstößt als alle anderen.
An einem schwülfeuchten Augusttag 2010 klettert der Bauer Zhang Mingsheng auf einen Hügel in seinem Heimatdorf im bergigen Süden Chinas. Mit den Armen balanciert er Pinienholzlatten wie ein Seiltänzer seinen Stab. Ein Holzgerüst soll das blaue Zelt des Katastrophenschutzes überdachen. Daneben eine Hütte, mit Seilen vertäut. Zhang hat sie nach oben getragen. Einen Monat lang hat das gedauert.
Zhang Mingsheng ist Flüchtling in der eigenen Heimat. Ein Leben lang hat er im Tal Reis und Mais angepflanzt; sein Gesicht und sein Hals sind eine bald 70 Jahre alte Landschaft aus Sehnen, Furchen, Muskeln. Nun hat er sich von der Gewissheit verabschiedet, Bauern wie er seien die Herren des Wassers im Bala-Flusstal. Dass jemand in einem fremden Teil der Erde mit seinem Schicksal Geschäfte treiben könnte, übersteigt allerdings Zhangs Vorstellungskraft. Vor acht Jahren ließen die Behörden des Kreises Taijiang, Provinz Guizhou, Plakate im Dorf aushängen; Zhang las, ein Staudamm werde gebaut. Der Pegel des Bala- Flusses werde steigen, Zhang müsse Felder und sein Haus opfern. Die Behörden boten den Bauern eine neue Heimat an, Häuser aus Stein und Nutzland auf dem Gelände eines ehemaligen Gefängnisses.
Kundschafter berichteten jedoch, an jenem Ort herrsche Wassermangel. Die Bauern beschlossen, am Bala- Fluss zu bleiben. Warum sollten sie wegziehen? Arbeiter kamen ins Dorf, beschützt von Polizisten. Sie zerstörten Häuser am Fluss und zwangen Bauern, ihrer Umsiedlung zuzustimmen. Als jemand die Zerstörung filmte, schritt die Polizei ein. Die Dörfler flohen kilometerweit, entkamen und schickten zwei Teenager mit dem Film in die Provinzhauptstadt. Polizisten stürmten Busse und errichteten Straßensperren, aber die beiden schafften es, in einem 24 Stunden langen Fußmarsch. Sie retteten den Film. Er ist im Internet zu sehen.
Im Sommer 2010 herrscht Chaos im Dorf Nan Zhuang. Etwa 300 Familien, sagen die Bauern, hätten Ackerland verloren, 60 sogar ihre Häuser. Immer mehr Dörfler reihen sich irgendwo in China ins Heer der Wanderarbeiter ein, auch Frauen und Ältere. Zhiheng, Zhangs ältester Sohn, arbeitet als Arzt in einer Klinik in der Kreisstadt. Sein Chef hat ihm befohlen, den Vertrag zur Umsiedlung der Familie zu unterschreiben. Auch andere, die ihr Gehalt von der Regierung bekommen, Lehrer etwa, sind auf diese Weise erpresst worden. Inzwischen steht am Ausgang des Tales eine 70 Meter hohe Staumauer.

Zweimal wurde Zhangs Haus überflutet, aber er hofft immer noch, bleiben zu können. Schließlich hätte er selber, als Oberhaupt der Familie, der Umsiedlung zustimmen müssen, und nicht sein Sohn. Die Furcht um sein Zuhause hat ihn zu einer absurden Spitzfindigkeit gezwungen. Er trennte das Zimmer seines Ältesten vom Haus ab und schleppte es auf den Hügel. Damit, hofft er, habe er den Vertrag zur Umsiedlung erfüllt.
