Kranke Arbeiter, erhöhte Krebsraten, Gift im Boden, in der Luft, im Wasser: Nach mehreren Skandalen und Demonstrationen war das Boehringer-Werk im Hamburger Stadtteil Moorfleet Anfang der 1980er Jahre nicht mehr zu halten. 1984 schloss es für immer seine Pforten. Doch erledigt war der Fall damit noch lange nicht.

9. Dezember 2013, Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) der Hansestadt Hamburg. Im Raum Nummer G.03391 des schicken Neubaus im Stadtteil Wilhelmsburg ist dicke Luft. Hans Wirth, zuständig für Altlasten, hat Vertreter der Firma Boehringer Ingelheim sowie von Behörden und Umweltverbänden zum runden Tisch gebeten. Es geht mal wieder um "Boehringer". Also um mehr als 100 Tonnen Gift im Boden. Einer der fünf Brunnen, die rund um die Uhr verseuchtes Grundwasser fördern, um es zu reinigen, soll abgestellt werden. Aus Kostengründen. Die Umweltschützer sind entsetzt, vertagen die Sitzung, um sich zu beraten. Ihre Befürchtung: dass das Gift außer Kontrolle gerät. "Wenn die Schadstoffe erst mal ins Grundwasser und in die umliegenden Gräben gelangen", sagt Maren Jonseck-Ohrt vom Umweltverband BUND, "findet eine weitere Ausbreitung statt, die man kaum noch einfangen kann."
Die Treffen der Interessengruppen haben eine lange Tradition. Sie reicht zurück bis zum Höhepunkt eines der schlimmsten Umweltskandale Deutschlands.
Tonnenweise giftige Abfälle
In den Südosten der Hansestadt verirren sich Touristen nur selten. Rechts und links der Elbe dominiert Industrie das Bild - und was davon übrig ist. Ein Kohlekraftwerk, eine Kupferhütte, Fabriken, Lagerhallen, Brachen. Gebrauchtwagenhändler parken hier Fahrzeuge zu Tausenden. Auch auf dem Gelände Andreas-Meyer-Straße 31-35. Bis in die Achtzigerjahre produzierte Boehringer hier Pflanzengifte für die boomende Agrarindustrie. Darunter auch T-Säure. Der dioxinhaltige Stoff erlangte traurige Bekanntheit als Bestandteil des von der US-Armee im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange.
Bei der Herstellung der Pflanzengifte fiel tonnenweise toxischer Abfall an: Chlorbenzole und -phenole, HCH, Dioxine. Experten nennen den Cocktail einfach BSS: Boehringer-spezifische Schadstoffe. Hunderte Arbeiter erkrankten, weil sie mit dem Seveso-Gift Dioxin in Berührung gekommen waren. 2,3,7,8-TCDD gilt als das stärkste, jemals von Menschenhand hergestellte Gift. 1984 dann die Schließung des Werks. Sein Vermächtnis: metertief verseuchtes Erdreich, 1000 Tonnen Gift in Fässern. Und weitere toxische Abfälle auf umliegenden Deponien. "Boehringer Moorfleet" wurde zu einer der berüchtigtsten Altlasten Deutschlands.
Das Ausmaß der Katastrophe zwang die Ingenieure, technisches Neuland zu betreten. Etwa mit dem Projekt "Prometheus". In der gleichnamigen Spezial-Verbrennungsanlage sollte das Gift vor Ort zu vernichtet werden. 1994 scheiterte der Versuch: Die aggressiven Substanzen zerfraßen die Anlage, die Abgase verseuchten das Umland. Um zu verhindern, dass weiteres Gift ins Grundwasser gelangte, beschlossen die Verantwortlichen, das Fabrikgelände mit einem einzigartigen Bollwerk zu sichern. Spezialmaschinen frästen sich von 1997 bis 1998 in den Untergrund und schufen einen unterirdischen Beton-Schutzwall rund um das 8,5 Hektar große Areal. 80 Zentimeter dick, bis zu 50 Meter tief. Ein Deckel aus Asphalt schützt das Gelände vor Regenwasser, den Boden bildet eine undurchlässige Tonschicht. Fünf Pumpen, vier im "Topf" und eine außerhalb, fördern jede Stunde 20 Kubikmeter verseuchtes Grundwasser - rund um die Uhr. Das enthaltene Gift scheidet eine Abwasserreinigungsanlage auf dem Gelände ab. Von 1998 bis 2012 wurden so rund 20 Tonnen Gift aus dem Boden geholt.
Eine Gift-Fahne im Hamburger Untergrund
Wenn die Pumpen im Topf ausfallen, gibt es ein Problem. Dann könnte verseuchtes Wasser durch die Betonwand nach außen sickern, noch mehr Erdreich oder gar Oberflächengewässer verseuchen. Das ehemalige Werksgelände befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Kanal, Gemüsefeldern und Kleingartenanlagen. Schon jetzt ist das Erdreich außerhalb des schützenden Gift-Topfes mit schätzungsweise 3,5 Tonnen Schadstoffen verseucht. Experten sprechen von einer "Fahne". Die erstreckt sich wie eine unterirdische Schleppe bis zu einen Kilometer in das Erdreich unter dem östlichen Hamburger Stadtgebiet. In Schach gehalten wird sie von einem Grundwasserbrunnen, F1 genannt, der jede Stunde 12,5 Kubikmeter Wasser und Gift fördert.
