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Botanik Bambus: Der Streber

Bambuswald in der Provinz Sichuan
In der chinesischen Provinz Sichuan bilden Bambusstängel einen lichten Wald. Oder sollte es besser heißen: eine Wiese? Denn Bambus gehört zur Familie der Süßgräser. Weltweit sind rund 1600 Arten bekannt
© Ingo Arndt für GEO
Keine andere Pflanze schießt so schnell so kerzengerade in so große Höhen wie Bambus. Seine Halme sind stabiler als jeder Baumstamm. In den Tropen könnten sie billigen Baustoff liefern - für Millionen Familien ohne feste Bleibe

Über Bambus lassen sich unglaubliche Fakten zusammentragen. Fangen wir an mit der Tatsache, dass es sich um Gras – genauer: Süßgras – handelt. Mit über 35 Metern können die Halme die Wuchshöhe einer Stieleiche erreichen. Wofür der Baum mehr als hundert Jahre braucht. Ein Bambusspross hingegen kann einem Menschen im Laufe eines einzigen Tages buchstäblich über den Kopf wachsen. Die Rekordhalter unter den 1600 Arten bringen es auf drei Meter – innerhalb von 24 Stunden.

Nahe liegt die Vermutung, dass dieser Sprint an anderer Stelle zu Einbußen führt, etwa was die Festigkeit der Halme angeht. Im Leben gibt es nichts geschenkt; gemein- hin wird jeder evolutionäre Vorteil durch einen Nachteil erkauft.

Bambus wird nicht nur schnell groß, sondern auch extrem hart

Das gilt zumindest für die Exemplare in jenen Gegenden, wo Bambus von Natur aus zu Hause ist: in den Tropen und Subtropen. Aus einem Überfluss an Wärme, Licht, Regen und Nährstoffen schöpfen die Pflanzen dort ihre Größe und Stärke. Eine Reise in die Welt der Wundergräser führte etwa nach Mittel- und Südamerika, quer durch Afrika, Indien, Indonesien, nach China, auf die Philippinen.

Unterwegs in diesen Regionen stoßen Besucher jedoch nicht nur auf zahlreiche Bambushorste und -haine, sie begegnen auch sehr vielen Menschen. Das Verbreitungsgebiet der Riesengräser deckt sich in weiten Teilen mit den bevölkerungsreichsten Landstrichen der Erde.

In der Bambusheimat fehlt Millionen Menschen ein Zuhause

Und – klickt's? Als Corinna Salzer diese Fakten gegenüberstellte, kam sie jedenfalls auf die Idee, dass Bambus die Lösung für ein riesiges humanitäres Problem sein könnte. Hier: ein überaus schnell nachwachsender Rohstoff, preiswert, stabil, überdies sehr klimafreundlich.

Dort: schätzungsweise 300 Millionen Familien weltweit ohne feste Bleibe. Salzer ist eine junge deutsche Bauingenieurin. Sie hat ein kleines Haus aus Bambus konzipiert. Die Außenwände bestehen aus Bambusstangen, genauso der Dachstuhl, lange Stahlschrauben stärken alle Verbindungen.

Natürlich haben vor Salzer bereits Architekten und Handwerker die Möglichkeiten des Baustoffs Bambus ausgelotet. Das Ergebnis sind Luxusresorts, wie man sie auf der Ferieninsel Bali findet. Oder die fragilen Hütten armer Bauern. Corinna Salzers Häuschen dagegen ist nicht nur erschwinglich, sondern auch unverwüstlich.

Bambushalme
Zuerst investiert der Bambus in den Höhensprint seiner Schösslinge, dann in deren Härte: Binnen fünf Jahren verholzen die Halme
© Ingo Arndt für GEO

Bambushalme können uns in nur einem Tag über den Kopf wachsen

Man trifft die Ingenieurin in Manila, wo sie für die Stiftung Base arbeitet, die sich zum Ziel gesetzt hat, Wohnraum für Wohnungslose zu schaffen. Und welcher Ort böte sich mehr an, damit zu beginnen, als Manila, die Hauptstadt der Philippinen und zugleich Welthauptstadt der Obdachlosigkeit? Mehr als drei Millionen Menschen hausen in der Megacity unter Brücken, Plastikplanen, in Bretterverschlägen.

Bevor Corinna Salzer ihr Bambushaus plante, zog sie für drei Monate nach Payatas, in einen der größten Slums der Metropole. Sie wollte erfahren, welche Bedürfnisse die Menschen ohne festen Wohnsitz an das Wohnen stellen, wie ihr Traumhaus aussieht. "Sie haben keine großen Ansprüche, was Platz angeht", erzählt Salzer. Wichtig sei den Menschen, dass ihr Heim die tropische Hitze draußen halte.

Ganz oben aber auf der Wunschliste: Sicherheit

Denn kein Staat der Erde wird häufiger von Naturkatastrophen heimgesucht als die Philippinen. Erdbeben, Tropenstürme. Mit Taifun „Haiyan“ tobte im November 2013 einer der stärksten Wirbelstürme, der je auf Land getroffen ist, durch den pazifischen Archipel. Er vernichtete über eine Million Häuser. Zahlreiche Opfer leben bis heute in Behelfsunterkünften.

Salzer unterzog ihre Konstruktion einem Stresstest. An einem einsamen Küstenstrich ließ sie ein Bambushaus errichten, daneben eines der üblichen Beton--Stahl-Gebäude. Sie musste nicht lange warten. Rund zwanzig starke Stürme treffen jedes Jahr auf die Philippinen. Das Bambushäuschen überstand die Sturmsaison unbeschadet. Das Betonhaus? Zusammengefallen wie ein Kartenhaus.

Fell aus Fasern des Bambus
Ein "Fell" aus Fasern schützt den Schössling vor Sonnenstrahlung und Fraßschäden.
© Ingo Arndt für GEO

Ein Erdbeben hat sich in jüngster Zeit nicht ereignet

Aber sollte bei einem die Bambuskonstruktion einknicken, dann gelte: "Lieber unter Bambus als unter Beton begraben", so Corinna Salzer. Bis hierher klingt alles nach einer hoffnungsfrohen Geschichte, wie man sie gern hört und weitergibt.

Allein, die Sache hat einen Haken. Zwar macht die Wohnungslosen nichts glücklicher als die Aussicht auf ein eigenes, standfestes Heim. Sobald jedoch das B-Wort fällt, werden sie, nun ja, skeptisch. Ein Bambushaus?

Es ist ja oft so, dass wir Rares wertschätzen und das im Überfluss Vorhandene gering. Der allgegenwärtige Bambus gilt in vielen Gegenden Südostasiens als Armeleutebaustoff.

Beton und Stahl sind der Inbegriff von Modernität und Wohlstand

Am besten lassen sich solche Vorurteile durch Erfahrung entkräften. Rushelle Balleza öffnet die Tür zu ihrem Bambusdomizil. Draußen schwüle 38 Grad Celsius. Drinnen angenehme Temperaturen. Der Bambus dämmt. Und bei Einbruch der Nacht gibt er die Hitze viel schneller ab als Beton.

300 Bambushäuser hat BASE bisher auf den Philippinen errichtet. Familie Balleza hat ihres auf der Insel Panay vor einigen Monaten bezogen. Abends sitzt sie auf Bambusstühlen um einen Bambustisch. Der Blick aus dem Fenster geht hinüber zu den Nachbarn. Sie hocken vor ihrem Betonhaus und fächeln sich Luft zu.

GEO Nr. 10/2016 - Stonehenge entschlüsselt

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