Sex im 18. Jahrhundert Düstere Geheimnisse: War Casanova ein Vergewaltiger?

Giacomo Girolamo Casanova, 1725-1798, italienischer Abenteurer und Schriftsteller
Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798), geboren in Venedig und hochgebildet, betreibt im 18. Jahrhundert auf Reisen in ganz Europa viel Aufwand, um Affären mit Frauen zu erleben. Mittlerweile wird deutlich, dass dabei nicht nur Galanterie im Spiel war
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Er gilt als Meister des Liebeswerbens, als amouröser Abenteurer. Doch inzwischen schaut die Forschung genauer hin. Was sie sieht, sind Abgründe. Aber auch ein wenig Licht

Paläste mietet er an und serviert köstliche Speisen. Bestellt venezianische Gondeln, entzündet Kerzen. Wirft sich in eigens geschneiderte Kleider und lässt die Worte nur so perlen, spricht geistreich, elegant, unwiderstehlich, auf dass das Gegenüber voll Überzeugung nichts anderes zu tun trachtet, als mit ihm eine Nacht zu verbringen. Oder viele. Giacomo Girolamo Casanova – der kunstvollste, berühmteste, überzeugendste Verführer der Geschichte. Doch war es wirklich so?

Der Blick von Forscherinnen und Forschern auf ihn hat sich zu Recht geändert. Das Bild des charmanten Virtuosen bröckelt.

Casanova, 1725 geboren, lebt in einem äußerst freizügigen Jahrhundert, zumindest in den besseren Kreisen, in denen der Venezianer großteils verkehrt. Affären und sexuelle Experimente sind verbreitet, gehören fast zum guten Ton, für Männer und für Frauen. Von einer Schauspielerin der Comédie Française, Madame Dubois, heißt es, sie solle Tausende Liebhaber gesammelt und säuberlich aufgelistet haben. Eine Statistik, die auch Casanovas weit überschattet, der in seiner berühmten Autobiographie "Histoire de Ma Vie" über etwa 120 Frauen schreibt. 

Amouröse Szene mit Casanova und einer Frau auf dem Sofa
Annäherungsversuch auf dem Sofa: Das Zeitalter Casanovas ist freizügig, das Sexleben vieler Adeliger erstaunlich experimentell. Doch zugleich spielt das Machtungleichgewicht zwischen Männern und Frauen in Liebesdinge hinein, passieren Grenzüberschreitungen (Illustration aus einer Ausgabe der Memoiren von Casanova, 1931)
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Doch das 18. Jahrhundert ist auch eine Zeit der strukturellen Machtungleichheit zwischen den Geschlechtern, die sich rechtlich und in vielen Konventionen äußert. Selbst vermeintlich freiwillige Beziehungen sind damals häufig von Asymmetrie geprägt, zugunsten der Männer, zuungunsten der Frauen. Auch Casanova handelt oft genug skrupellos, operiert ohne Konsequenzen für sich selbst mit falschen Versprechungen, rücksichtslosen Manipulationen, lässt Verhältnisse abrupt enden, hinterlässt Bitterkeit und Reue. Und dabei bleibt es nicht. 

Das ist sexuelle Ausbeutung – und noch mehr

Die Grenzüberschreitungen beginnen im Kopf. Casanova selbst schreibt über Vergewaltigungsfantasien. Denkt etwa bei einem Aufenthalt in London über die Anschaffung eines speziellen Stuhles nach, an den er eine Frau fesseln will, die – zur Abwechslung – ihn emotional verletzt hat. So will er sich körperlich an ihr rächen. Casanova, der gelegentlich schon mal einen Diener hosiptalreif prügelt, gilt als aufbrausend, seine für die Zeit ungewöhnlichen 1,90 Meter Körpergröße wirken einschüchternd. 

Und dann sind da die Geschichten über Geschlechtspartnerinnen, die nicht allein im Kopf passieren. An einer Stelle berichtet Casanova über eine Frau, die ihm vorwirft, ihre Tochter missbraucht und geschlagen zu haben. Er weist den Vergewaltigungsvorwurf zwar zurück, seine Antwort, in seiner Autobiografie vollständig zitiert, lässt jedoch tief blicken: Er habe das Mädchen mit einem Besenstiel geschlagen, weil es nicht kooperiert habe, nachdem er der Mutter für Sex mit der Tochter Geld gegeben hatte. 