Am 14. April 2009 registrierte der UN-Exekutivrat in Bonn den Staudamm am Bala als Projekt Nr. 1953 im Emissionshandel. Innerhalb von sieben Jahren soll das Wasserkraftwerk, das Zhang landlos gemacht hat, knapp eine halbe Million CO2-Zertifikate liefern. Alleiniger Direktkäufer: RWE. Der Stromkonzern kann damit sechs Tage lang Kohle in Niederaußem verbrennen. Die Suche nach Antworten auf die Frage, was im Tal von Bauer Zhang schieflief, führt nach Beijing. In einem Bürohaus mit spiegelnder Fassade, umgeben von Niederlassungen großer Banken, residiert dort die Abteilung "Climate Protection", Vorposten von RWE in China. Die Mitarbeiter hier sind ständig auf der Suche nach "Brennstoff" für Peter Krembel, den Stromhändler in Essen. China liefert mit Abstand die meisten Verschmutzungsrechte für den europäischen Emissionshandel. Aus China kommen Zertifikate, die dem Bedürfnis des Marktes entsprechen: Sie sind billig, für Wasserkraft etwa acht Euro das Stück, und sie werden in Massen hergestellt.

Doch unter welchen Umständen? Der Staudamm am Bala-Fluss wurde RWE von einer chinesischen Beraterfirma angeboten, deren Agenten überall im Land nach Projekten suchen. Der Essener Stromkonzern brauchte sich nicht um die Details der Projektentwicklung zu kümmern, bezahlt am Ende nur die fertigen Zertifikate. Produktionsketten sind lang in der globalisierten Wirtschaft. So lässt sich Verantwortung verschleiern. Dies gilt für Handys wie für Verschmutzungsrechte. Yuan Xijuan, eine junge Beraterin, die gern eine Halskette in Schmetterlingsform trägt, hat für RWE das Projekt Nr. 1953 durch die UN-Bürokratie geschleust. Seit 2005 arbeitet sie Gutachten aus, erstellt Beispielrechnungen, schreibt Anträge.
Damit der Bala-Damm Zertifikate liefern kann, muss Yuan Xijuan beweisen, dass er CO2 einspart. Diese Einsparung wird theoretisch herbeigerechnet, durch ein "Waswäre- wenn"-Szenario. Würde der Strom in Bauer Zhangs Tal von einem Kohlekraftwerk erzeugt, entstünde dabei CO2. Der Damm verhindert also theoretisch den Ausstoß des Klimagases. Diese "Einsparung" kann Deutschland in Form von Verschmutzungsrechten kaufen. Denn jede Tonne CO2, die am Bala verhindert wird, soll ja in den deutschen Himmel gejagt werden.
Aber diese Gleichung könnte überhaupt nur dann sinnvoll sein, wenn der Staudamm ausschließlich wegen des Emissionshandels gebaut worden wäre. Diese "Zusätzlichkeit" ist die wichtigste Vorgabe bei der Genehmigung von Projekten für den Emissionshandel. Ein Staudamm, der sowieso gebaut wird, kann kein Kohlekraftwerk ersetzen. China, schon heute weltgrößter Produzent von Wasserkraft, will die Leistung seiner Staudämme bis 2020 verdoppeln. Niemand kann behaupten, erst der Emissionshandel habe China die Wasserkraft geschenkt. Ist der Damm am Bala-Fluss also "zusätzlich"?
"Ja", sagt Yuan Xijuan. Die chinesischen Behörden dürften kleine und mittlere Staudämme nur dann genehmigen, wenn sie mehr als zehn Prozent Profit abwerfen. Und nur mithilfe der Einnahmen aus dem Emissionshandel werde die Rendite des Staudammbetreibers von 8,76 auf 10,8 Prozent steigen, schrieb sie im Antrag für den Bonner Exekutivrat. Ex-Mitarbeiter von Beratungsagenturen, die zu anonymen Interviews mit GEO bereit waren, halten diese Begründung für nicht stichhaltig. Es seien durchaus Staudämme mit geringeren Profitmargen gebaut worden. Das Genehmigungsverfahren für den Emissionshandel wäre dann aber eine Farce. Es würde nur dazu dienen, den Fluss der Gelder aus Europa sicherzustellen.
