Der erste Schnee im November sorgt regelmäßig für eine Überraschung: Es wird plötzlich still – selbst in der Stadt. An den verwinkelten Schneekristallen brechen sich die Schallwellen von Autoreifen, Motoren, Schritten. Viele Menschen empfinden das als wohltuend.
Das haben auch Urlaubsdestinationen und Nationalparks erkannt. So wirbt etwa ein Ort auf der Hawaii-Insel Maui damit, einer der leisesten Orte der Erde zu sein. Oder zumindest der USA. Der Haleakalā-Krater im gleichnamigen Nationalpark ragt 3055 Meter aus dem Pazifik – und ist damit nicht nur über jegliche Wellen- und Brandungsgeräusche erhaben: Die niedrigen Windgeschwindigkeiten im Innern des Kraters verhindern, dass sich Luftbrechung an Unebenheiten der Oberfläche in Geräusch übersetzen. Vegetation gibt es hier wegen der extremen Trockenheit ohnehin nicht. Oder größere Tiere, deren Rufe oder Fortbewegung die Stille stören könnten.
"Die Umgebungsgeräusche im Haleakalā-Krater sind so leise, dass sie sich der Hörschwelle des Menschen annähern", wie es in einem offiziellen Papier des Nationalparks heißt. In Ziffern: Während an der Küste des Nationalparks ein mittlerer Schalldruck von bis zu 45 Dezibel (dB) gemessen wurde, waren es im Krater lediglich 10 dB.
Dazu muss man wissen: "Dezibel" ist keine Einheit wie etwa Zentimeter oder Hertz; sie orientiert sich am menschlichen Hörvermögen. "0 Dezibel" markiert die Grenze dessen, was unser Ohr wahrnehmen kann.
Und die Dezibelzahlen steigen nicht linear mit dem physikalischen Schalldruck, sondern bilden eine steil ansteigende Kurve: Eine Verdopplung des Schalldrucks ergibt sich beispielsweise schon bei einem Anstieg von 50 auf 60 Dezibel. Während leichter Wind oder Flüstern etwa 30 dB erzeugen, ist das Vierfache nicht etwa lautes Brüllen – sondern der gesundheitsschädliche, schmerzende Lärm einer Kettensäge. Um den tatsächlichen Höreindruck besser abzubilden, werden oft noch zusätzlich Charakteristiken von Tönen berücksichtigt, etwa die Frequenz. Angegeben werden die Werte dann in dB(A). Fachleute sprechen auch von einem "bewerteten Schalldruckpegel".
Stiller als still: Orte mit einer negativen Dezibelzahl
Da 0 dB(A) nur die Grenze des menschlichen Hörvermögens beschreibt, müsste es auch Orte mit einem negativen Wert geben. Solche Orte existieren tatsächlich – wenn auch nicht in der Natur.
Als "leisester Ort der Welt" schaffte es eine Testkammer in Minneapolis (USA) in das Guinness Buch der Rekorde. Die anechoische Kammer – so der Fachausdruck für "schalltot" – in den Orfield Laboratories wurde 2001 dafür gebaut, die Geräuschentwicklung von technischen Apparaten präzise zu bestimmen. Eine Messung im leeren Raum ergab 2021 einen Geräuschpegel von sagenhaften minus 24,9 dB. Solche Werte sind nur möglich dank einer speziellen Bauweise, die ausschließlich darauf ausgelegt ist, Schall nicht zu leiten oder zu reflektieren.
Der Raum ist von Beton und einer mehr als zehn Zentimeter dicken Stahlhülle umgeben, in der sich – vibrationsarm aufgehängt – eine weitere Kammer aus Stahl befindet. Aus allen sechs Flächen ragen 85 Zentimeter lange schallschluckende Keile in den Innenraum: Statt auf einen festen Boden tritt man beim Betreten des Raums auf ein Netz. Auf diese Weise schluckt der Ort 99,99 Prozent aller Geräusche. Und erzeugt so eine "unnatürliche" Stille – die auf viele Menschen nicht beruhigend, sondern verstörend wirkt.
Besucher berichten davon, dass sie ihr Herz klopfen hören konnten – oder das Öffnen und Schließen ihrer Augenlider. Oft ist zu lesen, dass Menschen es nicht länger als eine Dreiviertelstunde in einer akustisch so reizarmen Umgebung aushalten.
Das dürfte allerdings übertrieben sein. Im Selbstversuch brachte es ein Journalist der "New York Times" immerhin auf mehr als drei Stunden – die er offenbar unbeschadet überstand. Klar ist: Wie Stille erlebt wird, ist immer auch eine Frage der persönlichen Verfassung. Was den einen wohltuend erscheint, kann auf andere bedrohlich wirken.
Dass es vom Haleakalā-Krater keine Berichte von verstörten Touristen gibt, wird nicht nur daran liegen, dass es hier "lauter" ist als in schalltoten Laboren. Immerhin wird hier dem Auge einiges geboten: Die Landschaft ist spektakulär. Und das können nicht alle Anwärter auf den Titel "stillster Ort der Erde" von sich behaupten.
Im Jahr 2009 berichtete ein Expeditionsteam von einem perfekten Standort für ein Weltraumobservatorium am Südpol. Rekordtemperaturen von minus 70 Grad Celsius im Winter sorgen am "Ridge A" in der Ostantarktis für eine extrem trockene Luft und gute Sicht auf die Sterne. Zudem ist es in der Schnee- und Eiswüste besonders still – weil es kaum Wind oder Wettererscheinungen gibt. Von Gewitter und Donnergrollen ganz zu schweigen.
Landschaftlich ist Hawaii also klar im Vorteil. Dafür gibt es über dem Südpol so gut wie keinen Flugverkehr.