In dem Fall ist das Alter der Tochter unbekannt, aber es gibt andere Berichte, in denen Casanovas Geschlechtspartnerinnen 12-jährige Mädchen sind, Kinder, die von ihren Eltern prostituiert werden. Auf einer Reise nach Russland kauft sich der etwa 40-jährige Venezianer eine 13-jährige Leibeigene, faktisch eine Sklavin, die ihm ausdrücklich zum Sex angeboten wird. Er nennt sie "Zaire", betont in seinen Memoiren, dass er sie nicht wie eine Sklavin behandele und dass sie sich ihm selbstbewusst nähere. Aber seine Verklärung und Bagatellisierung sind in jeder Zeile spürbar.

Ein Mann der zwei Gesichter

So muss man bei Casanova von sexueller Ausbeutung reden, von Pädophilie nach heutiger Begrifflichkeit. Und auch wenn vergangene Geschehnisse immer in den Zeitkontext einzuordnen sind, ist nach Meinung aus der Forschung vieles an Casanovas Verhalten missbräuchlich und nicht nur nach heutigen, sondern auch nach damaligen Maßstäben verstörend. 

Illustration von Casanova mit einer seiner Geliebten
Casanova manipuliert und betrügt – und er hat mitunter Sex mit abhängigen 12- und 13-jährigen Mädchen. Auch in seiner Zeit eine verstörende Verhaltensweise (Illustration von Casanova, 20. Jh.)
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Doch die historische Person Casanova ist kompliziert und ambivalent. Und so gibt es selbst in diesem Bereich auch eine andere Seite.

Denn in den Quellen tauchen bei aller rücksichtslosen Egomanie zugleich Begegnungen auf, bei denen es Casanova ernsthaft um gegenseitige, um geteilte Freude geht. Die ideale Beziehung – bei ihm zwar zumeist sehr kurz – beruht für ihn offenbar auf gegenseitiger Zustimmung, auf Einvernehmen. 

Und er geht sogar noch weiter: Casanova schildert mitunter, wie seine sexuellen Treffen die "Seelen und den Geist der Beteiligten verbinden". An einer Stelle erzählt er von einer Nacht mit zwei Frauen und schreibt: "alle drei waren zu einem einzigen Geschlecht geworden".

Das klingt plötzlich sehr modern, fast nach einem "genderfluiden" Casanova. Auch sonst gibt es in seinen Memoiren Fälle von Crossdressing, viele seiner Liebhaberinnen sind bisexuell, er beschreibt zudem eigene sexuelle Erfahrungen mit Männern. Da zeigt sich eine größere Offenheit und Ambivalenz, als zu erwarten wäre.

Selbst abseits der sexuellen Abenteuer, über das allgemeine Verhältnis der Geschlechter scheint Casanova erstaunlich moderne Ansichten zu vertreten. Im Jahr 1772 veröffentlicht er ein Pamphlet, in dem er argumentiert, dass Frauen die gleichen intellektuellen Kapazitäten hätten wie Männer, dass es ihnen lediglich an Training fehle. Entsprechend fordert er eine Revolution der weiblichen Erziehung und Bildung in Italien, ein Wunsch, der selbst in seinem von der Philosophie der Aufklärung geprägten Jahrhundert progressiv erscheint.

Ist er sogar ein Proto-Feminist?

Erkennbar ist das schon daran, in welche Debatte er sich mit seinem Pamphlet einschaltet: Nach Meinung von durchaus renommierten Ärzten seien Frauen durch ihre Biologie, vor allem durch ihre Gebärmutter überhaupt nur zu einer geistig eingeschränkten, zur Vernunft kaum fähigen Existenz verdammt. Im Vergleich dazu klingen Casanovas Vorstellungen fast proto-feministisch. Dafür macht er sich an anderer Stelle wiederum ausgiebig lustig über eine Freundin, die eine Gelehrtenkarriere anstrebt.

Was also bleibt, ist ein zutiefst ambivalentes Bild, eine schwer fassbare Person. Casanova war ein Mann mit echten, schockierenden Abgründen – und mit erstaunlich egalitären Denkweisen andererseits. Ein Mensch starker Widersprüche.

Eine schillernde Figur, auch dunkel schillernd.