Lassen sich Firmen wie RWE in China also gewissermaßen Klima- Falschgeld andrehen? Anders als beim Handel mit Gold oder Öl interessiert die Qualität der Ware im Emissionshandel ja weder den Käufer noch den Verkäufer. China will so viele Zertifikate wie möglich verkaufen, RWE diese so billig wie möglich beziehen. Ob dabei tatsächlich CO2 "eingespart" wird, ist zweitrangig: Einen Wert besitzt allein die Quittung, die den Handel besiegelt. Vom Einstieg der Klimahändler bekam der Bauer Zhang nichts mit. Er wusste auch nicht, dass im März 2007 Mitarbeiter vom deutschen TÜV an den Bala-Fluss reisten, um die Anträge vor Ort zu prüfen.
Prüffirmen wie der TÜV Süd sind die Linienrichter im freien Spiel des Marktes; sie sollen darauf achten, dass niemand die Regelgrenzen überschreitet. Dafür werden sie ausgerechnet von jenen bezahlt, deren Handeln sie überwachen - ähnlich wie die Rating- Agenturen in der Finanzwelt. Der Exekutivrat ist mit der Arbeit dieser Prüfer so unzufrieden, dass er den drei größten Agenturen, auch dem TÜV Süd, monatelang die Zulassung entzogen hat.
Was an jenen zwei Märztagen 2007 im Flusstal des Bauern Zhang geschah, erfahren wir im Hinterzimmer eines Teehauses irgendwo in China. Dort sitzt einer der Prüfer, Chinese, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will. Er war damals vor Ort und legt Wert darauf, dass er seine Checkliste abgearbeitet habe.
Für Wasserkraftprojekte in China fordert Deutschland eine strenge und umfassende Prüfung: Nur wenn der Dammbau vor Ort akzeptiert wird, wenn er die Umwelt nicht schädigt und vielen Menschen nutzt, dürfen die CO2-Zertifikate importiert werden.
Die Prüfer vom TÜV Süd fuhren im Auto in die Gegend am Bala- Fluss und sprachen mit Anwohnern. Elf Interviews, jedes etwa 20 Minuten lang. Nur wurden die nicht im Staugebiet des Dammes geführt, wo viele Häuser und Felder überschwemmt werden sollen. Sondern in der Kreishauptstadt und in einem Dorf auf der anderen Seite der Berge. Zwei Dutzend umgesiedelte Familien leben dort heute in zwei Betonriegeln. Sie fühlen sich wohl. Den Prüfern vom TÜV Süd gelang es, ausschließlich Bauern zu interviewen, die ihrer Umsiedlung zugestimmt hatten und keine Kritik äußerten. Elf Bauern von vielen Hunderten, deren Existenz auf dem Spiel steht. Und die nach Einschätzung von Fan Xiao, Chefingenieur des staatlichen Sichuan Geology and Mineral Bureau, viel zu geringe Entschädigungen für den Verlust ihrer Häuser und ihrer Felder bekamen.
Bauer Zhang hat umgerechnet 7500 Euro erhalten. "Das Geld ist in ein paar Jahren weg", sagt er, "aber das Land zu verlieren, das bringt uns um." "Es kann bestätigt werden, dass alle von diesem Projekt betroffenen Menschen freiwillig umziehen, dass ihre Lebenslage verbessert wurde und dass sie zufrieden mit der Entschädigung sind", schreibt der TÜV Süd in seinem Gutachten und ebnet damit den CO2-Zertifikaten aus Projekt Nr. 1953 den Weg auf das Klima-Konto von RWE. Auf mehrfache Nachfrage bleibt der TÜV Süd bei seiner Darstellung. Auch die Entschädigung sei "gesetzeskonform", so das Unternehmen.
Ein Montagmorgen im August 2010 in Taijiang, der Hauptstadt jenes Kreises, in dem der Staudamm gebaut wurde. Die Lokalregierung residiert in prachtvollen Gebäuden, deren Dächer wie Reisfelder terrassenartig in die Höhe streben. Eine halbe Stunde lächeln wir uns durch alle Instanzen, dann heißt es, ein wichtiges Treffen stehe an: herzlich willkommen!
