Zuerst war es einfach nur eine Baulücke: ein auf den ersten Blick nutzloses Areal, mitten im hessischen Darmstadt, mit etwa 2000 Quadratmetern nur halb so groß wie ein kleiner Fußballplatz. Doch im Lauf der Jahre kehrte die Natur unbemerkt zurück: Vegetation, die kein Mensch ausgesucht oder gepflanzt hat. Und Insekten. Darunter auch seltene. Sogar Arten, die in Deutschland längst als ausgestorben galten. Seit das Gelände im Jahr 2019 als gemeinsames Projekt des BUND, des Vereins "Zusammen in der Postsiedlung" und des Umweltamts der Stadt ins Leben gerufen wurde, konnten Ehrenamtliche mehr als 1600 Tierarten nachweisen – vor allem dank des Engagements zweier Mikrofotografen: Jan Becker und Harald Rühl.
"Besondere Highlights sind natürlich immer Funde von in Deutschland als gefährdet geltenden Arten", sagt der Biologe und Fotograf Jan Becker. Bei der Bestimmung der Spezies haben sich die Fotografen auf die Expertise von Artenkennern verlassen: Auf der Plattform iNaturalist, gegründet von der California Academy of Sciences und der National Geographic Society, können engagierte Laien und Fachleute anhand von Fotos oft zweifelsfrei Spezies bestimmen. Erst kürzlich konnten die Darmstädter Insekten-Enthusiasten eine Käferart – den Tannen-Zwergmarienkäfer – auf "ihrem" Areal nachweisen. Der unscheinbare Käfer galt 70 Jahre lang in Deutschland als ausgestorben.
Dabei ist es gar nicht so verwunderlich, dass es auf Brachflächen in der Stadt vor Leben nur so wimmelt. Denn solche vermeintlich öden Orte sind längst als wichtige Rückzugsorte für Insekten bekannt – weil sie von Menschen nicht genutzt werden, frei von Dünger, Gülle und Pestiziden sind und nie gemäht oder abgeerntet werden.
Artenvielfalt auf städtischen Brachen so groß wie in Naturschutzgebieten
Eine Studie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass städtische Brachen in puncto Biodiversität nicht schlechter abschneiden als Naturschutzgebiete von europäischer Bedeutung, sogenannte Natura-2000-Gebiete. Im Gegenteil: Im Schnitt tummeln sich auf den Brachen sogar mehr Wildbienenarten.
"Stadtbrachen bieten vielen Bestäubern mindestens genauso gute Bedingungen wie ausgewiesene Schutzgebiete", resümiert der Erstautor der Studie, der Biologe Panagiotis Theodorou. Zudem fanden die Forschenden Hinweise darauf, dass städtische Wildbienen Blüten effektiver bestäuben als ihre Artgenossinnen in Naturschutzgebieten.
Mittlerweile hat sich die Brache in der Postsiedlung, mitten in Darmstadt, nicht nur zu einem Naturjuwel entwickelt: Sie dient nun auch als Lern- und Begegnungsort. Man trifft sich zu Pflegeeinsätzen, Ehrenamtliche bieten Workshops und Seminare für Kinder und für Fotografinnen und Fotografen an. Für Jan Becker gehört neben dem Fotografischen In-Szene-Setzen der Insekten auch naturpädagogisches Engagement dazu: "Ich finde es im Rahmen eines aktiven Naturschutzes wichtig, dass auch Menschen vor Ort mehr über die heimische Natur erfahren und so selbst etwas für die Natur vor ihrer Haustür tun", sagt Becker. "Zumeist helfen ja schon Kleinigkeiten wie die Akzeptanz für sogenannte wilde Ecken, das Anlegen kleiner Blühflächen mit heimischen Wildpflanzen, oder den Rasen seltener zu mähen."
Und auch mit der Bestimmung aller hier vorkommender Arten sind die Insekten-Fans aus der Postsiedlung wohl noch nicht fertig. "Wenn sie so weitermachen, werden sie zwangsläufig weitere seltene Arten finden", sagte der Biologe Nico Blüthgen von der TU Darmstadt dem Darmstädter Echo. Denn zum einen bietet die Mischung aus Totholz, warmen Hängen, Blätterhaufen und heimischen Pflanzen vielen verschiedenen Insektenarten eine perfekte Lebensgrundlage. Zum anderen gehört das Areal vermutlich zu den am besten untersuchten Flecken Deutschlands.