Meist gewöhnen wir uns schon als Kleinkinder an den verführerischen Geschmack von Zucker – und bleiben ihm oft ein Leben lang verfallen. Viele von uns können nicht genug bekommen von Desserts, Kuchen und Schokolade, von Eiscreme, Weingummi und Softdrinks. Doch selbst wer solche Leckereien verschmäht: Eine Ernährung ganz ohne Zucker, ohne jede Süße im Kaffee, in Brotaufstrichen oder Saucen können sich die wenigsten vorstellen. Pro Jahr nimmt jeder Deutsche durchschnittlich 32 Kilogramm Haushaltszucker zu sich; das sind Tag für Tag rund 88 Gramm oder etwa 30 Zuckerwürfel – mehr als dreimal so viel wie die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Gesamtzuckermenge. Zudem verzehren wir weitere süßende Zutaten. Denn Zucker kommt nicht nur in Gestalt der uns vertrauten weißen Kristalle vor: Er nimmt auch viele andere Formen an, verbirgt sich etwa als Glukosesirup in etlichen Lebensmitteln wie Pralinen oder Frühstücksflocken. Daher ist es umso alarmierender, dass Forscher zunehmend Belege dafür finden, dass der süße Stoff für unseren Organismus höchstwahrscheinlich noch weitaus schädlicher ist als lange gedacht. Immer deutlicher zeigt sich: Übersteigerter Zuckerkonsum macht nicht nur dick, begünstigt Karies, verursacht Diabetes – er löst obendrein vermutlich weitere Zivilisationskrankheiten aus, führt oft zu Bluthochdruck sowie Herz- und Leberleiden, verursacht womöglich sogar Krebserkrankungen und Demenz. Seit vielen Jahren versuchen die Wissenschaftler, immer besser zu verstehen, wie genau das Süßmittel auf unseren Körper wirkt. Und sie fragen sich: Müssen wir für unsere Leidenschaft womöglich einen weit höheren Preis zahlen, als viele von uns bisher wahrhaben wollten?
Dass unser Zuckerkonsum solche Ausmaße angenommen hat, liegt unter anderem daran, dass die Lebensmittelbranche die Substanz seit Langem nicht mehr nur dazu nutzt, Gebäck und Süßwaren herzustellen – sie setzt sie auch vielen anderen Produkten bei. Denn neben seinem Geschmack hat der Zucker noch weitere vorteilhafte Eigenschaften. Er wirkt konservierend, verlängert so die Haltbarkeit von Marmeladen. Er verbessert die Konsistenz von fettreduzierter Wurst und anderen Waren. Und da er billig ist, dient er oft dazu, teure Zutaten wie etwa Früchte zu ersetzen. Daher ist Zucker inzwischen in zahlreichen Fertigprodukten zu finden – sogar in pikanten Lebensmitteln wie Tütensuppen, Ketchup oder Krautsalat. Für den Käufer sind die süßenden Beisätze nicht immer zu erkennen: Denn oft verbergen sie sich hinter für Laien kryptischen Bezeichnungen wie „Inulin“, „Raffinose“ oder „Polydextrose“. Zum Zuckergehalt eines Nahrungsmittels tragen außerdem weitere Zutaten bei, die auf den ersten Blick unverdächtig erscheinen, darunter Gerstenmalzextrakt, Fruchtsaftkonzentrat oder Milchpulver. Was die Lage noch unübersichtlicher macht: Zucker ist nicht gleich Zucker – sondern er ist je nach Sorte aus höchst unterschiedlichen Molekülen zusammengesetzt. So bestehen jene weißen Kristalle, die uns als Haushaltszucker bekannt sind, aus den Verbindungen Glukose (oder Traubenzucker) und Fruktose. Die Fruktose macht zum Beispiel Honig so schmackhaft und gilt als gesundheitlich ganz besonders bedenklich. Sie ist aber nicht nur in den Kristallen des Haushaltszuckers gebunden. In freier Form findet sie sich auch im Fruktose-Glukose-Sirup, der sich günstig aus Mais gewinnen lässt und den vor allem US-Hersteller oft ihren Produkten zusetzen, etwa Softdrinks oder Cornflakes.