Fahrt zu einem Tagungshotel vor der Stadt. Regierungsvertreter, Investoren, Bauaufsicht und Planer, der Produktionsleiter des Wasserkraftwerks sitzen um einen Tisch. Auf einem Plakat das Versprechen, an diesem Tag werde die Stromproduktion in den Normalbetrieb gehen. Junge Frauen bringen Zigaretten und Tee. Die Delegierten diskutieren über die Zahl der Feuerlöscher im Generatorraum, über die Dicke der Zementschichten. Das Schicksal der Bauern schrumpft zur Routinefrage. Probleme mit der Umsiedlung? Nein.
Wer in der Tischvorlage blättert, stößt auf Daten, die nahelegen: Als Yuan Xijuan, die Beraterin mit der Schmetterlingshalskette, den Bauherren von der Möglichkeit erzählte, mit Klimazertifikaten Geld zu verdienen, wurden am Fluss Bala längst Fundamente gegossen. Schon im September 2004, acht Monate früher als im Antrag für den Bonner Exekutivrat angegeben, hatten demnach Arbeiter mit dem Bau begonnen. Der Damm wäre also auch ohne Gelder aus dem Emissionshandel gebaut worden. Er wäre nicht "zusätzlich": Sind also die Zertifikate, die RWE kaufen will, wertlos, jedenfalls für die Atmosphäre? Eine Luftnummer? Hans-Joachim Gilles Klimapfennig bewirkte in diesem Fall nichts.
Der TÜV Süd sagt heute, er prüfe Projekte stets "mit gesunder Skepsis", trage aber keine Verantwortung, wenn nicht alle Dokumente vorgelegt würden. "Nach unserer Einschätzung wurde die Investitionsentscheidung nicht im Vorfeld getroffen." Im Übrigen: "Die Fragen nach der Zusätzlichkeit des Projektes konnten damals zur Zufriedenheit der UN beantwortet werden."
RWE verweist auf den Registrierungsprozess der UN und darauf, dass die Kritikpunkte "im Widerspruch zu den unabhängigen Prüfungen des Projekts" stehen: "RWE hat Ihre Hinweise aufgenommen und geht ihnen nach." In Taijiang besiegeln die Delegierten ihren Erfolg bei Hühnchen, Froschschenkel und Getreideschnaps. 53-prozentige Toasts sind zu sprechen. "Der Staudamm ist ein Denkmal", verkündet der Produktionsleiter stolz.
"Wir haben noch zwei Projekte!", ruft der Mann von der staatlichen Stromfirma. "Wo können wir uns bewerben für diese Klimagelder?" An manchen Tagen, wenn der Wind aus Südwest weht, legt sich ein Staubschleier auf Haus, Auto, Garten von Hans-Joachim Gille. Die feinen Körnchen stammen aus dem Tagebau Hambach. Wer vor der größten Kohlegrube Deutschlands steht, der sieht eine Landschaft ohne Maßstab: eine Grube, deren Dimensionen für das Auge nicht fassbar sind. Fette Braunkohle liegt tief unten am Grund wie die angebissene Schokoladenschicht auf einem Tortenboden, an der sich ein 100 Meter hoher Bagger nährt.
Seit Jahrzehnten graben diese Bagger, fressen ganze Dörfer, Autobahnen, Bäche, Felder, Täler, Hügel. Nachts kann Hans-Joachim Gille das Rattern der Kohlenzüge hören, die aus dem Tagebau ins Kraftwerk Niederaußem fahren. Für unsere Industriegesellschaft ist die Grube Hambach eine Versuchung. Die Sahnetorte in Reichweite eines fettleibigen Patienten, der aller Welt erzählt, er werde ab morgen abnehmen. Mit der Braunkohle aus dem rheinischen Revier deckt RWE 15 Prozent des deutschen Stromverbrauchs, mehr, als es Wind, Wasser und Sonne zusammen tun. Theoretisch reicht die Braunkohle für weitere 2000 Jahre. Kohle ist die einzige Energieressource, über die Deutschland im Überfluss verfügt.
Bis 2050 will Deutschland seinen CO2-Ausstoß um bis zu 95 Prozent reduzieren. Braunkohle zu verfeuern, den dreckigsten aller Brennstoffe, wird mit diesem Ziel vor Augen bald unmöglich sein. Es sei denn, in China werden noch viele Staudämme errichtet, damit wir nichts ändern müssen.