Die Geschichte der Osterinsel galt lange als Mahnung: Die indigene Bevölkerung der Rapanui habe, so die weitverbreitete Theorie, einen "ökologischen Suizid" begangen. Die Bevölkerung sei auf 15.000 und mehr angeschwollen, die Insulaner hätten in ihrem Ressourcenhunger die üppigen Wälder komplett abgeholzt. Die Folgen: Bodenerosion, der Zusammenbruch der Landwirtschaft, daraus folgend: ein dramatischer Bevölkerungsrückgang. Dieser selbstverschuldete Ökozid soll die Kultur der Rapanui lange vor der Ankunft europäischer Seefahrer an den Rand des Untergangs gebracht haben.
Kritik an dieser Theorie gab es bereits länger, nun nähren Forschende weitere Zweifel. Ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um J. Victor Moreno-Mayar von der Universität Kopenhagen und Bárbara Sousa da Mota von der Universität Lausanne untersuchte mit Erlaubnis der Nachfahren die Genome von 15 Rapanui, die in der Zeit zwischen 1670 und 1950 gestorben und auf der Osterinsel bestattet worden waren.
Im Jahr 1722 landeten die ersten Europäer auf der Osterinsel
Die Analysen zeigten, so berichten die Forschenden im Fachblatt "Nature", keinerlei Hinweise auf einen Rückgang genetischer Vielfalt – und damit auch nicht auf einen Einbruch der Bevölkerungszahl. "Stattdessen deuten die Resultate darauf hin”, so die Studie, "dass die Insel Heimat einer kleinen Bevölkerung war, deren Zahl bis in die 1860er-Jahre stetig zunahm".
Die Osterinsel zählt zu den abgelegensten Orten der Welt: Sie liegt mehr als 1900 Kilometer östlich der nächsten bewohnten polynesischen Insel und 3700 Kilometer westlich der chilenischen Küste. Deshalb wurde sie erst im 13. Jahrhundert durch Seefahrer aus Polynesien besiedelt: Ihre Nachkommen waren es, die die berühmten Moai, riesige Steinfiguren, schufen.
Im Jahr 1722 landeten die ersten Europäer auf der Osterinsel – mit verheerenden Folgen für die Indigenen: Es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen, peruanische Sklavenhändler entführten etwa ein Drittel der Bevölkerung, eingeschleppte Krankheiten wie die Pocken rafften die Rapanui dahin. Deren Bevölkerungszahl schrumpfte Ende des 19. Jahrhunderts Schätzungen zufolge auf 110 Personen.
Anhand dieser neuen Fakten lässt sich "Ökozid"-Theorie nicht mehr halten. Der Genetiker Morena-Mayar sieht in ihr vielmehr ein "kolonialistisches Narrativ", das überwunden werden müsse: "Die Vorstellung, dass diese angeblich primitiven Menschen nicht mit ihrer Kultur oder ihren Ressourcen umgehen konnten, und dass dies fast zu ihrem Untergang geführt hätte."
Die jüngste Analyse stützt eine Studie vom Juni 2024: Mittels Satellitenbilder hatten Forschende um Dylan Davon von der Columbia University die Anzahl der für die Nahrungsversorgung angelegten Steingärten auf der Insel gezählt – und ausgerechnet, dass die Insel rund 3000 Menschen ernähren konnte. 15.000 Personen, wie in der Forschung lange angenommen, hätten niemals auf der Insel gelebt.
Kontakte zwischen Rapanui und Bevölkerungsgruppen Südamerikas
Die Genanalysen des Teams um Moreno-Mayar und Sousa da Mota brachten weitere Erkenntnisse: Rund zehn Prozent des Rapanui-Genpools stammt von Native Americans. Die Forschenden konnten sogar berechnen, wann sich die Vorfahren der heutigen Rapanui und Bevölkerungsgruppen aus Südamerika vermischt haben: Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert. Das bedeutet: Die Rapanui kamen nicht erst, wie lange angenommen, ab dem 18. Jahrhundert infolge europäischer Expeditionen in Kontakt mit Menschen des amerikanischen Festlands, sondern Jahrhunderte früher.
Bereits der norwegische Naturforscher Thor Heyerdhal hatte angenommen, dass Indigene Südamerikas auf die Osterinsel gelangt waren: 1947 segelte er auf dem Floß "Kon-Tiki" über den Pazifik – und bewies damit, dass die Überfahrt von Peru zur Osterinsel durchaus möglich war. Erst jetzt jedoch steht fest, in welcher Zeitspanne Rapanui und Native Americans aufeinandertrafen.
Ob die Menschen von der Osterinsel die Strecke Richtung Südamerika wagten oder ob sie Besuch von dort erhielten – und wie häufig dieser Austausch war – konnten die Forschenden bislang nicht klären.