F1 ist an diesem 9. Dezember im Sitzungsraum der Behörde Stein des Anstoßes. "Die jetzige Sanierungsmaßnahme der Fahne muss nicht dauerhaft die beste und einzig mögliche Lösung sein", sagt Jörg Maier-Erbacher, der für Boehringer die Altlast in Moorfleet betreut. "Wir überprüfen kontinuierlich, ob es andere Möglichkeiten gibt, die Mittel, die wir freiwillig aufwenden, so sinnvoll wie möglich einzusetzen." Hans Wirth von der BSU ergänzt: "Die Anlage fördert nur noch relativ geringe Schadstoffmengen." Der Betrieb verschlinge Unmengen Energie und Geld. Man wolle darum ein MNA-Konzept testen. Wirth lässt durchblicken, dass der Vertrag darüber mit der Firma Boehringer unterschriftsreif sei.
MNA steht für Monitored Natural Attenuation, zu deutsch "überwachter natürlicher Abbau". Dass Mikroben viele Gifte unschädlich machen können, ist lange bekannt. Aber erst seit etwa zehn Jahren wird das Verfahren auch in Deutschland angewendet. "Man hat erst seit wenigen Jahren das notwendige Verständnis für die Prozesse, die im Untergrund ablaufen", erläutert der Darmstädter MNA-Spezialist Thomas Held. Etwa, ob und in welchem Tempo Schadstoffe von Mikroben abgebaut werden. Kontrolliertes Nichtstun kann also durchaus eine Lösung sein. Doch die Vorgaben für MNA sind streng. Eine wichtige Voraussetzung sei, sagt Thomas Held, dass die Fahne "räumlich konstant" sei oder schrumpfe. Das fordert auch die Länder-Arbeitsgemeinschaft Bodenschutz (LABO) in einem Positionspapier zum Thema. Nur in sehr gut begründeten Ausnahmefällen dürfe davon abgewichen werden, sagt Held.

Ein heikler Punkt. Denn "das Hauptproblem beim MNA-Konzept ist, dass die Schadstofffahne bei einer Abschaltung von F1 verdriftet und sich jahrzehntelang weiter ausbreitet", wie Maren Jonseck-Ohrt vom BUND betont. "Das belegen die Berechnungen, die uns gezeigt wurden." Zudem kritisieren die Umweltgruppen, dass die Schadstoffe bei einem MNA-Konzept erheblich länger im Boden blieben. Mehrere Millionen Kubikmeter Grundwasser würden zusätzlich vergiftet. Unterstützt von Volker Sokollek, erstellten die engagierten Bürger einen kritischen Fragenkatalog zum MNA-Vorhaben. Sokollek kennt sich aus mit Dioxin und BSS, mit Abbauraten und Grundwassermodellen. Er war in der Abteilung Bodenschutz und Altlasten der Umweltbehörde der Hansestadt bis vor kurzem zuständig für die Mülldeponie Hamburg-Georgswerder. Hier wurde in den 70er Jahren ebenfalls Boehringer-Gift abgeladen.
Geld sparen oder weiterpumpen?
Die Sache ist ein Politikum. Und natürlich geht es auch um Geld. "Im Rahmen der gesamten Sanierungsmaßnahme haben wir uns seinerzeit verpflichtet, für die Umfeldsanierung elf Millionen D-Mark aufzuwenden", sagt Jörg Maier-Erbacher, "diese Mittel sind jetzt aufgebraucht." Und wer zahlt dann? Das fragt man sich offenbar auch in der zuständigen Behörde. "Es wird niemand Beifall klatschen, wenn wir mit der Nachricht kommen, wir dürften jährlich einen Betrag zahlen, den wir bisher nicht gezahlt haben", sagt Hans Wirth von der BSU. Es geht um 400.000 Euro jährlich für den Betrieb des Brunnens F1. Nicht viel Geld angesichts einer eklatanten Verantwortungslosigkeit in der Vergangenheit, findet Maren Jonseck-Ohrt vom BUND. Sie sieht darum Boehringer weiter in der Pflicht. Zudem seien die laufenden Kosten für die Gesamtsanierung durch die Verpachtung des Geländes gedeckt.
Im März 2014 zeigen die Einwände der Bürger überraschend Wirkung. "Wir haben nie bestritten, dass die Fahne nicht stationär ist", sagt Hans Wirth auf Nachfrage. Im Moment sei alles offen. Es würden alternative Optionen geprüft. Etwa eine Verfeinerung des Pumpbetriebs außerhalb des Topfes. Um so mit weniger Energieeinsatz mehr Gift zu fördern. Derweil kann Jörg Maier-Erbacher von Boehringer die Aufregung nicht verstehen. Immerhin sei sein Arbeitgeber bis heute mit über 160 Millionen Euro allein für alle Bau- und Sanierungsmaßnahmen aufgekommen.
Und die Altlastensanierung in Moorfleet, die Zusammenarbeit mit der Stadt und den Umweltgruppen, das sei doch eine gute Story.