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Vogelepidemie Beobachter zählen so wenige Blaumeisen wie noch nie

Blaumeise
Das Bakterium Suttonella ornithocola tötete seit Anfang März massenhaft Blaumeisen in Deutschland, Ende April flachte die Epidemie deutlich ab. Wie stark die Bestände tatsächlich betroffen sind, können Ornithologen bisher schwer abschätzen - die Beobachtungen von Hobbyforschern geben jedoch erste Anhaltspunkte
© Kletr / Shutterstock
Seit Anfang März sterben viele Blaumeisen an einer Lungenentzündung. Verantwortlich ist ein Bakterium, das 2018 zum ersten Mal in Deutschland aufgetreten ist und den Populationen erheblich zusetzt - sie sind wohl um ein Fünftel geschrumpft

Die Blaumeisen reagieren kaum, wenn Menschen sich ihnen nähern; sie sind aufgeplustert, manchen verkleben die Federn, andere können ihre Augen kaum offenhalten, viele schnappen nach Luft. „Vögel zeigen solche Krankheitssymptome erst offen, wenn es ihnen wirklich schlecht geht“, sagt Lars Lachmann, Vogelschutzexperte des Naturschutzbunds (Nabu). „Das ist ein Schutzmechanismus, sie wollen nicht, dass man ihnen ansieht, dass sie schwach sind. So wären sie eine offensichtlich leichte Beute für Greifvögel.“

Nachdem beinahe zeitgleich aus verschiedenen Regionen Deutschlands erkrankte und tote Vögel gemeldet wurden, startete der NABU am 9. April einen bundesweiten Aufruf, Bürger sollten ihre Beobachtungen teilen. Und der Anfangsverdacht bestätige sich: Innerhalb von zwölf Tagen wurden dem NABU allein 26.000 Vögel gemeldet, die das Krankheitsbild aufweisen, hinzu kamen Fälle aus Belgien und Luxemburg.

Ende April flachte die Epidemie deutlich ab, bis zum 12. Mai sind dem Nabu 35.000 verstorbene Vögel in ganz Deutschland bekannt.

Das Bakterium Suttonella ornithocola tötet fast ausschließlich kleine Meisenarten

Das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und das Veterinäruntersuchungsamt Münsterland-Emscher-Lippe identifizierten letztlich den Erreger: Suttonella ornithocola. Das Bakterium verursacht eine Lungenentzündung bei Vögeln, tötet jedoch fast ausschließlich Meisen – vor allem kleine Meisenarten wie die in Deutschland verbreitete Blaumeise.

Erstmals beschrieben wurde es 1996 in Großbritannien, dort kommt es flächendeckend und regelmäßig vor. Ein Massensterben, wie es Vogelexperten in Deutschland beobachten, zog es dort bislang jedoch nicht nach sich. 2018 wurde Suttonella ornithocola zum ersten Mal im südlichen Nordrhein-Westfalen nachgewiesen. Damals war das Krankheitsbild nur bei einigen Meisen ausgebrochen.

Komme ein neuer Erreger in einem Ökosystem an, könne das ähnlich wie bei einer virologischen Epidemie verlaufen, erklärt Lachmann: Erst einmal muss er sich etablieren, sich verbreiten. In der Folge könne es zu einem Massensterben kommen, danach verbreite sich der Erreger eher unterschwellig, so die Hoffnung der Vogelschützer.

Social Distancing hilft auch bei Epidemien im Vogelreich

Ihre Aufgaben ist es jetzt herauszufinden, wie sich der Erreger genau verbreitet. Warum flaute das massenhafte Sterben der Blaumeisen ab? Wie schnell und wohin verbreitete sich Suttonella ornithocola? Litten die verstorbenen Vögel auch an anderen Krankheiten? Hängt der Ausbruch mit Umwelteinflüssen zusammen?

Um all diese Fragen zu klären, braucht es – analog zur Corona-Krise – vor allem eines: Daten. Dabei ist der Nabu besonders auf die Hilfe von Beobachtungen aus der Bevölkerung angewiesen. Über ein Online-Formular kann jeder kranke oder tote Blaumeisen melden. Außerdem rief der Nabu dazu auf, Futterstellen und Vogeltränken im Garten abzubauen, um Orte zu minimieren, an denen die Tiere häufig in Kontakt kommen.

Es sind die Hobbyornithologen, die dem Nabu erste Erkenntnisse über das Ausmaß des Massensterbens ermöglichen. Beim jährlichen Vogelzählen am Muttertagswochenende beteiligten sich dieses Jahr 120.000 Menschen und berichteten, welche Vögel sie ein Wochenende lang in Parks, auf dem Balkon oder im Garten gesehen haben. „Bundesweit betrachtet sind 22 Prozent weniger Blaumeisen pro Garten gemeldet worden“, berichtet Lachmann. Das sei mit Abstand der niedrigste Wert seit Beginn der Zählungen im Jahr 2005.

Der Ornithologe sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Zahlen und der Ausbreitung von Suttonella ornithocola: „Je mehr Berichte toter Meisen aus einem Landkreis bei uns ankamen, desto größer waren dort auch die Bestandsrückgänge“, so Lachmann. „Wir können davon ausgehen, dass ein Rückgang von mindestens vier Prozent gegenüber dem Vorjahr direkt auf das diesjährige Blaumeisensterben zurückzuführen ist.“

Der Nabu attestiert einen Gesamtbestand von etwa 7,9 Millionen erwachsenen Blaumeisen in Deutschland. Laut Lachmanns Rechnung wären folglich ungefähr 300.000 Tiere an der Krankheit verstorben.

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