Jeder Deutsche nimmt dreimal so viel Zucker zu sich, wie Experten empfehlen
Nehmen wir in kurzer Zeit große Mengen an Fruktose zu uns, noch dazu in freier Form wie zum Beispiel in Erfrischungsgetränken, führt dies zu einem fatalen Prozess: Denn während etwa Glukose zumeist im Darm schnell ins Blut übergeht und von allen Körperzellen aufgenommen werden kann, wird Fruktose vor allem in der Leber verwertet. Ein geringer Teil der Fruktose wird hier durch komplexe Vorgänge in Fettsäuren verwandelt und daraufhin über den Blutkreislauf im Körper verteilt. Doch bei zu hoher Menge an Fruktose ist das Organ überfordert, das biochemische Gleichgewicht gerät aus den Fugen, woraufhin viel mehr Fettsäuren hergestellt werden als normalerweise. Zudem schafft die Leber es nicht mehr, diese Fette vollständig in den Blutkreislauf abzutransportieren. Die Folge: Sie lagern sich in der Leber selbst an, das Organ verfettet regelrecht. Wie sich diese Belastung der Leber auf Dauer auswirkt, verstehen Forscher noch nicht vollständig. Doch anscheinend setzt sie eine ganze Reihe verhängnisvoller Reaktionen in Gang. Unter anderem stellt die Leber mehr Harnsäure her, die sich in Kristallform an den Gelenken ablagern und zu Gicht führen kann. Als Folge komplizierter Prozesse steigt zudem der Blutdruck an. Zusätzlich gelangen mehr Fette ins Gefäßsystem, was zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann. Und schließlich sammeln sich sogar im Blut selbst immer mehr Zuckermoleküle an, da die Körperzellen die Moleküle nicht mehr in genügendem Maße aufnehmen. Damit könnte anhaltender Fruktose-Konsum zu einer Stoffwechselstörung führen, dem „metabolischen Syndrom“: Die Betroffenen sind oft übergewichtig, sie haben ungesunde Blutfettwerte, leiden unter Bluthochdruck. Ihr Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken oder einen Herzinfarkt zu erleiden, ist deutlich erhöht. Manche Studien bringen die weitverbreitete Störung auch mit Krebs und der Alzheimer-Erkrankung in Verbindung. Ob es tatsächlich die Fruktose ist, die dieses Syndrom hervorruft, ist unter Experten noch umstritten. Denn wir nehmen den süßen Stoff nicht isoliert zu uns, sondern in Kombination mit anderen Formen von Zucker oder auch mit Fetten. Daher ist es schwer, die Folgen des Zuckerkonsums eindeutig festzumachen. Zumindest in Tierversuchen aber hat Fruktose dramatische Auswirkungen. Ein Forscherteam von der Princeton University setzte Ratten eine Lösung vor, die Fruktose-Glukose-Sirup enthielt. Nach sechs Monaten zeigten die Nager typische Merkmale des metabolischen Syndroms: Sie hatten im Vergleich zu normal gefütterten Tieren stark zugenommen und wiesen zudem abnormal hohe Blutfettwerte auf. Studien am Menschen haben bislang zwar weniger eindeutige Ergebnisse erbracht. Doch zuckerkritische Wissenschaftler halten die Indizien trotzdem für ausreichend, um die Fruktose zu verdammen. Sie halten den süßen Stoff schlicht für „Gift“.
Hersteller verwenden gern Zucker. Auch weil er billig ist
Selbst Forscher, deren Urteil weniger drastisch ausfällt, kommen angesichts der beunruhigenden Studienergebnisse zu dem Schluss, dass wir unseren Zuckerund besonders den Fruktose-Konsum erheblich reduzieren sollten. Vor allem empfehlen sie, stark verarbeitete Lebensmittel nur in Maßen zu verzehren. Denn gerade in diesen Produkten verbergen sich oft hohe Konzentrationen verschiedener Zuckerarten – so zum Beispiel in zahlreichen Dressings, in Fertigprodukten wie Pizza oder Nudelgerichten, in vielen Backwaren und auch in etlichen Milchprodukten wie Fruchtjoghurts oder Quarkspeisen. Wer gern süße Limonaden trinkt, sollte auf die entsprechenden Light-Varianten ausweichen. Denn gerade viele Softdrinks enthalten große Mengen flüssiger Zuckerkalorien. Auch Fruchtsäfte und Smoothies haben einen hohen Zuckergehalt und gelten daher als potenzielle Dickmacher. Manchen Wissenschaftlern können solche Warnungen und Empfehlungen gar nicht weit genug gehen. Längst schlagen sie noch drastischere Maßnahmen vor, etwa ein Verbot von Fernsehwerbung. Nur so ließe sich vermeiden, dass sich Kinder schon von früh auf an die zuckerhaltige Kost gewöhnen. Eine weitere radikale Forderung: Die Politik solle zuckerhaltige Produkte mit hohen Steuern belegen. Dann würden die weißen Kristalle eines Tages zu einem ähnlich kostspieligen Laster werden wie heute schon Tabak und Alkohol.