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Schriftsystem Sütterlin: Geschichte einer deutschen Schrift, die keine mehr ist

Sütterlin, Schrift auf Briefpapier
"Sütterlin" war von 1924 bis 1941 die deutsche Standardschrift, entworfen hat sie Ludwig Sütterlin. Zuvor war die Kurrentschrift (Foto) bis Anfang des 20. Jahrhunderts die übliche Schreibschrift
© LinieLux - Adobe Stock
Schrift ist ein wertvolles Gut. Erst recht, wenn sie für eine gesamte Kultur zur Identifikation wird. Sütterlin ist dafür das Beispiel schlechthin – die Generation unserer Großeltern beherrschte sie fließend. Wie die Schrift entstand und weshalb sie heute nicht mehr genutzt wird

Als der Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin (1865 – 1917) die nach ihm benannte Ausgangsschrift für das Lernen der Handschrift in der Schule im Jahr 1911 entwarf, schien das ein Jahrhundertwerk. Eine neue Schreibschrift zu entwerfen, geschieht schließlich nicht jeden Tag. Basis dafür war die bereits existierende deutsche Kurrentschrift. Parallel dazu entwarf Sütterlin auch eine lateinische Ausgangsschrift, die aber nicht Sütterlinschrift genannt wird.

Sütterlin als neue Schreibschrift

Hauptsächlicher Grund für den neuen Schriftentwurf durch Ludwig Sütterlin war die Entwicklung einer neuen Schreibfeder im 19. Jahrhundert: die stählerne Spitzfeder. Das Schreibgerät kam vor allem in England in Mode.  Die englische Schreibschrift mit ihren schwungvollen Ober- und Unterlängen und unterschiedlichen Strichdicken ließ sich damit gut schreiben – war aber technisch äußerst anspruchsvoll und für Schulkinder eher ein Hindernis als eine Bereicherung.

In Deutschland gab es zu der Zeit zwei Schreibschriften: Kurrent als deutsche Schreibschrift und die lateinische Schreibschrift. Doch auch für diese beiden Handschriften war die Spitzfeder eine Herausforderung, obwohl sie sich als Schreibgerät auch in Deutschland durchgesetzt hatte.

Ludwig Sütterlin verändert die Kurrentschrift

Aus diesem Grund hatte Ludwig Sütterlinvom preußischen Kultur- und Schulministerium eine anspruchsvolle Aufgabe bekommen: Die Vereinfachung all dieser Umstände für Schulkinder. Der Grafiker, Buchgestalter und Pädagoge ging das Projekt mit Leidenschaft und Logik an:

  • Er verändert die Art des Schreibgerätes. Statt mit einer Spitzfeder, lässt Sütterlin die Kinder mit einer Kugelspitzfeder schreiben.
  • Das Schriftbild wird durch den Gleichzug der Feder einfacher und regelmäßiger, die Strichdicken identisch.
  • Er vereinfacht die Form der Buchstaben, verringert die Ober- und Unterlängen.
  • Er stellt die Buchstaben aufrecht – ein großer Gegensatz zur englischen Schreibschrift und auch zur deutschen Kurrentschrift.

Die Sütterlinschrift verändert das Schulwesen

Bereits 1915 wird die Sütterlinschrift in Preußen eingeführt und tritt ihren Erfolgszug durch die deutsche Geschichte an. Während der 1920er Jahre löst die neue  und vereinfachte Schreibschrift die bisherige Kurrentschrift nach und nach ab. 1935 ernennen die Nationalsozialisten die Sütterlinschrift zur Deutschen  Volksschrift und zur Pflichtschrift des Lehrplans an deutschen Schulen.

