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Geheimnisvolle Pflanze Heilsamer Halbschmarotzer? Mythen und Fakten über die Mistel

Voller Symbolik: Das Küssen unter Mistelzweigen gehört zu den Weihnachtsbräuchen etwa in England und den USA
Voller Symbolik: Das Küssen unter Mistelzweigen gehört zu den Weihnachtsbräuchen etwa in England und den USA
© Oksana Schmidt / Adobe Stock
Um sie ranken sich unzählige Mythen. Man sagt ihr heilsame Kräfte zu. Was ist wahr und was Legende? Und wie kommt die Pflanze eigentlich hoch oben in die Wipfel von Bäumen?

Früher, als kleiner Junge, habe ich mich oft gewundert über diese kreisrunden, grünen Gewächse hoch oben in den Bäumen. Ich fragte mich, wie sie dort hingekommen waren – und stellte mir vor, dass sie wie Schneeflocken vom Himmel trudelten und im Geäst hängen blieben.

Heute weiß ich, dass ich mit meinem Traumbild in guter Gesellschaft bin – denn Misteln, die ich damals mit in den Nacken gelegtem Kopf bestaunte, regen seit jeher die Fantasie der Menschen an. Die Kelten verehrten sie als heiliges Kraut, für dessen Verbreitung in ihren Augen einzig die Götter verantwortlich sein konnten. Keltische Druiden, so heißt es, schnitten am sechsten Tag nach dem Neujahrsmond Misteln mit goldenen Messern. Die Zweige fingen sie mit einem weißen Tuch auf, damit eine Berührung mit der Erde sie nicht ihrer himmlischen Zauberkraft beraubte.

Die Germanen wiederum erzählten sich die Geschichte vom blinden Wintergott Hödur, der mit einem Pfeil aus Mistelholz versehentlich seinen Bruder, den Sonnengott Baldur, tötete – und so die Abfolge der Jahreszeiten, das Fundament der Welt, in Unordnung brachte.

Große Kräfte also, nützliche wie zerstörerische, werden der Mistel seit Jahrtausenden beigemessen. Und ein Grund dafür ist zweifellos ihre scheinbar übernatürliche Widerstandsfähigkeit.

Drei Mistel-Sagen

  • In der griechischen Mythologie galt die Mistel als die „goldene Zauberrute“, die dem Trojaner Aeneas den Zugang zur Unterwelt öffnete.
  • Gallische Priester benutzten Misteln zu Heilzwecken und für kutlische Handlungen. Bekannt geworden durch den Druiden Miraculix aus den Asterix-Heften.
  • Im Mittelalter nahm man an, sie könnte vor allem Bösen schützen und dass nie ein Blitz in einenmit Misteln bewachsenen Baum einschlagen würde.

Kugelrunde Eroberer

Egal ob im hohen Norden oder in den Tropen, ob in Norwegen, Gambia oder Japan: Überall hängen Misteln in den Bäumen. Es gibt viele Hundert Arten. Sie trotzen Frost wie großer Hitze, lassen sich auch von Sturmböen nicht hinfortreißen, und wenn im Winter die letzten Blätter fallen, bleiben sie grün, zeigen sich in den kahlen Wipfeln kilometerweit.

Allein: Wie machen sie das?

Misteln sind Halbschmarotzer, bilden kein gewöhnliches Wurzelwerk aus, sondern spezielle Saugwurzeln, mit denen sie in das Holz des Wirtsbaums eindringen, seine Leitungsbahnen anzapfen und so Wasser und Nährsalze aufnehmen.

Im Gegensatz zu Vollschmarotzern sind sie aber selbst zur Fotosynthese fähig, deshalb nicht auf die fertigen Stoffwechselprodukte ihres Wirts angewiesen und können so auch ganzjährig grün bleiben.

Ihre typische runde Form verdanken die Misteln dem eigentümlichen Wachstum ihrer Zweige: Jeder ihrer Triebe teilt sich an seinem Ende in meist zwei bis fünf etwa gleich lange Seitentriebe, die alle in ähnlichem Winkel abzweigen. Durch diese gedrungene Verästelung wird die Mistel zur Kugel – und bietet dem Wind, der hoch oben durch die Baumkronen pfeift, so vergleichsweise wenig Angriffsfläche.

Und auch in anderer Hinsicht haben sich Misteln perfekt an ihren Lebensraum angepasst: Sie blühen schon im März, ihre Beeren reifen aber erst im Dezember – jeweils zu Zeiten, wenn die Bäume kahl sind. So können sowohl Insekten sie besser finden, die ihnen bei der Bestäubung helfen, als auch Vögel, die ihre Beeren fressen. Denn ihre Früchte geben Misteln nur allzu gerne ab.

Beliebtes Futter

Etliche Vogelarten haben ihre Beeren auf dem Speiseplan, die Misteldrossel natürlich, aber auch etwa der Seidenschwanz oder die Singdrossel. Wenn sie die extrem klebrigen und zum großen Teil unverdaulichen Früchte fressen, bleibt oft ein Teil an ihrem Schnabel hängen. Wetzen die Vögel diesen dann an einem Zweig oder hinterlassen dort ihren Kot, haften die Mistelsamen an der Rinde – ein neuer Wirtsbaum ist gefunden. Von Vögeln derart am Schnabel oder im Magen durch die Lüfte transportiert, können sich Mistelsamen viele Kilometer weit verbreiten.

