Die Leitung der Universität von Indiana, USA, ist überrascht: Seit ein knurriger Biologe die Beratungskurse für junge Eheleute leitet, steigt die Zahl der Zuhörer rasant. Was sie allerdings über die Inhalte der Lesungen erfährt, beunruhigt die Direk tion zutiefst: Offenherzig beantwortet der Kursleiter auch intime Fragen der jungen Frauen und Männer, etwa zu Stellungen beim Sex, Methoden der Verhütung oder Geschlechtskrankheiten.
Auch Illustrationen zeigt er während des Unterrichts – und befragt die Studenten über deren sexuelle Erfahrungen. Der beliebte Professor, Alfred Kinsey, wird umgehend in die Forschung abgedrängt – wo er dann den Grundstein für die moderne Sexualmedizin legt. Denn fortan untersucht der Zoologe die menschliche Sexualität mit derselben Akribie, mit der er zuvor Gallwespen studiert hat; sie waren Kinseys Spezialgebiet. Als erster Forscher überhaupt versucht er, das Sexualverhalten des Menschen im großen Stil statistisch zu erfassen.
Homosexualität, Ehebruch und Masturbation erschüttern Amerika
Dabei ist sein Sammeleifer immens: Bis zu seinem Tod 1956 führt sein Team 18 000 Befragungen durch, jedes dieser Interviews umfasst mehrere Hundert Fragen. Kinsey sammelt so ein riesiges Konvolut an Tabellen, Grafiken und Diagrammen – das die westliche Nachkriegsgesellschaft bei Erscheinen grundlegend erschüttert.
Denn die Daten legen erstmals offen, wie weit verbreitet Sexpraktiken sind, die damals unter starken gesellschaftlichen Tabus stehen: Kinseys Zahlen belegen, dass Selbst- befriedigung und Homosexualität, Sex vor der Ehe und Anal- oder Oralverkehr gelebter Alltag vieler Amerikaner sind. Konservative Politiker, Kirchenmänner und wissenschaftliche Gegner Kinseys schäumen.
Kinsey will den Blick auf die menschliche Sexualität befreien von jeder moralischen Wertung – nur so sei es möglich, auch ihre Störungen zu erkennen und zu behandeln. 1948 erscheint „Sexual Behavior in the Human Male“, also „Sexualverhalten des menschlichen Männchens“ – der berühmte „Kinsey-Report“.
Seine Untersuchung über das Sexualverhalten von Frauen folgt 1953. Beide Bücher werden Weltbestseller und ebnen der sexuellen Revolution den Weg. Kinseys radikal neue Sicht inspiriert auch eine ganze Generation junger Wissenschaftler: Sie wollen die Sexualität nicht mehr nur mit den Mitteln der Psychologie und Philosophie erklären, sondern vor allem über die Empirie erschließen.
Forscherehepaar untersuchen Sexpraktiken hinter Institutstüren
Unter ihnen beflügeln vor allem die Forscher William Masters (1915–2001) und Virginia Johnson (1925–2013) bis heute die Fantasie der Öffentlichkeit: Versteckt in Schränken und verborgen hinter einseitig verspiegelten Wänden beobachtet Masters Hunderte von Paaren beim Sex. Das Duo verkabelt später Männer vor dem Masturbieren oder lässt Frauen Dildos aus Plexiglas einführen, die im Innern kleine Kameras tragen, um die Mechanik des menschlichen Geschlechtsverkehrs zu filmen. Wo Kinsey statistische Pionierarbeit leistete, studieren Masters und Johnson detailversessen die Physiologie der Sexualität.
Unter strengster Geheimhaltung forschen die beiden in einem abgeschiedenen Trakt ihres Instituts in St. Louis. Der Gynäkologe Masters – ein verschlossener Kopfmensch – und seine Assistentin Johnson – emanzipiert, einfühlsam – ergänzen sich ideal.
Der weibliche Blick Johnsons ermöglicht ganz neue Erkenntnisse: So publizieren die beiden über vorgetäuschte Orgasmen von Frauen. Auch andere Ideen, die heute Alltagswissen sind, gründen auf den Arbeiten des Forscherpaares: der unterschiedliche Charakter der Höhepunkte bei Mann und Frau etwa. Oder die weibliche Fähigkeit zum multiplen Orgasmus.
Masters und Johnson belassen es allerdings nicht bei der Empirie, sie entwerfen auch Ansätze, wie Menschen bei sexuellen Störungen zu helfen sei. So entwickeln sie wissenschaftlich fundierte Sexualtherapien, die unseren heutigen Standardanwendungen zugrunde liegen.