GEO: Wie sind Sie darauf gekommen, ausgerechnet auf einem alten Schrottplatz die ursprüngliche Fundstelle des Neandertalers zu suchen?
THISSEN: Wir haben ganz einfach Johann Carl Fuhlrott wörtlich genommen, den Lehrer aus Elberfeld, der die Steinbruch-Funde 1856 als menschliche Überreste erkannt und die Fundstelle genau beschrieben hat. Er notierte, dass die kleine Feldhofer Grotte, woher die Fossilien stammen, genau einhundert preußische Fuß (rund 31 Meter) südlich der Düssel in einer nach Norden offenen kleinen Felsbucht gelegen habe. Und dort haben wir gesucht.
GEO: Forscher der Universität Köln hatten zwischen 1983 und 1985 bereits das ganze Neandertal nach der alten Fundstelle durchkämmt - ohne Erfolg.
THISSEN: Natürlich sieht es heute entlang der Düssel nicht mehr so aus wie zu Fuhlrotts Zeiten. Damals muss das Neandertal der Via Mala geglichen haben - einer wildromantischen engen Schlucht mit schroffen Felswänden. Durch den Kalkabbau ist das Tal viel breiter geworden, wichtige Landmarken sind verschwunden. Wir hatten einfach verdammtes Glück, uns auf die richtige Quelle zu stützen und uns darin nicht beirren zu lassen. Denn selbst wenn wir richtig lagen - es war ja keineswegs sicher, dass wir auch etwas finden würden: Große Teile des Abbauschutts sind aus dem Tal gefahren worden, davon hatten wir Fotos bei unserer Recherche in den Archiven der Museen entdeckt.
GEO: Was Sie dann fanden, war allerdings mehr als üppig.
THISSEN: Zunächst sah es gar nicht so aus, denn wir hatten im September 1997 unter drei Metern alten Sprengschutts aus dem Kalksteinabbau zwar Reste der Feldhofer Grotte und auch den Lehm entdeckt, den die Arbeiter 1856 aus ihr herausgeschaufelt hatten. Aber bis zum Vormittag des zehnten und letzten Grabungstages hatten wir rein gar nichts gefunden. Erst zwei Stunden vor Schluss stieß eine Studentin auf das erste Steingerät. Wir waren total aus dem Häuschen und bekamen dann natürlich eine dreiwöchige Verlängerung der Grabungszeit.
SCHMITZ: Da tauchten insgesamt 20 weitere Neandertaler-Knochen, Steingeräte, Schaber und Keilmesser auf. Bei der Analyse der Fossilien zeigte sich, dass der rechte Oberarmknochen doppelt war - wir also ein zweites Individuum gefunden hatten - und ein markstückgroßer Knochensplitter exakt an das linke Knie des Fundes von 1856 passte.
GEO: Bei der diesjährigen Grabung haben Sie die Zahl der Knochensplitter dann noch einmal um über 50 erweitert. Bringt das denn noch einen Zuwachs an wissenschaftlicher Information?
SCHMITZ: Auf jeden Fall, denn wir hatten auch diesmal unglaubliches Glück. Eine ganze Reihe der über 50 Fragmente dürften wie Puzzle-Stücke an die 1856er-Funde passen. Das ist wie in einem kriminaltechnischen Labor. Auch haben wir ein Stück des Schläfen- und Jochbeins gefunden, das sich exakt an die alte Schädeldecke anfügen lässt. So kann das Gesicht des Neandertalers viel besser rekonstruiert werden. Und außerdem haben wir Fossilien eines wesentlich grazileren Zeitgenossen unseres Neandertalers ausgegraben - möglicherweise eines modernen Menschen, eines Homo sapiens.
GEO: Der zur selben Zeit gelebt haben soll?
THISSEN: Die Radio-Karbon-Datierungen der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich weisen jedenfalls darauf hin, dass diese Fossilien gut 44000 Jahre alt sind. Wenn es sich tatsächlich um Relikte eines Homo sapiens handelt, dann wäre das der älteste Fund in Europa. Und wir hätten die fantastische Möglichkeit, mithilfe einer Erbgutanalyse zur umstrittenen Verwandtschaft zwischen Neandertaler und modernem Menschen neue Erkenntnisse beitragen zu können.
GEO: Sie haben zusammen mit der Arbeitsgruppe von Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig bereits das Erbgut des 1997 gefundenen Knochenmaterials unter die Lupe genommen und mit dem der heute lebenden Menschen verglichen.
SCHMITZ: Richtig. Und daraus ließ sich ganz klar ablesen, dass das Neandertaler-Erbgut nicht im Erbgut des modernen Menschen auftaucht, die beiden Menschengruppen sich also nicht wesentlich vermischt haben; oder dass die Neandertaler auch nicht im modernen Menschen aufgegangen sind, was einige Forscher ja postulieren. Allerdings liegen dazwischen 44000 Jahre. Der Vergleich zweier Zeitgenossen wäre sicher aufschlussreicher. David Serre, ein Mitarbeiter Pääbos, sitzt bereits an der Analyse.
GEO: Die Analysemethode, die Pääbos Gruppe anwendet, arbeitet mit der Erbsubstanz aus bestimmten Zellorganellen, den Mitochondrien. Kritiker monieren, dass das nicht unbedingt der aufschlussreichste Weg sei. Wann werden Sie sich an die DNS aus den Zellkernen herantrauen?
SCHMITZ: Hier existieren noch keine vernünftigen Methoden.
GEO: Eine Gruppe aus Tübingen stellte vor anderthalb Jahren aber bereits Ergebnisse vor - und plädierte dafür, sämtliche Fundstücke um ein paar Milligramm zu erleichtern, um vergleichende Studien anzustellen.
SCHMITZ: Wir halten das alles noch für sehr experimentell. Um eine neue Methode zu etablieren, muss man ja nicht ausgerechnet das kostbare fossile Neandertaler-Material benutzen.
GEO: Sie beide tragen ja stetig dazu bei, dass es mehr und mehr Material wird. Wann graben sie weiter?
THISSEN: Keine Ahnung. Die Grabung ist offiziell beendet, die Grube wieder zugeschüttet, und im kommenden Jahr wird das ganze Gelände neu gestaltet.
GEO: Haben Sie denn schon alle Schuttablagerungen durchsucht?
SCHMITZ: Nein, aber das Rheinische Amt für Bodendenkmalpflege in Bonn, dessen Mitarbeiter wir sind, möchte auch kommenden Forschergenerationen die Chance geben, mit ihren möglicherweise verbesserten Methoden frische Fundstücke zu bearbeiten.
THISSEN: Außerdem sind wir mit der Auswertung der Knochenstücke, die wir bis jetzt gefunden haben, für die kommenden Jahre vollauf beschäftigt.
Das Interview führte die Biologin und Journalistin Susanne Kutter.
Ralf W. Schmitz und Jürgen Thissen haben ihre Grabungserlebnisse und die Geschichte des Neandertalers als Buch unter dem Titel "Neandertal. Die Geschichte geht weiter" im Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg veröffentlicht.