Die starke Klebrigkeit der Mistelbeeren wussten übrigens schon die alten Römer zu gebrauchen: Sie schmierten das Fruchtfleisch auf Äste, lockten so Vögel an, die dann mit den Krallen haften blieben und ihnen zur leichten Beute wurden.

Kein Wunder, dass der wissenschaftliche Gattungsname der Mistel "Viscum" identisch ist mit dem lateinischen Wort für Leim.

Die Jagdmethode der alten Römer ist eines von vielen Beispielen dafür, wie sich der Mensch die Mistel zunutze machte und macht – das gilt vor allem für die Medizin. Denn dem mythisch überhöhten Gewächs werden seit jeher mannigfache Heilkräfte zugeschrieben.

Mittelalterliche Kräuterbücher priesen seine wundersame Wirkung gegen Geschwüre, Entzündungen, gegen Schwindel und Krämpfe.

Die heilkundige Gelehrte Hildegard von Bingen empfahl die Mistel im 12. Jahrhundert bei Lebererkrankungen und erfrorenen Gliedmaßen; Sebastian Kneipp, der Pionier der Wasserheilkunde, viele Generationen später zur Behandlung von Epilepsie.

Was hilft wirklich?

Heute steht vor allem ihre angebliche Wirkung gegen Krebs im Fokus. Nach der Logik, Gleiches mit Gleichem zu bekämpfen, propagierte der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner die Mistel 1920 als Krebsmedikament – denn in seinen Augen entsprach der in Bäumen wuchernde Halbschmarotzer den Geschwüren, die sich im Körper ausbreiten.

Seitdem werden Extrakte der Pflanze weit-hin als ergänzendes Mittel in der Krebstherapie eingesetzt.

Der Nutzen ist umstritten, keine klinische Studie kann eine Auswirkung auf das Tumorwachstum belegen.

Wie heilsam ist das Kraut?

Der Mistel werden allerhand Kräfte nachgesagt. Doch die Wirkmacht der Pflanze ist umstritten.

Seit jeher gilt die Mistel als medizinisch wirksame Pflanze. Früher empfahl man sie bei der Behandlung so unterschiedlicher Leiden wie Entzündungen, erfrorenen Gliedmaßen, Krämpfen, Ge-schwüren, Schwindel, Lebererkrankungen oder Epilepsie. Die tatsächliche Heilkraft der Pflanze ist allerdings umstritten. Heute werden Extrakte unter anderem als ergänzendes Mittel bei der Behandlung von Krebs eingesetzt. Doch auch hier fehlen bislang wissenschaftliche Belege dafür, dass entsprechende Präparate das Wachstum von Tumoren bremsen können (sie sollten keinesfalls als Alternative zur Chemotherapie gelten). Fest steht, dass Stoffe aus der Mistel den Kreislauf anregen sowie regulierend auf den Blutdruck wirken.

Immerhin aber berichten viele Patienten davon, dass die Extrakte die Chemotherapie für sie erträglicher machten, Übelkeit und Erschöpfung verringerten – vielleicht ein Placebo-Effekt, vielleicht aber auch Folge der kreislaufanregenden und blutdruckregulierenden Wirkung, die die Mistel nachweislich hat.

An Nachschub des Heilmittel-Lieferanten herrscht jedenfalls wahrlich kein Mangel, scheint der Klimawandel die Ausbreitung der Mistel doch eher zu fördern. Denn während es gesunden und vitalen Bäumen häufig gelingt, das Eindringen der Saugwurzeln durch verstärktes Rindenwachstum zu verhindern und den Schmarotzer so abzuwehren, sind von Trockenheit und Hitze geschwächte Wirte dazu viel seltener in der Lage. Werden sie dann massiv von Misteln befallen, die ihnen zusätzlich Wasser und Nährstoffe entziehen, kann das sogar ihren Tod zeitigen, was Förster in den letzten Jahren auch vermehrt beobachten.

Nicht im Sinne der Mistel

Es ist ein weiteres Beispiel für den fatalen Kreislauf, den die menschengemachte Erderwärmung an so vielen Stellen auslöst. Denn unter natürlichen Bedingungen triezt die Mistel ihren Wirt in der Regel nur zu einem Grad, den dieser verkraften kann – schließlich bedeutet sein Ende auch ihres, kann also kaum im Interesse dieser Überlebenskünstlerin sein, die sich auf so faszinierende Weise angepasst hat an ihr Dasein in den Wipfeln.

Wenn ich heute dort oben eine Mistel entdecke, sehe ich keine überdimensionale grüne Schneeflocke mehr wie damals als Kind, sondern einen kreisrund gewachsenen Halbschmarotzer mit Saugwurzeln und Klebe-Beeren. Da ist der Blick anders als vor dreißig Jahren. Und doch: Das Staunen ist geblieben.

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