Doch die Karriere der Sütterlinschrift währt nicht lange. Am 3. Januar 1941 verfügte Adolf Hitler per Befehl zunächst die Abschaffung der gotischen Fraktur-Schrift. Diese urdeutsche Schriftart wurde bis dahin vor allem von den Nationalsozialisten für ihre Drucke, Plakate und Propaganda benutzt. Plötzlich war in einem Erlass von NSDAP-Organisationschef Martin Bormann die Rede von „Schwabacher Judenlettern“.

NSDAP verbietet Fraktur als Schrift

Die Buchstaben der gebrochenen Frakturschrift wurden mit dem Beginn des Buchdrucks in Deutschland und der Stadt Schwabach in Verbindung gebracht. Hier entstand im 15. Jahrhundert eine Unterart der gotischen Frakturschrift, die offener und breiter gestaltet war und in einem wichtigen Dokument der Reformationsgeschichte verwendet wurde. NSDAP-Organisationschef Martin Bormann schreibt in seinem Erlass:

"Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen, ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern. Genau wie sie sich später in den Besitz der Zeitungen setzten, setzten sich die in Deutschland ansässigen Juden bei Einführung des Buchdrucks in den Besitz der Druckereien und dadurch kam es in Deutschland zur Einführung der Schwabacher Judenlettern."

Feldmarschall Keitel, Reichsmarschall Hermann Göring, Adolf hitler und Martin Bormann
Martin Bormann, hier rechts im Bild neben Adolf Hitler zu sehen, verbot die Sütterlin-Schrift (Aufnahme von Juli 1944)
© IMAGO / UIG

Tatsächlich war der erste gläubige Jude in Deutschland mit einer mäßig erfolgreichen Buchdruckerei Chajim Schwarzim Jahr 1542. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die gebrochene gotische Schrift als Form der Buchstaben für deutschsprachige Bücher längst durchgesetzt. Die Verbindung zur fränkischen Kleinstadt Schwabach war demnach frei erfunden. Darauf wies sogar der Bürgermeister von Schwabach in einem Brief an Martin Bormann hin – was zu der Zeit eine nicht geringe Zivilcourage erforderte.

Trotzdem war der so genannte Normalschrifterlass auf dem Weg. Am 1. September 1941 wurde auch das Lehren von Kurrentschrift und aller darauf basierenden Schriften an deutschen Schulen untersagt – und damit auch der Sütterlinschrift.

Lateinschrift wird ab 1942 Ausgangschrift

Unterrichtet wurde ab 1942 eine Variante der lateinischen Schrift, die Deutsche Normalschrift genannt wurde. Ab 1945 war der Normalschrifterlass des NS-Regimes zwar nur noch Makulatur, doch die lateinische Grundschrift blieb Standard an deutschen Schulen.

Vermutet wird, dass die NSDAP die deutsche Frakturschrift und die Kurrentschrift zugunsten der weit verbreiteten Antiqua-Schrift austauschte, um die Lesbarkeit von Propaganda und Erlassen in besetzten Gebieten zu gewährleisten – perspektivisch auch als Vorgriff auf den angestrebten Gesamtsieg des Zweiten Weltkriegs. Das Ende dieses Vorhabens ist bekannt und hat auf dem Weg dorthin auch zum Ende der Sütterlinschrift geführt – allerdings nicht ganz.

Sütterlinstube erhält Sütterlinschrift

Die Süttterlinstube ist das Stichwort. Tatsächlich gibt es heutzutage über ganz Deutschland verteilt solche Einrichtungen, die sich zumeist als Vereine um den Erhalt dieser alten deutschen Schrift und auch Übersetzungen kümmern. Unter anderem gibt es Sütterlinstuben in

  • Hamburg
  • Gütersloh
  • Bielefeld
  • Aachen
  • Halle
  • Cottbus
  • Dresden

So lebt die Sütterlinschrift auch mehr als 70 Jahre nach ihrem Verbot weiter und ist am Ende doch noch das geworden, was Ludwig Sütterlin im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums 1911 entwickelt hat: eine neue deutsche Schreibschrift als Jahrhundertwerk.

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